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Paar an Terrassentisch
                mit Schattenhand
Hartmut Schönherr

   Gedichte-Werkstatt
      


Ich bin Kulturwissenschaftler und Hochschullehrer mit den Schwerpunkten Literaturwissenschaft, Identitätskonzepte, Naturphilosophie, Ökologie und allgemeine Kulturprozesse. Dieses Webangebot entstand aus germanistischen und romanistischen Studien, Übersetzungsarbeiten, Unterrichtsprojekten und lyrischen Produktionen.





INHALTE DIESER WEBSITE


Allgemeine Abteilung (Startseite - auf der Sie sich gerade befinden)

Kurzessays zur Lyrikdeutung, -produktion, -didaktik, -geschichte, -übersetzung: Schlechte Zeiten für Lyrik - Schreibprojekt "Il Canzoniere" - Baukasten für Lyrik - Beschränkung als Textfindungswerkzeug - Gedichte im Unterricht - Merkmale eines Gedichtes - Erläuterungen - Analyse - Interpretation - Beispielhafte Laut-/Klanganalyse - Was ist ein Sonett - Sonettdichtung bis zur Barockzeit - Sonettdichtung seit der Romantik - Freie Rhythmen - Tradurre è tradire - Inhaltliche Übersetzungsprobleme - Reim-Übersetzungsprobleme - Sonett-Übersetzungsprobleme - Maschinelles Übersetzen - Reparaturen von Gedichten - Bastelanleitung - Kontrafaktur - Blick in die Werkstatt - Frauenlob - Augen in der Liebeslyrik - Poetologie des Fragmentes - Vom "Buch der Lieder" zum "Buch der Bilder" - Abstraktion in Bildkunst und Lyrik - "Geistige Welt" um 1900 - Farben in der Lyrik um 1900

Interpretationen deutschsprachiger Lyrik: Hartmann von Aue - Heinrich von Morungen - Oswald von Wolkenstein - Martin Luther - Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg - Georg Rodolf Weckherlin - Martin Opitz - Paul Fleming - Andreas Gryphius - Sibylla Schwarz - Catharina Regina von Greiffenberg - Barthold Hinrich Brockes - Christiana Mariana von Ziegler - Anna Louisa Karsch - Johann Wolfgang Goethe - Sophie Albrecht - Friedrich Hölderlin - Novalis/Friedrich von Hardenberg - Karoline von Günderrode - Bettina von Arnim - Annette von Droste-Hülshoff - Heinrich Heine - Eduard Mörike - Conrad Ferdinand Meyer - Isolde Kurz - Else Lasker-Schüler - Rainer Maria Rilke - Gottfried Benn - Georg Trakl - Nelly Sachs - Bertolt Brecht - Günter Eich - Christine Lavant - Paul Celan - Elisabeth Borchers - Ingeborg Bachmann - Sarah Kirsch - Elke Erb - Volker Braun - Wolf Wondratschek


Petrarca-Abteilung (Unterseiten)


Fakten, Reflexionen, Analysen zu Francesco Petrarca - Liebeslyriker, Humanist, Politiker, Diplomat und "einer der frühsten völlig modernen Menschen" (Jacob Burckhardt)
 
Alle Sonette aus Petrarcas "Canzoniere" ("Rerum vulgarium fragmenta") im Originaltext, mit Übersetzungen, Übertragungen und freien Gestaltungen:
 
I bis XCI - Herbst - Übertragungen in Sonettform, Epigramme, Haiku  
XCII bis CLXXXI - Winter - Dreizeiler, Fotografien  
CLXXXII bis CCLXXIII - Frühling - Freie Rhythmen  
CCLXXIV bis CCCLXVI - Sommer - Strenge Übersetzungen
  
Volltexte der Canzonen, Sestinen, Balladen und Madrigale mit Illustrationen von Svenja Rehse
 
Interpretationen zu Gedichten aus Petrarcas "Canzoniere"



Trakl-Abteilung (Unterseiten)

Essays, Daten, Analysen zu Georg Trakl. Leben und Werk, Zeitgeschichte, übergreifende Werkinterpretationen, literaturhistorische Bezüge 
 
Interpretationen zu 100 Gedichten Georg Trakls - von "Abendgang" bis "Zu Abend mein Herz"  




Ingeborg Bachmann (Unterseite)

Biografische Daten, Essays, Werkdarstellungen, Interpretationen


Annette von Droste-Hülshoff (Unterseite)

Biografische Daten, Essays, Werkdarstellungen, Interpretationen




 


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                         Ingeborg Bachmann
 
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KURZESSAYS ZUR LYRIKDEUTUNG, -PRODUKTION, -DIDAKTIK, -GESCHICHTE, -ÜBERSETZUNG  

Schlechte Zeiten für Lyrik - Schreibprojekt "Il Canzoniere" - Baukasten für Lyrik - Beschränkung als Textfindungswerkzeug - Gedichte im Unterricht - Merkmale eines Gedichtes - Erläuterungen, Analyse, Interpretation, Laut-/Klanganalyse - Was ist ein Sonett - Sonettdichtung bis zur Barockzeit - Sonettdichtung seit der Romantik - Freie Rhythmen - Tradurre è tradire - Inhaltliche Übersetzungsprobleme - Reim-Übersetzungsprobleme - Sonett-Übersetzungsprobleme - Maschinelles Übersetzen - Reparaturen von Gedichten - Bastelanleitung - Blick in die Werkstatt - Frauenlob - Augen in der Liebeslyrik - Poetologie des Fragmentes - Vom "Buch der Lieder" zum "Buch der Bilder" - Abstraktion in Bildkunst und Lyrik - "Geistige Welt" um 1900 - Farben in der Lyrik um 1900



Schlechte Zeiten für Lyrik

"Mein Gedicht ist mein Messer" war der Titel eines Sammelbandes mit Äußerungen von zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrikern zu ihren Gedichten, herausgegeben von Hans Bender 1955. Im Untertitel hieß es, der Band sei "Ein Führer durch die Labyrinthe moderner Poesie". Kämpferische Zeiten waren dies, lange vor der so genannten "68er Revolution". Wolfgang Weyrauch, von dem der titelgebende Essay stammte, beanspruchte, mit Gedichten die Welt zu verändern. Genauer war sein Anliegen, "die Summe des Bösen zu vermindern und die Summe des Guten zu vermehren". Und sein Text beginnt mit einer Wende gegen das "Atom", wobei es um atomare Bewaffnung geht, kritisiert auch in seinem Gedicht "Atom und Aloe".

Die 68er wollten dann, zumindest in Teilen und zumindest theoretisch, mit der Literatur Schluß machen - mit der Lyrik im Besonderen. Stattdessen stand konkrete politische Arbeit auf dem Programm, und, wenn schon Literatur, politisch engagierte Arbeiterliteratur. In seiner "Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller", Kursbogen zum Kursbuch 16/1969, proklamierte Peter Schneider den Tod der bürgerlichen Literatur. Und was kann "bürgerlicher" sein als Lyrik, zumindest in der Mehrzahl ihrer überlieferten Texte? "Schlechte Zeiten für Lyrik" hatte Bertold Brecht 1939 ein Gedicht überschrieben, verfasst im dänischen Exil. Darin stehen die Verse "In meinem Lied ein Reim/Käme mir fast vor wie Übermut." Und Brecht meinte damit den Widerspruch von Innerlichkeit und Gefühlsüberschwang zur politisch-wirtschaftlich katastrophalen Wirklichkeit. Theodor W. Adorno formulierte 1951 sein Verdikt "nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch".

Und heute? Wer sich über den Stand von Lyrik in der Gegenwart informieren möchte, wird bei Googles "Insights for Search" bzw. "Trends" fündig. Seit 2006 sinkt der Anteil des Suchworts "Lyrik" dramatisch. Gleiches gilt für "Gedichte". Weniger ausgeprägt ist der Bedeutungsverlust von "Gedicht" - was sich überwiegend Suchanfragen wie "Geburtstag Gedicht" verdankt und der Summation mit der Anfrage "Gedichte". Allerdings: Es handelt sich dabei um relative Angaben, nicht um die Entwicklung absoluter Zahlen bei den Suchanfragen. Mit diesem Webangebot möchte ich dazu beitragen, das Interesse an Gedichten zu fördern, sowohl das Interesse an eigener praktischer Beschäftigung mit Gedichten, als auch das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem überlieferten Bestand an Lyrik und ihren kulturellen, sozialgeschichtlichen, weltanschaulichen und philosophischen Bezügen.

Der Titel "Schlechte Zeiten für Lyrik" ist dem genannten Gedicht von Bertold Brecht entlehnt. Im Wintersemester 1977/78 veranstaltete Manfred Karnick ein Seminar dieses Titels an der Universität Freiburg, an dem ich als Student teilnahm und dem ich wichtige Impulse für meine weitere wissenschaftliche und sonstige Entwicklung verdanke.



"Il Canzoniere" in einer experimentellen Übertragung - Tag für Tag - Ein Schreibprojekt

... hier kommen Sie zum italienischen Originaltext und meinen Übertragungen


Ich möchte den zahlreichen Übersetzungen des Petrarcaschen Canzoniere ins Deutsche keine weitere Variante hinzufügen. Dazu bin ich, auch mit einem abgeschlossenen Grundstudium in Italianistik und intensiven Petrarca-Studien während verschiedener längerer Italienaufenthalte 1981 bis 1983, nicht kompetent. Zudem scheint mir das bestehende Angebot vollkommen ausreichend. Auch an einer "Nachdichtung", wie sie etwa Leo Graf Lanckoronski unternommen hat, liegt mir nichts.

Was ich hier unternehme, ist ein vom Canzoniere inspiriertes Projekt, einen Jahreslauf lyrisch zu gestalten, Alltagserfahrungen, Empfindungen, Reflexionen, Wahrnehmungen, Begegnungen am strengen Vorbild des Sonetts und am Leitfaden des Canzoniere sich abarbeiten zu lassen. Vorstufe zu diesem Projekt sind zwanzig Sonette, die ich für eine Seite zum Olivenanbau unter Extrembedingungen geschrieben habe. Petrarcas Sonette sind dabei für mich zum einen Schreibanlass, zum anderen bemühe ich mich, ihre inhaltliche Tiefenstruktur zu ergründen und diese in neuen, zeitnahen Bildern zu realisieren. Ein stückweit haben meine Übertragungen daher auch den Charakter von Exegesen.

Ich startete mit dem Jahrestage-Sonette-Projekt am 1. September 2012, mit dem meteorologischen Herbstbeginn. Ich orientiere mich in der Bearbeitung an der Reihenfolge der Petrarca-Texte in der Canzoniere-Ausgabe von Enrico Bianchi. Um Mitternacht eines jeweiligen Tages ist Arbeitsende. Eingestellt wurde, was dann fertiggestellt war, gegebenenfalls auch nur ein Fragment. Ich habe die Möglichkeiten einer Internetpublikation genutzt, im Verlauf der Produktion gelegentlich bereits "abgelegte" Texte nachzuarbeiten.

Herbst-Block (September, Oktober, November 2012): Vom jeweiligen Sonett des Tages wurde die Reimform streng übernommen, Lautgestalt und Rhythmus geben eine Stimmungsorientierung vor. Den von Petrarca gestalteten Inhalt und seine Bilderwelt nutzte ich als Anregungen. Daneben konsultierte ich gelegentlich auch Joachim du Bellay, William Shakespeare, Andreas Gryphius, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke. An den Tagen mit Canzonen, Sestinen, Balladen und Madrigalen hatte ich "frei" - an eine verbreitete Übersetzergepflogenheit anschließend, sich nur die Sonette des Canzoniere vorzunehmen.

Die Erfahrungen mit dem Herbst-Block haben gezeigt, dass die Arbeit an der Übertragung aller Sonette in eigene Sonette mit meinen sonstigen Tätigkeiten nur unter großer Anstrengung zu verbinden war. Für den Winter-Block (Dezember, Januar, Februar 2012/13) hatte ich mir daher die Übertragung in Bildarbeiten/Fotos vorgenommen. Ich erwartete mir davon weniger Konflikte mit meinen - überwiegend textbezogenen - Erwerbsarbeiten, eher sogar eine Bereicherung. Text gab es dennoch. Dem Petrarca-Text des Tages korrespondiert - in der Regel - ein Dreizeiler nach dem Muster 5-7-11 (Verbindung von Haiku und Endecasillabo - allerdings mit männlicher Kadenz bei letzterem).

Im Frühlings-Block (März, April, Mai 2013) erlaube ich mir textlich die größten Freiheiten, die sich noch mit den Anliegen der Petrarcaschen Texte vermitteln lassen. Ich arbeitete mit Freien Rhythmen, die einzelne Bilder oder Gehalte des jeweiligen Gedichtes von Petrarca aufgreifen. Doch ebenso stark sind sie geprägt durch meine eigenen Beschäftigungen im Umkreis des jeweiligen Tages. Dies bedingte auch, dass gelegentlich der Text erst am nächsten Tag eingestellt wurde, den Abstand einer Nacht einbeziehend.

Der Sommer-Block (Juni, Juli, August 2013) schließlich enthält, unterstützt durch die Urlaubszeit, streng erarbeitete Übersetzungen. Geschrieben in komfortabler sommerlicher Umsorgung nach der formalen Strenge des Herbstes, der erinnernden Mühe des Winters und der übermütigen Freiheit des Frühlings. Mein Anliegen war hier die weitestmögliche Treue zu den Petrarcaschen Vorlagen im Inhalt. Reimschema und Rhythmus wurden anklangweise beachtet.



Baukasten für Lyrik


Wie kommt jemand dazu, ein Gedicht zu schreiben? Die üblichen Ratgeber bieten zwei Alternativen für die Grundbedingung: Eine Idee haben, die man gestalten oder in einer Stimmung sein, die man "ausdrücken" möchte. Quer dazu steht die Unterscheidung, ob der Autor/die Autorin in erster Linie für sich selbst oder im Blick auf ein Publikum Gestalt finden möchte für ein Thema oder eine emotionale Verfassung, die sie/ihn gerade umtreibt - ob belastend oder positiv stimmend.

Die ersten "Arbeitsaufträge" lauten entsprechend:

Mache dir klar, was dein thematisches Anliegen ist.
Sammle Material, Bilder, Einfälle, Sätze dazu.
Mache dir klar, für wen du schreibst.
Organisiere dein Material im Blick auf den Adressaten.

Kulturgeschichtlich relevanter ist eine Unterscheidung, die dichtungstheoretisch markiert ist durch die Entgegensetzung von Inspiration und Fleiß. Die Inspirationsidee prägte die Genie-/Seherästhetiken verschiedener Epochen, die Fleißidee ist modernen Ursprungs und etwa von Edgar Allan Poe entwickelt. Poes Vorstellung vom Schriftsteller als Handwerker greift allerdings zurück auf antike Vorstellungen, die mit "ars" noch etwas bezeichneten, was näher an unserer heutigen Vorstellung von Handwerk ist als an unserer Vorstellung von Kunst.

Ich persönlich habe zuerst meist einen Satz, einen Satzbrocken oder auch mehrere Sätze/Satzfragmente im Kopf, der/die für mich bedeutsam oder stimmig ist/sind, ohne dass ich in der Regel schon genau wüßte, warum. Und dann fängt die Arbeit an, wobei fast parallel zwei Prozesse ablaufen: Die Bemühung, die imaginierte Bedeutung genauer zu fassen, und die Arbeit am sprachlichen Ausdruck, der seine sprachimmanente und bei gebundenen Formen durch Reim- und Rhythmusvorgaben dirigierte Eigendynamik entfaltet. Das Gedicht entsteht in der Reibung dieser beiden Prozesse aneinander.

In den folgenen Kurzessays finden Sie weitere handwerkliche Hinweise zur Lyrikproduktion.



Beschränkung als Textfindungswerkzeug

Als Dozent im Bereich Deutsch als Fremdsprache/DaF habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht mit eher engen sprachlichen Vorgaben zum Basteln eines Gedichtes. Beispielsweise habe ich Teilnehmer (in der Regel bei Kursen mit Deutschlehrern und Deutschlehrerinnen) darum gebeten, einen Text nur mit Präteritumsformen zu schreiben und den dann in Perfektformen zu übertragen. Auch die Aufgabe, ein Gedicht zu schreiben, in welchem in jeder Zeile eine Partizipform erscheint, führte zu positiv interessanten Ergebnissen. Die Vorgabe enger formaler Grenzen, Einschränkungen ist daher ein Tipp von mir an Anfänger. So funktionieren im übrigen auch verschiedenen Sprachspiele, die ich persönlich für weit effektiver halte auf dem Weg zur eigenen Lyrikproduktion als den Ausgang von einem "Gefühl" oder einer "Stimmung".

Und hier kommen nun auch die braven alten Gedichtformen wie etwa das Sonett ins Spiel. Deren formale Vorgaben können nicht nur beengen, wie dies Goethe in seinem kritischen Sonett zum Thema "Sonett" kritisiert (s.u.), sondern auch zur Ideenproduktion anregen. Bei meinen eigenen, an Petrarca orientierten Sonetten, die auf der folgenden Seite vorgestellt werden, habe ich oft für eine Strophe zunächst einmal eine Auswahl von Wörtern, die zum Reimschema passen. Und dann erarbeite ich dazu passende Bilder, deren sprachliche Gestalt in das rhythmische Schema eingearbeitet wird. Das Reimschema wird so produktiv, gerade indem es das unendliche Möglichkeitsfeld der Sprache einschränkt. Der Reim wird so, neudeutsch gesprochen, zum "Content-Generator". Diese Funktion entfällt allerdings bei Übersetzungen in dem Maße, wie der Übersetzer sich den inhaltlichen Vorgaben des Originals verpflichtet sieht.

Es gilt, dass die Bescheidung dazu beiträgt, Meisterschaft zu erwerben. Und mit einem weiteren Irrtum möchte ich aufräumen: Das eigentlich lyrische Problem ist nicht, einen "Inhalt" zu haben und dazu keinen Reim. Viel öfter quält uns das Problem, einen Reim zu haben - aber kein Gedicht dazu.

Ein Baukasten für Lyrik enthält also zunächst einmal Maßnahmen zur Einschränkung. Die ältesten dieser Maßnahmen sind Vorgaben für Reim (Stab-, Binnen-, Endreim) und Rhythmus (Folge von Hebungen und Senkungen, Zeilenlänge). Darüber hinaus sollte er viele Gedichte unterschiedlicher Herkunft enthalten, die einem selbst gefallen, Vorbilder also. Und schließlich die Zeit für geduldiges Probieren. Was er nicht enthalten sollte: Allzuviel an "Stimmungen", die man "ausdrücken" möchte.



Gedichte im Unterricht


Dem Ästheten ein Graus ist die Beschäftigung mit Gedichten im Schulunterricht. Aber heißt das, sich auch nicht mit Beethoven auseinander zu setzen in der Schule, nur weil Schüler in der Regel keine (künftigen) Komponisten sind? Gute Gedichte halten einiges aus, sie sind nicht kaputt zu machen durch - sei es auch schlechten - Unterricht oder schwache Schüler-Interpretationen. Eher werden sie beschädigt durch ästhetisierendes Auf-den-Sockel-Stellen. Denn das macht sie leblos, zu bildungsbürgerlicher Klebemasse einer Gesellschaft, die es schon lange nicht mehr gibt.

Abgeschafft werden muss allerdings die Frage: Was will uns der Dichter damit sagen? Ergiebiger ist die verwandte Frage, was der Text uns sagt. Die Fragen danach, ob der Text Bezüge zum Leben und zu Aussageintentionen des Autors hat und welche, will ich damit nicht grundsätzlich zurückweisen. Sie gehören mit zum interpretatorischen Handwerk. Aber sie sollten nicht vergessen lassen, dass wir nicht den Autor vor uns haben, sondern ein Sprach- und Schreibwerk, das durch Eigengesetzlichkeiten geprägt ist und das erst durch uns als Leser bedeutungsvoll wird. Zumal wir den Text zumeist weit entfernt vom historischen, kulturellen und sozialen Kontext lesen.

Gedichte im Unterricht können drei sehr unterschiedliche Funktionen haben. Einmal als Teil kultureller und kulturgeschichtlicher Überlieferung, der zum Bildungskanon gehört. Zum anderen als Element der Auseinandersetzung in der Persönlichkeitsbildung der Lernenden, in kultureller und charakterlicher Selbstbestimmung. Und zum dritten schließlich als Mittel zur sprachlichen und ästhetisch-künstlerischen Schulung. Die drei Funktionen treten in der Regel mehr oder weniger vermischt in unterschiedlicher Gewichtung auf, je nach Schulart, Klassenstufe und Unterrichtsfach. Und jeder Lehrende sollte sich immer wieder fragen, welche Funktionen er in welcher Gruppe mit welchen Mitteln bedient.

Lektüreempfehlung: Stiftung Lesen, Gedichte im Klassenzimmer (externer Link - PDF)




Merkmale eines Gedichtes

Bis ins 19. Jahrhundert hinein galten Reimform und Rhythmus als die wesentlichen Merkmale eines Gedichtes - wobei es unterschiedliche Muster zu befolgen galt, die sich in langwierigen, komplexen kulturellen Gestaltungsprozessen herausgebildet hatten, die in die griechische Antike zurückreichen. Mit zunehmender Lese- und Schreibkundigkeit nahm auch die Gedichtproduktion außerordentlich zu und das Reimen entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Volksvergnügen, was zu einem Verschleiß der Identifikationskraft von tradierten Reim- und Rhythmusmustern führte. Seinen Schlusspunkt fand diese Entwicklung im Zweizeiler "Dies ist ein Reim, doch ein Gedicht/ ist, was sich reimt, noch lange nicht" von Oskar Loerke.

Wer sich nun - und das gilt bereits für das 18. Jahrhundert - als Schriftsteller/Lyriker abheben wollte von der gereimten Massenproduktion, der spielte mit den Grenzen von Reim und Rhythmus, schrieb in freien Rhythmen und unabhängig von Reimmustern. In der Folge wurden dann vorrangig inhaltliche Kennzeichen zur Identifikation von Gedichten benannt. Komprimierte (gerne: "verdichtete" - obgleich Dichtung mit Verdichten etymologisch nichts zu tun hat) Selbstaussprache, persönliche Spiegelung der Wirklichkeit, Wirklichkeitsdeutung in Kurzform, Gestaltung der Innenwelt in Sprache und ähnlich lauteten die neuen Formeln zur Identifikation eines Gedichtes. Das "lyrische Ich" wurde geboren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das poetische Schreiben in freier Form nun seinerseits wenn nicht zum Volksvergnügen so doch zu einem breit geübten poetischen Ausdruck. So kursierte als Negativbild dieser Art von Lyrik ("Freie Rhythmen") bald die Formel vom "in Zeilen gehackten Tagebucheintrag".

Es ist heute weitgehend unmöglich geworden, einem Text, von dem beansprucht wird, es handele sich um Gedicht, diese Zuschreibung abzusprechen, solange die Länge der einzelnen Textzeilen nicht vom Papier-/Dateiformat vorgeschrieben wird, sondern auf einer jeweiligen Entscheidung des Schreibenden beruht. Eine Unterscheidung in ernstzunehmende und weniger bis gar nicht ernst zu nehmende Gedichte lässt sich dennoch treffen anhand von Kriterien wie "Sprachbeherrschung", "Stimmigkeit der Bilder", "Rhythmisierung", "Originalität". Die Unterscheidung in "gute" und "schlechte" Gedichte bleibt dabei stets von Unsicherheit geprägt und ist abhängig von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Gedichten und sollte nicht verwechselt werden mit der Unterscheidung in "einfache" versus "komplexe", "schwierige" oder "anspruchsvolle" Gedichte. Ein einfaches Volkslied kann als Gedicht weit besser sein als ein anspruchsvoller Text, der seinem eigenen Anspruch nicht gerecht wird.

Als einzige allgemein verbindliche Merkmale von Gedichten verbleiben also auf der formalen Ebene die Gliederung durch einen - nicht notwendig vorgeschriebenen - Rhythmus (Zeilen-/Verslänge, Strophenaufbau, Folge von Hebungen-Senkungen) und das Melos (lautliche Gestaltung bis hin zum Endreim) sowie auf der inhaltlichen Ebene eine gehaltserweiternde Verflechtung von Begriffs- und/oder Bildbereichen.

Dies ist ein Reim, doch ein Gedicht
Ist, was sich reimt, noch lange nicht.

Oskar Loerke (1884-1941)

Lektüreempfehlung: Andreas Thalmayr/Hans Magnus Enzensberger, Lyrik nervt, Hanser 2004




Erläuterungen


Viele Leser sind der Auffassung, man müsse Gedichte "wirken lassen" und dass zu viel Wissen den Genuss des Gedichtes trübe. Bei schlechten Gedichten mag das der Fall sein. Bei zu viel Wissen stellt man möglicherweise fest, dass das Gedicht einfach nur schlecht gemacht, schlecht gedacht, schlecht geschrieben ist. Bei anderen Gedichten hilft die Analyse, Feinheiten zu entdecken - und vielleicht sogar dabei, ein wenig zu verstehen, was denn an einem Gedicht "gut" ist und was wir jeweils "gut" finden.

Gedichte haben nichts mit "Verdichten" zu tun, wie der Philosoph Martin Heidegger falsch etymologisierend meinte, sondern mit "dictare" - also mit der Vorstellung, von höheren Mächten "diktiert" zu sein. Dennoch stimmt das Bild der "Dichte", insofern Gedichte auf engstem Sprachraum komplexe Inhalte gestalten und ihr Aufbau durch Verkürzungen und Verschränkungen auf unterschiedlichen Ebenen gekennzeichnet ist.

Der erste Schritt einer Analyse ist, zunächst einmal genauer zu verstehen, was da steht. Dafür gibt es die "Erläuterungen", die in guten wissenschaftlichen Ausgaben nicht fehlen dürfen. Petrarca hat dankenswerterweise zu seinem Canzoniere selbst eine ganze Fülle an Erläuterungen gegeben. Ergänzende wurden von der Literaturwissenschaft erarbeitet. Auf diese möchte ich nicht weiter eingehen, sie finden sich in guten italienischen Werkausgaben.

Ich möchte hier nur beispielhaft einige Erläuterungen zu meinem Text vom 03. September 2012 geben, der sich auf Petrarcas Sonett III bezieht.

Berge  Dieses Bild eines intellektuellen und emotionalen Rückzugsortes hat vor allem Friedrich Nietzsche in seinem "Zarathustra" modellgebend gestaltet. Petrarca ist durch seinen Bericht über eine Besteigung des Mont Ventoux 1336 historisch unlösbar mit dem Motiv verbunden.

Twitterzeilen  Der Kurznachrichtendienst Twitter erlaubt nur Botschaften von maximal 140 Zeichen Länge.

Dianas Eber  Angespielt wird auf den "Kalydonischen Eber", der aktuell in einigen SUV-Modellen motivisch wiederkehrt. Auf den Diana-Mythos beziehe ich mich auch mit Aktaion, der Diana beim Baden beobachtet und dafür von Dianas Hunden zerrissen wird, und mit den sanften Rehen, die als Attribut Dianas gelten.

Amors Bogen  Pfeil und Bogen sind nicht nur Attribut Amors, sondern auch Dianas und, historisch weiter zurück greifend, der Hindugottheit Shiva. Amor kann durchaus als eine "gezähmte" römische Variante des grausamen Shiva gelten. Und bei Petrarca erhält er einiges seiner alten Grausamkeit zurück.

Augenblick, verweile  Goethes Faust erklärt Mephisto, er gehöre ihm, sobald er zum Augenblick sage, er möge verweilen - also wenn er sich mit einem "stillen Glück" begnüge. Fausts kritische Sicht auf das Glück wird kontrastiert im abschließenden jähe Pfeile des zweiten Terzetts mit einer Auffassung der christlichen Mystik (Meister Eckhart), die im "Nu" des Augenblicks alle Zeit enthalten sieht. Jähe Pfeile assoziiert ferner den Jähzorn Shivas.

Seventh House  Zitiert eine Passage aus dem Musical "Hair" von 1967, "When the Moon ...". Das siebte Haus ist in der Astrologie (Liebes-)Beziehungen zugeordnet. Der Mond ist Attribut Dianas. Woran ich nicht dachte, als ich dieses Motiv aufgriff: Im nächsten Sonett schreibt Petrarca von "Giove che Marte" - was "Jupiter aligns with Mars" evoziert.

Echsenblicke  Sexualität wird stark vom Hirnstamm beeinflusst, der auch als "Reptilienhirn" bezeichnet wird, unser Erbe aus einer frühen phylogenetischen Phase, zuständig unter anderem für das Dopamin-System.




Analyse


Ich möchte die differenzierte Analyse eines Gedichtes an einem Zweizeiler demonstrieren. Ich wähle meinen eigenen Text "früher". Trotz seiner Kürze hat er doch alle Merkmale eines Gedichtes.

früher begannen die tage
mit barfußlaufen.

Was hier steht, ist zunächst rasch zu erfassen: "Früher begannen die Tage mit Barfußlaufen." Eine klare Aussage darüber, was "früher" getan wurde. Und doch ist eine Erläuterung notwendig, dass nämlich dieser Text sich offensichtlich auf einen Erzählungsband von Wolf Wondratschek (*1943) mit dem Titel "Früher begann der Tag mit einer Schusswunde" (1969) bezieht. Damit ist der Text in einen innerliterarischen Zusammenhang gestellt.

Eine weitere Erläuterung ist sinnvoll, zur Verbindung mit der Gedichtform Haiku - auch wenn deren Konventionen (drei Zeilen nach dem Silbenschema 5-7-5) nicht durchgängig eingehalten werden. Wir haben hier vielmehr ein Schema 8-5, das wir aufbrechen könnten zu 5-3-5. Haiku (japanischer Plural, im Deutschen ist auch Haikus gebräuchlich) beziehen sich traditionell auf Naturerfahrungen und signalisieren in der Regel auch deutlich, in welcher Jahreszeit das Geschehen sich ereignet. Das macht uns besonders auf die Bedeutung des "Barfußlaufen" aufmerksam. Es könnte ein Hinweis auf den Sommer sein. Eine Zeit der Wärme, der Hitze, die in der Filmgattung Western gerne eingesetzt wurde, um eine kritische Situation ("High Noon") zu markieren (womit ein Bezug zu "Schußwunde" gesetzt wäre).

Wesentliches Merkmal von Haiku ist auch eine klare Zweiteilung, strukturell wie inhaltlich, mit einem prägnanten Spannungsbogen. Inhaltlich finden wir hier in der ersten Zeile eine zeitliche Bestimmung ("früher") und eine Exposition dessen, was den Text am "früher" interessiert, nämlich wie die Tage begonnen haben. In der zweiten Zeile finden wir die Erfüllung des in der ersten Zeile aufgespannten Horizontes: "barfußlaufen" sei das, womit früher die Tage begonnen haben. Eine verblüffende Wendung, die aber durchaus sinnhaft zu explizieren ist. Es könnte sich um ein "früher" in Armut handeln, als es noch keine Schuhe gab, zumindest nicht für die Mehrzahl der Menschen, um die es hier geht. Die beiden Zeilen sind inhaltlich allerdings noch enger verbunden. Denn Beginnen und Laufen sind zwei äußerst eng verbundene Handlungen. Das Laufen wird so zum Loslaufen und das Beginnen zu einem, das noch nicht so genau zu wissen scheint, worauf es hinausläuft. Wir können den Beginn als Loslaufen verstehen. Aber auch als Beginnen mit einer zunächst sinnfreien Tätigkeit, Barfußlaufen um des Barfußlaufens willen, als Übung etwa.

Formal ist der Text in zwei Zeilen gegliedert, wobei die erste von hellen, die zweite von den dunklen Vokalen "a" und "u" dominiert wird, nach dem Muster "e-e-e-ie-e/i-e" beziehungsweise "ü-a-a/a-u-au". Das gemeinsame Muster lautet: "üeeae-ie-ae/iau-au-e". Die Analyse der Konsonanten zeigt in der Kürze des Textes eine auffallende Häufung von "f": "f/ff". Gemeinsam mit den Konsonanten "b" ("b/b") und "r" ("r/r") leistet der f-Laut eine enge lautliche Verbindung der beiden Zeilen, besonders unterstrichen durch die Koppelung von "r" und "f" ("fr/rf").

Rhythmisch ist der Zweizeiler deutlich geteilt in eine daktylisch-trochäische, gleichförmig hebende erste Zeile und eine jambisch auftaktige zweite Zeile mit Haupt- und Nebenakzent. Die zweite Zeile gewinnt so einen (ver-)fließenden Charakter, während der Rhythmus der ersten Zeile eher eine gleichförmige Dauer ausstrahlt.

"--"--"-
-"-'-

Die rhythmisch-lautliche Feinanalyse zeigt unter anderem die Einbindung des "ü" in "früher" in den ersten Daktylus der ersten Zeile als Hebung. Dies zieht den "ü"-Klang in die Höhe, gleicht ihn einem "i"-Laut an. Was den helleren Klang der ersten Zeile unterstreicht.



Interpretation

Der rhythmisch-lautliche Aufbau des Gedichts "früher" bestätigt die Zuordnung zur Gattung "Haiku", die auch durch eine klare Teilung und ein betontes Spannungsverhältnis der Gehalte unterstrichen wird. Eine Teilung wird auch inhaltlich markiert durch das "früher", welches die Gegenwart des Gedichtes einer anderen Zeit kontrastiert, einer Zeit des "Barfußgehens". Es bleibt offen, ob dieses Barfußgehen Zwang oder Freiheit war, bittere Notwendigkeit oder Genuß. Dass indes Barfußgehen nicht den ganzen Tag, sondern nur den Tagesbeginn betraf, schafft eine eher positive Konnotation. Und damit auch einen scharfen Kontrast zur "Schusswunde" bei Wondratschek.

Für die implizite Gegenwart als zweite Zeitbestimmung des Gedichtes ergeben sich damit eher negative Konnotationen. Etwa die Annahme frostiger Zeiten, in denen Barfußgehen am Morgen nicht mehr möglich ist. Die dunklen Vokale der zweiten Zeile evozieren Naturverbundenheit, Stabilität, "Geerdetsein" als vergangenen Zustand, dem eine eher schrille, "abgehobene" Gegenwart kontrastiert ist. Die Vergangenheit erscheint märchenhaft glorifiziert, nicht nur durch den Auftakt "früher" (verweist auf "es war einmal"), sondern auch durch den Plural "Tage", der einen für sich bestehenden Zeitraum, weniger eine Regel wie "der Tag" bei Wondratschek, markiert.

Im Kontrastverhältnis zum Titel Wondratscheks ergibt sich auch ein inhaltlicher Deutungsrahmen, der als "früher" die 60er Jahre aufscheinen lässt, und damit das Barfußlaufen der Hippies etwa, während bei Wondratschek das "früher" auf jene Generationenkultur anspielt, von der sich die Barfußlaufer der 60er Jahre gerade absetzten. Für die Interpretation ergibt sich somit ein kritischer Bezug zur Hippiezeit und damit auch zur Zeit, in welcher die Lyrik Wondratscheks gefeiert wurde. Was damals als fortschrittlich galt, ist heute schon wieder etwas, auf das man zurückschaut, mit einer Mischung aus kritischer Distanz und vielleicht auch Wehmut.

Ein weiterer Bogen kann auch zur Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zurück geschlagen werden, die nach dem Bruch durch die beiden Weltkriege durchaus noch im kulturellen Gedächtnis verankert war, etwa durch die Hesse-Lektüre im Umkreis der Hippie-Bewegung. Auch am Monte Verità wurde Barfuß gelaufen.




Beispielhafte Laut- und Klanganalyse zu Trakls Gedicht "Kindheit"

Die Bezeichnung "Lyrik" für gebundene Literaturformen ist abgeleitet vom Namen eines Musikinstrumentes, der Lyra, die in der griechischen Antike den Vortrag einer bestimmten Gruppe dramatisch-erzählender Texte begleitet hat. Die enge Verbindung von Lyrik und Musik ist bis heute erhalten geblieben.  Den besonderen Bezug möchte ich an einem Beispiel aus dem Werk Georg Trakls zeigen.

Immer wieder wurde die besondere "Musikalität" der Traklschen Gedichte hervorgehoben. In einem der ersten Zeugnisse zur Rezeption Trakls schreibt Rainer Maria Rilke in einem Brief an den Trakl-Förderer Ludwig von Ficker 1915: "man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiederbringlich einzige waren". Im Gedicht "Kindheit", das Mitte 1913 geschrieben wurde, begegnen bereits auf der inhaltlichen Ebene zahlreiche explizite Klangereignisse, "das wilde Gras saust", "das Rauschen des Laubs", "das blaue Wasser im Felsen tönt", "sanft ist der Amsel Klage", "in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort", sowie "leise klirrt ein offenes Fenster".

Diese Klangereignisse umrahmen die dritte und mittlere Strophe des Gedichtes, in welcher ausdrücklich Stille herrscht: "friedlich/Ruhn im Grund die alten Glocken". Schauen wir einmal, was diese Strophe auf der Ebene der Sprachlaute auszeichnet, so finden wir die größte Häufung des tiefen Vokals "u" (äu, eu werden nicht gezählt), der durch die äußerste Schließung der Lippen gekennzeichnet ist. Weiter kennzeichnen diese Strophe zahlreiche Alliterationen: Waldsaum/Wild/Weiler, Grund/Glocken, sowie Assonanzen: blauer/Augen/Saum, "mehr/Seele", "Wild/friedlich", "Ruhn/Grund". Gerade die Strophe, in der "die alten Glocken" schweigen, bringt das Gedicht Trakls in besonderer Weise zum Klingen.

Ein weiteres wichtiges Motiv der Klanglichkeit in diesem Gedicht ist markiert durch den ersten Satz der ersten Strophe: "Voll Früchten der Hollunder". Hier haben wir die Bindungen "o-ü" sowie "o-u" vor uns. Den Vokal "U" haben wir bereits als besonders bedeutsam für dieses Gedicht kennen gelernt. Hier werden wir auf den zweiten Schlüsselvokal aufmerksam gemacht, auf "O". Zwei Wörter gibt es in "Kindheit", die beide Vokale enthalten, "Hollunder" und "dunkelgolden". Wörter, die den Anfang und das Ende des Gedichtes zusammenführen, klanglich wie bildlich. Und die beispielhaft zeigen, wie kunstvoll dieser Text gearbeitet ist.

Weitere Interpretationen zu Trakl-Gedichten.



Ein Sonett? Was'n das??

"Sonett" kommt vom lateinischen Wort "sonus", was "Klang, Schall, Laut, Ton"  bedeutet. Es ist eine der Musik, dem Gesang besonders nahe stehende Gedichtform, die im 13. Jahrhundert am Hof von Palermo unter Kaiser Friedrich II. historische Bedeutung erlangte, vielleicht sogar dort erst entwickelt wurde. Als "Erfinder" wird häufig Giacomo da Lentini (er lebte etwa 1210 bis 1260) genannt. Anzunehmen sind Einflüsse des Minnesangs, der sizilianischen Kirchenmusik und der arabischer Lyrik.

Ein Sonett am Hof von Palermo bestand aus vierzehn Zeilen mit je elf Silben ("Endecasillabo"). Die Zeile hatte in der Regel einen "klingenden Schluss" mit einer Senkung am Ende (dáda). Ins Deutsche übersetzt wurde es zumeist mit fünfhebigen Jamben (dadá) plus klingendem Schluss. Es war in vier Strophen gegliedert, zwei zu vier Zeilen ("Quartette", zusammen "Oktett") und zwei zu drei Zeilen ("Terzette", zusammen "Sextett"). Das Reimschema des Oktetts (auch "Oktave" genannt) war alternierend (abababab), das der Terzette zumeist wiederholend (cde cde). Die formale Gliederung in Oktett und Sextett hatte auch eine inhaltliche Entsprechung, mit einem, modern gesprochen, "dialektischen" Spannungsverhältnis.

Petrarca entwickelte das Sonett im 14. Jahrhundert dann in seinem "Il Canzoniere" ("Das Liederbuch" - vgl. Heinrich Heines "Buch der Lieder") beispielgebend weiter. Bei ihm sind die Quartette nun zumeist mit umarmenden Reimen parallel gestaltet (abba abba), im zweiten Teil des Canzoniere, "In Morte di Madonna Laura" (also fiktiv nach dem Tod der Verehrten geschrieben) setzt er allerdings häufig wieder die ursprüngliche "sizilianische" Reimform ein (abababab), die auch aus der "Siziliane" einer Stanzen-Form, bekannt ist.

Goethe setzt sich in einem Sonett von 1807 hintergründig mit der Frage nach dem Verhältnis von Autorität und Freiheit auseinander, vordergründig geht es darum, ob ein strenger Aufbau wie der des Sonetts noch dem Ausdrucksanspruch seiner Zeit, speziell seines eigenen Stiles zu entsprechen vermag. Möricke war selbst fleißiger Sonette-Dichter. Sein Rätsel-Text "Zwei dichterischen Schwestern von ihrem Oheim" zu den "Regeln der Son--" wendet sich humorvoll an die Sonett-Leidenschaft seiner Zeit. Eine Auflösung von Gert Egle findet sich auf der Plattform "teachsam.de".

Robert Gernhardts Text zum Sonette-Schreiben von 1981 hält gleich zwei einander entgegenstehenden Seiten den kritischen Spiegel vor: Jenen, die im Sonette-Schreiben schon die Insignien einer "höheren Weihe" zur Lyrik erkennen wollen. Und jenen, die in progressiver Stammtischmanier erst mal deftig abkanzeln, was sie nicht verstehen, was ihren eigenen Lebensstil in Frage stellen könnte.

Lektüreempfehlung: Hans-Dieter Gelfert, Einführung in die Verslehre. Für Schülerinnen und Schüler, Reclam 1998



Johann Wolfgang Goethe, 1807

Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben,
Ist heil’ge Pflicht, die wir dir auferlegen:
Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen
Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben.

Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben,
Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;
Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,
Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.

So möcht' ich selbst in künstlichen Sonetten,
In sprachgewandter Maße kühnem Stolze,
Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;

Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten,
Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,
Und müßte nun doch auch mitunter leimen.

Eduard Möricke, 1867

Heut lehr' ich euch die Regel der Son--
Versucht gleich eins! Gewiss, es wird ge--,
Vier Reime hübsch mit vieren zu versch--,
Dann noch drei Paare, dass man vierzehn h--,

Lasst demnach an der vielgeteilten K--
Als Glied in Glied so einen Schlussring sp--:
Das muss alsdann wie pures Gold erk--;
Gewisse Herrn zwar hängen Klett' an K--.

Ein solcher findet meine schönen N--
Bei diesem Muster. "Ah, Fräulein, Sie st--!"-
"Oh nein, Herr Graf, hier gilt es Silben z--." -

"Wirklich! Doch wenn die Lauren selber d--,
Was soll Petrarka?" - "Der mag Strümpfe str--.
Eins wie das andre ist für schöne S--."

Robert Gernhardt, 1981

Sonette find ich so was von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt, Daß wer den Mut

hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

Darüber, daß so’n abgefuckter Kacker
Mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.



Geschichte der Sonettdichtung bis zum Barocksonett

DIE Geschichte des Sonetts gibt es nicht, es gibt viele Geschichten, deren Verlauf davon mitbestimmt wird, welche Sonettdichter wir jeweils ins Auge fassen, welchen sprachlichen und kulturellen Kontext. Schon bei der Auswahl der Dichter wird es schwierig. Natürlich gehören Giacomo da Lentini (1210-1260), Immanuel ha-Romi (1261-1335), Francesco Petrarca (1304-1374), Francesco Berni (1497-1536), Joachim du Bellay (1522-1560), William Shakespeare (1564-1616), Andreas Gryphius (1616-1664), August Wilhelm und Friedrich Schlegel (1767-1845/1772-1829), Heinrich Heine (1797-1856), Charles Baudelaire (1821-1867) und Rainer Maria Rilke (1875-1926) dazu. Aber brauchen wir Opitz, brauchen wir Goethe? Welchen der Petrarkisten sollten wir aufnehmen? Was ist mit Puschkins Onegin-Sonetten? Und was mit den Sonetten im Expressionismus? Was schließlich hat die Gegenwart beizutragen?

Pate für die Entwicklung des Sonetts im 13. Jahrhundert am Hof von Friedrich II. in Palermo standen der Minnesang und vermutlich auch Formen der arabischen Lyrik, in der die Suche nach einer verlorenen Geliebten ein zentrales Thema war. Weiteren Einfluss könnte die Kirchenmusik gehabt haben, die sich im 12. Jahrhundert entscheidend zur Mehrstimmigkeit weiterentwickelte und die "freien Rhythmen" der Gregorianik durch klare Metriken ablöste. Am Hof von Palermo entstand eine Sammlung von Sonetten der "Sizilianischen Dichterschule", darunter fünfzehn Sonette von Giacomo da Lentini, die zunächst für Immanuel ha-Romi von Einfluss waren, der die Sonettdichtung in den hebräischen Sprachraum einführte. Die fünfundzwanzig Sonette in der Vita Nova Dantes, Beatrice gewidmet, setzten die von Lentini und dem Minnesang für den italienischen Sprachraum eröffnete Tradition der Amor-Thematik fort. Hier knüpfte Petrarca mit seinem Canzoniere an, erweiterte die Thematik allerdings durch eine stärkere Psychologisierung und die Öffnung zu allgemeinen Zeitdiskursen.

Francesco Berni gewann das Sonett dann für die Zeitkritik und gleichsam journalistisch-feuilletonistische Themen. Spektakulär waren seine Sonette mit kirchenpolitischer Kritik. Derb erotische Sonette schrieb sein Zeitgenosse Pietro Aretino. Joachim du Bellay brachte die Idee des Petrarcaschen Sonettzyklus' nach Frankreich. In "L'Olive" (1549) ersetzte er den Petrarcaschen Lorbeer (lauro) durch die Olive (olive), Petrarcas Laura durch eine Frau namens Olive, blieb dabei jedoch eher epigonal. Shakespeare trieb die Psychologisierung der Liebesthematik weiter und tadelte Petrarca für dessen vermeintlich blutleere Liebesauffassung. Während Martin Opitz das Sonett vor allem theoretisch förderte, hat Andreas Gryphius für das Barock und darüber hinaus in seiner eigenen Sonettdichtung politische Kritik und Leiden an weltlichem Elend stilbildend lyrisch gestaltet und das Sonett für neue Themenbereiche erschlossen. Nach ihm hat der unbekannte aber vielgelesene Autor hinter dem Pseudonym "Celander" in seiner "Sammlung Allerhand Sinnreicher Gedichte" (1721) erotische Sonette im Stil Aretinos veröffentlicht.


Giacomo da Lentini
Sonetti XXI

Sì come il sol che manda la sua spera
e passa per lo vetro e no lo parte,
e l’altro vetro che le donne spera,
che passa gli ochi e va da l’altra parte,

così l’Amore fere là ove spera
e mandavi lo dardo da sua parte:
fere in tal loco che l’omo non spera,
passa per gli ochi e lo core diparte.

Lo dardo de l’Amore là ove giunge,
da poi che dà feruta sì s’aprende
di foco c’arde dentro e fuor non pare;

e due cori insemora li giunge,
de l’arte de l’amore sì gli aprende,
e face l’uno e l’altro d’amor pare.

Francesco Berni
Per Clemente VII

Un papato composto di rispetti,
di considerazioni e di discorsi,
di pur, di poi, di ma, di se, di forsi,
de pur assai parole senza effetti;
 
di pensier, di consigli, di concetti,
di conietture magre per apporsi,
d’intrattenerti, pur che non si sborsi,
con audïenze, risposte e bei detti;
 
di pie’ di piombo e di neutralità,
di pazïenza, di dimostrazione
di fede, di speranza e carità;
 
d’innocenzia, di buona intenzïone,
ch’è quasi come dir semplicità,
per non li dar altra interpretazione.

                Sia con sopportazione,
lo dirò pur, vedrete che pian piano
farà canonizzar papa Adriano.

William Shakespeare
Sonnets LXIII

Against my love shall be as I am now,
With Time's injurious hand crushed and o'erworn;
When hours have drained his blood and filled his brow
With lines and wrinkles; when his youthful morn

Hath travelled on to age's steepy night;
And all those beauties whereof now he's king
Are vanishing, or vanished out of sight,
Stealing away the treasure of his spring;

For such a time do I now fortify
Against confounding age's cruel knife,
That he shall never cut from memory
My sweet love's beauty, though my lover's life:

His beauty shall in these black lines be seen,
And they shall live, and he in them still green.

Andreas Gryphius
Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch! ein Wohnhaus grimmer Schmerzen?
Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz aller Angst, und Widerwärtigkeit,
Ein bald verschmelzter Schnee, und abgebrannte Kerzen,

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid,
Und in das Toten Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind; find uns aus Sinn' und Herzen:

Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der acht hinfällt,
Und wie ein Strom verfleust, den keine Macht auffhällt;
So muß auch unser Nam’, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.

Was itzund Atem holt; fällt unverseh’ns dahin;
Was nach uns kommt, wird auch der Tod ins Grab hinziehn,
So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden.



Geschichte des Sonetts seit der Romantik


Die Aufklärung hat das Sonett als feudale Tändelei oder formale Spielerei abgetan. Dichtung sollte sich freier Formen für freie Gedanken und Gefühle bedienen. Etwas davon findet sich noch in der Sonett-Skepsis Goethes.

Dem hat August Wilhelm Schlegel vor dem Hintergrund der romantischen Literaturtheorie energisch widersprochen. In seiner Vorlesung über die "Geschichte der romantischen Literatur" beschreibt er das Wechselspiel von Form und Gehalt im Sonett. Dort nennt er das Sonett "eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte Form".  Zu einer neuen Blüte der Sonettdichtung haben auch seine Übersetzungen aus dem Canzoniere Petrarcas beigetragen.

Sein Bruder Friedrich Schlegel gab der Sonettdichtung einen Impuls aus ganz anderer Richtung, mit seinen provokanten "erotischen Sonetten", die an die Sonette Pietro Aretinos anknüpften und die Wendung Shakespeares gegen Petrarca im Namen sinnlicher Realität auf die Spitze trieben.

Baudelaire und Heine stehen beide für eine zeitgemäße Verbindung Petrarcascher und Aretinoscher Impulse. Liebe ist in ihren Sonetten stark erotisch geprägt, mit deutlicher ironischer Distanz gesehen und aus einseitig männlicher Perspektive psychologisch durchleuchtet - und zugleich doch noch immer gelegentlich irritierend, schmerzlich und geheimnisvoll wie fünfhundert Jahre zuvor im Canzoniere. Baudelaire ist dabei sicherlich ernster zu nehmen, bei Heine weiß die Leserschaft nie so genau, welches Spiel er treibt. Immerhin hat er sein "Buch der Lieder" mit deutlichem Anklang an Petrarcas Canzoniere benannt.

Es bleibt dem 20. Jahrhundert vorbehalten, dann - bis auf weiteres - Amor als Leitmotiv aus den Sonetten zu verbannen. In den vierzehn Sonetten Georg Trakls erscheint nur einmal der Wortstamm "Liebe", im Gedicht "Traum des Bösen" als "Liebender". Sein Epochengenosse Franz Werfel thematisiert in "Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte" zwar noch das Liebesentzücken - doch die übermächtige Konkurrenz des Weltelends lässt dem wenig Raum. Werfels Sonett endet mit "Wie werd' ich diese Schuld bezahlen müssen!?". Und Rilkes "Sonette an Orpheus"? "Wo sinkt sie hin aus mir?" - Fragen über Fragen. Lesen Sie selbst.



Friedrich Schlegel
Erotische Sonette 4

Von allen Männern, die dich je bedrohten
Bin ich der geilste: sieh' mich zitternd an ... !
Ich zerre deine Brüste Spann für Spann
Und werde sie auf deinem Rücken knoten.

Auch deine Füße knüpfe ich daran,
Und binde deine kleinen weißen Pfoten.
Und wenn den Leib du röchelnd mir geboten
Bewunderst du in mir den starken Mann.

Und wenn du schreist, so schlitz' ich deinen runden
Und weichen Leib mir auf mit kaltem Streiche.
Dann saugen sich die Lippen deiner Wunden

Um meinen Schwanz, daß ich vor Lust erbleiche.
Jedoch, mein Glück, es reift nicht aus zu Stunden:
Du riechst schon sehr, mein Torsoschatz, nach Leiche.


Charles Baudelaire
La Destruction

Sans cesse à mes côtés s'agite le Démon;
II nage autour de moi comme un air impalpable;
Je l'avale et le sens qui brûle mon poumon
Et l'emplit d'un désir éternel et coupable.

Parfois il prend, sachant mon grand amour de l'Art,
La forme de la plus séduisante des femmes,
Et, sous de spécieux prétextes de cafard,
Accoutume ma lèvre à des philtres infâmes.

II me conduit ainsi, loin du regard de Dieu,
Haletant et brisé de fatigue, au milieu
Des plaines de l'Ennui, profondes et désertes,

Et jette dans mes yeux pleins de confusion
Des vêtements souillés, des blessures ouvertes,
Et l'appareil sanglant de la Destruction!


Heinrich Heine
Fresko-Sonette VII

Hüt dich, mein Freund, vor grimmen Teufelsfratzen,
Doch schlimmer sind die sanften Engelsfrätzchen;
Ein solches bot mir einst ein süßes Schmätzchen,
Doch wie ich kam, da fühlt’ ich scharfe Tatzen.

Hüt dich, mein Freund, vor schwarzen alten Katzen,
Doch schlimmer sind die weißen jungen Kätzchen;
Ein solches macht’ ich einst zu meinem Schätzchen,
Doch tät mein Schätzchen mir das Herz zerkratzen.

O süßes Frätzchen, wundersüßes Mädchen!
Wie konnte mich dein klares Äuglein täuschen?
Wie konnt’ dein Pfötchen mir das Herz zerfleischen?

O meines Kätzchens wunderzartes Pfötchen!
Könnt’ ich dich an die glühnden Lippen pressen,
Und könnt’ mein Herz verbluten unterdessen!

Rainer Maria Rilke
Sonette an Orpheus II

Und fast ein Mädchen wars und ging hervor
aus diesem einigen Glück von Sang und Leier
und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier
und machte sich ein Bett in meinem Ohr.

Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf.
Die Bäume, die ich je bewundert, diese
fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese
und jedes Staunen, das mich selbst betraf.

Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast
du sie vollendet, daß sie nicht begehrte,
erst wach zu sein? Sieh, sie erstand und schlief.

Wo ist ihr Tod? O, wirst du dies Motiv
erfinden noch, eh sich dein Lied verzehrte? -
Wo sinkt sie hin aus mir? ... Ein Mädchen fast ...



Freie Rhythmen

Heute gelten Gedichte in freier, ungebundener Form, ohne festes Reimschema oder Metrum, häufig mit verächtlicher Geste als Dilettantenspielwiese. Das böse Wort vom "in Zeilen gehackten Tagebucheintrag" macht seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Runde. Die Lust am freien Rhythmus war damals explodiert, nicht zuletzt dank der Einreden der "Achtundsechziger" (Studentenbewegung, Hippiebewegung) gegen die "bürgerliche" bis "spießbürgerliche" Literatur.

Sonette galten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ausdrucksform besonderer bürgerlicher Borniertheit. Was etwas erstaunt angesichts der fortdauernden Bedeutung des Sonetts in der Lyrik von Symbolismus und Expressionismus. Aber an deren Sonette wurde in der Wende gegen bürgerliche Lyrikformen nicht gedacht. Eher standen die in Petrarcas Gefolge verfassten Liebessonette - gerne auch mit dem Reimpaar "Herz-Schmerz" - im Blick der Kritik.

Und diese Kritik hatte durchaus ihre Berechtigung. War es doch im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts zur Mode geworden, mit möglichst formstrengen Gedichten den Nachweis von Kultiviertheit zu erbringen. Allerdings gab es parallel zahlreiche Versuche, das Sonett für politisch-kritische Inhalte zu nutzen, etwa bei Georg Herwegh oder Friedrich Rückert.

Als erster hatte sich Goethe gegen die Form des Sonettes als einengend und dem lyrischen Ausdruck nicht mehr ganz zeitgemäß gewandt. Und dies in einem Sonett, das endet auf: "Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,/Und müßte nun doch auch mitunter leimen." Goethe plädiert hier 1807, also längst seinem Sturm und Drang entwachsen, für einen offeneren Umgang mit lyrischen Formen. Und er spottet, dass sich sonst "reimen" auf "leimen" reimen müsse.

1899 veröffentlichte Arno Holz seine Revolution der Lyrik und forderte anstelle der "heimlichen Komik" der gebundenen Lyrik freie ("natürliche") Rhythmen. Die kamen dann auch, doch Expressionisten wie Symbolisten hielten sich weiterhin - wenngleich nicht dogmatisch - auch an teilweise sehr strenge rhythmische und reimbezogene Bindungen.

Die Freien Rhythmen werden dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Massenware. Was an dem Missverständnis liegen dürfte, Freie Rhythmen seien frei von anstrengender rhythmischer oder klanglicher Gestaltung und im übrigen auch frei von sonstiger Mühe zu haben, zu machen. Hans Bender möchte im Vorwort von Mein Gedicht ist mein Messer 1955 "den 10 000 deutschen 'Lyrikern' (...), die beim Abendspaziergang im Stadtpark, (...) zu einem Gedicht inspiriert werden" einen Satz von Gerhard Neumann (1928-2002) ins Stammbuch schreiben: "Ich arbeite zäh, oft zweifelnd, doch stets geduldig."

Die wohl grausamste Kritik an zum Freibrief erkorenen Freien Rhythmen schrieb Gerhard Henschel im Eulenspiegel Heft 9/2012 zum neuesten Gedichtband von Günter Grass, Eintagsfliegen. Da ist im Auftakt zu lesen:

Wer hat den längsten Atem? Rechnet
nach: Ich amtiere
seit 1959 als berühmtester
deutscher Schriftsteller.

Und so weiter. Henschel ist gut, er kanns mit den Freien Rhythmen.



Tradurre è tradire

Im Italienischen gibt es das geflügelte Wort vom "tradurre è tradire" - "Übersetzen ist Betrügen". Es deutet in strenger Formulierung darauf hin, dass jede Übersetzung notwendig durch die Übertragung in ein anderes Sprachsystem und den damit verbundenen Wechsel des kulturellen Bezugssystems den Gehalt eines Textes teilweise verändert, wenn man so will auch "verfälscht". Gerade darin liegt eine wesentliche Aufgabe guter Übersetzungen, die inhaltliche Verfälschung so gering wie möglich zu halten, auch wenn dabei etwa die äußerlich sprachliche Ebene "falsch" erscheint. Ein allen noch aus dem Schulunterricht bekanntes Beispiel: Wer das Englische "How do you do" mit "Wie geht es dir?" übersetzt, liegt damit falsch, eine bescheidene und korrekte Übersetzung heißt "Hallo". Auch wenn sich inzwischen in einigen Bereichen auch ein deutsches "Wie gehts?" oder, ähnlich, ein jugendsprachliches "Was geht?" als Grußformel eingebürgert hat.

Bei Lyrik ist der Spielraum einer Übersetzung besonders groß und damit auch die Gefahr einer Verfälschung. Wo allerdings die schöpferische Neugestaltung in der Zielsprache übergeht in die Verfälschung, ist schwer zu entscheiden. Gerne wird in diesem Kontext auf den Weg von Goethes Gedicht "Wandrers Nachtlied" ins Japanische (1902), dann weiter ins Französische (1911) - nun als Beispiel japanischer Lyrik - und von dort wieder zurück ins Deutsche verwiesen. Ein Beispiel vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das auch vor dem Hintergrund gesehen werden sollte, dass Japan erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Blick der Europäer geriet - und dies unter problematischen Bedingungen. Wenn aus "Über allen Gipfeln ist Ruh,/In allen Wipfeln spürest du/Kaum einen Hauch" wird "Stille ist im/Pavillon aus Jade" mag das Anlass zum Schmunzeln geben. Doch wurde hier lediglich eine solide Quellenkritik versäumt. Möglicherweise handelt es sich auch lediglich um eine Legende, weitergetragen von Dietmar Rösler, der sie 1998 in "Deutsch als Fremdsprache außerhalb des deutschsprachigen Raumes" auf Seite 143 als Material zur "Diskussion des Übersetzungsbegriffs" bereitstellt.

Zahlreiche Beispiele zur übersetzenden Verfälschung von Lyrik bieten die Übersetzungen aus Petrarcas Canzoniere. Aufschlussreich ist vor allem eine der frühesten Übertragungen des Canzoniere ins Deutsche, die von Karl August Förster 1818-1819. So wird bei Förster aus "Pommi ove ’l sole occide i fiori et l’erba,/o dove vince lui il ghiaccio et la neve;" (CXLV), was in etwa heißt "Führ mich dahin, wo die Sonne Blumen und Kräuter entzündet/oder dahin, wo sie Eis und Schnee bezwingt", ein "Hin, wo versengt die Halm’ im Strahl sich beugen,/Und wo, ihm trotzend, Schnee und Schollen ragen;". Aus "vince", also "gewinnen", "überwinden", "bezwingen", bezogen auf "il sole" als Subjekt der Handlung (mit einer schwebenden Möglichkeit, als Objekt gemeint zu sein), wird bei Förster "trotzen", bezogen auf "il ghiaccio" und "la neve". Dazu fügt sich, dass er Petrarcas aktives "occide" in ein passives "sich beugen" überträgt. Damit geraten wir in den Bereich ideologischer Beugung eines Textes, womit ich Förster durchaus keine entsprechende Intention unterstellen möchte, sondern lediglich darauf hinweisen, dass wir bei Förster eben auch Texte vor uns haben, die dem Biedermeier zugehören und die dies deutlich zeigen.

Allerdings sei auch darauf hingewiesen, dass Förster in vieler Hinsicht weit getreuer am Petrarcaschen Original bleibt, als etwa August Wilhelm Schlegel mit seinen Übersetzungen 20 Jahre zuvor. Interessant ist etwa ein Vergleich der beiden Übersetzungen des 123. Sonetts, Canzoniere CLVI.




Inhaltliche Probleme des Übersetzens von Gedichten

Übersetzungen verändern einmal durch die Besonderheiten verschiedener Sprachen, aber auch durch unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale, kulturelle Prägungen und Erfahrungen des Übersetzenden den Gehalt des Originaltextes stets mehr oder weniger. Dies gilt besonders für Gedichte, da hier nicht nur auf den Inhalt, sondern in weit stärkerem Maße als bei Prosa auch auf formale Gestaltung geachtet werden muss, sofern nicht eine möglichst exakte Interlinear-Übersetzung gefordert wird. Hier als Beispiel ein Verändern des Inhaltes, das ganz gezielt stattfindet und seine Begründungen in einem extremen Wechsel des räumlichen und vor allem des zeitlichen Kulturhorizontes hat.

Die erste Strophe des ersten Sonetts im Canzoniere Petrarcas lautet:

Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono
di quei sospiri ond’io nudriva ’l core
in su ’l mio primo giovenile errore,
quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono;

Daraus wurde bei mir, mit Beibehaltung der Reimform und des Rhythmus:

Kein Stein, auf dem ich sitze, keine Pforte
Zur Unterwelt. Nur dies: die Tastatur, das Rauschen
Des Speichers, keine Seufzer, nur das Tauschen
Der Silben mit Vergangenheit an andrem Orte;

Während ich also bei einem wesentlichen Merkmal von Lyrik, Reim und Rhythmus, nicht eingegriffen habe, sind die Inhalte auf den ersten Blick "weit hergeholt", sofern sie als Übersetzung verstanden werden sollen. "Kein Stein" - dies meint den Stein des Walther von der Vogelweide; "keine Pforte" - angespielt wird auf die Pforte Dantes in der "Divina comedia" mit der Inschrift "lasciate ogni speranza, voi ch'entrate". Und doch ist das inhaltliche Bezugsfeld gleich geblieben, es geht um Lyrikproduktion und ihren Bezug zum Publikum. Walther von der Vogelweide wendet sich mit "ich saz uf einem steine" in ganz ähnlicher Weise an sein Publikum wie Petrarca mit seinem Canzoniere-Auftakt "Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono".

Meine Übertragung mit deutlich markierter Distanz zur Geschichte und ihren unmittelbar der Gegenwart entnommenen Bildern (Tastatur/Speicher: PC) könnte als Resignation vor dem Originaltext aufgefasst werden, als Verzicht auf jede Übersetzung. Und in der Tat bin ich der Auffassung, dass Gedichtübersetzungen stets ein Moment von Resignation enthalten, enthalten müssen. Die Resignation, die sagt: Wenn euch das Gedicht interessiert, dann lest bitte den Originaltext. Jede Übersetzung kann bestenfalls helfen, den Originaltext angemessener zu verstehen, seinen Eigenwert anzuerkennen und zugleich eine Brücke zum Verständnishorizont der Gegenwart zu schlagen. Wenn sie das leistet, ist sie gut.



Übersetzungsproblem Reimform

Die Reimform schafft spezielle Übersetzungsprobleme für die Übersetzung in Sprachen, die in der Vokal- und Wortendungsstruktur erheblich von der Ausgangssprache abweichen. Nehmen wir das Wort "Liebe", das gerne in Laiengedichten auftaucht. Die englische Entsprechung ist "love" - ein einsilbiges Wort, wie viele englische Wörter, es hat somit eine Hebung am Ende (der zugleich Anfang ist), nicht eine Senkung, wie "Liebe". Es kann also nicht für einen weiblichen Reim eingesetzt werden. Was für Liebesgedichte erhebliche rhythmische und reimliche Bedeutung hat! Nehmen wir eine weitere, ähnliche Situation zur Veranschaulichung: dem deutschen "Kummer" (gerne gereimt auf "Schlummer"). Im Englischen entspricht ihm "grief".

Reimformen beeinflussen die Wirkung eines Gedichtes erheblich. Dazu ein Beispiel aus dem Canzoniere Petrarcas. Als ein Spezifikum des Petrarcaschen Stils werden die "umarmenden Reime" (abba) angesehen, die zum getragen-gehobenen Ton dieser Lyrik beitragen. Das häufig zitierte erste Quartett des ersten Sonetts im Canzoniere lautet:

Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono
di quei sospiri ond’io nudriva ’l core
in su ’l mio primo giovenile errore,
quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono;

Daraus könnte im Deutschen werden:

Ihr hört mir zu, zeugt, wie in dürren Reimen
Mit denen ich den tauben Schmerz ernähre
Ich mich nach einem Jugendbild verzehre
Von mir, den ich verkenne im Geheimen;

Bei einem ersten Entwurf hatte ich jedoch eher spontan und ohne auf die Reimvorgabe zu achten geschrieben:

Ihr hört mir zu, zeugt, wie in dürren Reimen
Ich mich zerquäle, depressiv zu scheinen
Dabei häng' ich dem pubertären Traumbild nach
Das mir kein Herz, nur meinen Rücken brach;

Das ist nicht nur inhaltlich näher an der Gegenwart geschrieben, das klingt auch durch die Paarreime "moderner", auch wenn diese Reimform vor allem in der mittelalterlichen Erzähldichtung verwendet wurde. "Moderner" heißt hier also: erzählend, sachlich-didaktisch orientiert. An diesem Beispiel zeigt sich bereits, wie unterschiedliche Reimmuster den Ton einer Dichtung vollkommen verändern können, eine Übersetzung "verfälschen".

Ich habe mich daher dafür entschieden, das Reimschema beizubehalten und für die letzte Fassung dies gewählt:

Kein Stein, auf dem ich sitze, keine Pforte
Zur Unterwelt. Nur dies: die Tastatur, das Rauschen
Des Speichers, keine Seufzer, nur das Tauschen
Von Silben mit Vergangenheit an andrem Orte;

Inhaltlich ist dies ganz aus dem Blick der Gegenwart verfasst, weitgehend abgelöst von der Vorlage. Doch im Reimschema wollte ich nun bewußt den Petrarcaschen Ton bewahren. Um Missverständnisse zu vermeiden: Dieser letzte Übertragungsvorschlag beinhaltet keineswegs eine Deutung oder gar Kritik des Petrarcaschen Textes. Petrarcas Text ist bei dieser Übertragung Inspiration, Schreibanlass, Dialogpartner. Also nicht etwas, das ich "kommentieren" möchte. Es ging mir aber auch nicht um inhaltliche Treue, sondern um die Treue im Formalen und die Frage, was dies von der Vorlage zu bewahren vermag. Thematisch ist der sprachlich-semantische Inhalt durchaus bewahrt.




Spezielle Übersetzungsprobleme bei Sonetten

Johann Wolfgang Goethe stand dem Sonett ambivalent gegenüber. Er hat einige geschrieben, aber in seinem Gedicht "Das Sonett" klagt er, die strenge Form zwinge ihn dazu, gelegentlich "zu leimen" statt aus "ganzem Holz" zu schnitzen rsp. zu dichten rsp. zu reimen. Das könnte auch daran liegen, dass die Sonettform eben dem Italienischen weit mehr entspricht als den meisten anderen Sprachen, in denen sich Sonettdichter versucht haben.

So liegt das formale Grundproblem bei der Übertragung Petrarcascher Sonette in andere Sprachen in der Spezifik des Italienischen begründet, bei Bedarf mit weniger Silben auszukommen als etwa das Deutsche, also mehr Inhalt in eine elfsilbige Verszeile zu bekommen. Als vokalreiche Sprache bietet Italienisch ferner eine größere Fülle an Endreimen an und erlaubt weitere Verkürzungen. Dem deutschen "Ich hab(e)" mit zwei/drei Silben entspricht z.B. ein italienisches "io ho", das im Zählmaß der Verszeile bei Bedarf auf eine Silbe verkürzt werden kann zu einem gesprochenen "jo".

Die berühmte erste Zeile des ersten Sonetts im Canzoniere lautet:

Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono

Wörtlich übertragen wird daraus:

Ihr, die hört in zerstreuten Reimen den Klang

Das sind auch nur elf Silben, ist aber sprachlich unschön wegen des "die hört" statt eines "die ihr hört", inhaltlich nicht ganz korrekt, denn "ascoltare" bedeutet genau genommen "anhören" oder "zuhören", und formal unbefriedigen, da die Senkung am Zeilenende fehlt. Also müsste es besser heißen:

Ihr, die ihr anhört in zerstreuten Reimen das Klingen

Damit sind wir aber schon bei vierzehn Silben. Was mit ein Grund dafür sein könnte, dass die nicht Italienisch schreibenden Sonettdichter des Barock den Alexandriner (mit zwölf oder dreizehn Silben) statt des Endecasillabo (Elfsilber) bevorzugten. Während die Italiener, etwa Giambattista Marino, weiterhin den Endecasillabo pflegten. Joachim du Bellay hat allerdings für seinen Sonettzyklus "L'Olive" (die erste Sonettsammlung in französischer Sprache) den Zehnsilber gewählt - der Besonderheit des Französischen folgend, die Endsilben zu betonen, was es unmöglich macht, den Rhythmus der Petrarcaschen Sonettzeile (mit einer Senkung/weiblichem, klingendem Reim am Ende) ganz zu übernehmen.

In gängigen deutschen Übersetzungen wird für diese erste Zeile angeboten:

Ihr, die ihr hört in manch zerstreuter Zeile (A. W. Schlegel)
Zu euch, ihr Freunde, flattern diese Lieder (Leo Graf Lanckoronski)

Die Übersetzung von Tony Kline ins Englische lautet:

You who hear the sound, in scattered rhymes

Dies zeigt, wie die Vorgabe des italienischen Rhythmus- und Reimschemas im Sonett die Übersetzungen in andere Sprachen erheblich einschränkt bzw. wie sie nur unter großen Schwierigkeiten oder gar nicht übernommen werden kann in andere Sprachen.



Maschinelles Übersetzen

Die Renaissance hatte im europäischen Kulturkreis zum ersten Mal Maschinen konstruiert, die wesentlich menschliche Funktionen übernehmen oder doch zumindest nachahmen sollten. Berühmt ist etwa der künstliche Klosterbruder des Albertus Magnus. Im Straßburger Münster wurde als Meisterwerk der Uhrmacherkunst im 15. Jahrhundert eine bewegliche Figurengruppe um Maria und Jesuskind aufgebaut. Einer der Ursprünge des "L'homme machine" (Julien Offray de La Mettrie, 1747) liegt hier.

Das maschinelle Sprechen und Übersetzen kam als Konzept jedoch erst im 17. Jahrhundert auf, als der Universalgelehrte Johann Joachim Becher und andere die Idee einer Universalsprache entwarfen, die in Zahlen kodiert sei (s. Andreas Gardt, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland). Petrarca stellt jedoch gerade im Canzoniere bereits einige Vorstellungen zur Verfügung, die dem Konzept vorarbeiten. So etwa im Sonett Nr. 32 (Text XL), wo er seine eigene Schreibarbeit thematisiert und dafür die Bilder "tela" (Gewebe), "accoppiare" (zusammenfügen) sowie "filo" (Faden) verwendet.

Inzwischen gibt es mit Systran und Google Translate zwei öffentlich frei nutzbare Übersetzungstools, die demonstrieren, was auf der Basis maschinellen Übersetzens bereits möglich ist. An Lyrik scheitern beide Systeme jedoch kläglich - auch wenn ihre Produkte durchaus mit einem eigentümlichen poetischen Ton aufwarten können.

Ich zeige dies am Beispiel des Textes XL aus dem Canzoniere. Außen links steht der Originaltext, dann folgt, was das Biedermeier (Karl August Förster), und was Google Translate (Oktober 2012) aus dem Petrarca-Text machen. Meine eigene Übertragung (nicht Übersetzung!) finden Sie in der vierten Spalte, außen rechts.

Dass die maschinelle Übersetzung bereits am Wortschatz scheitert, lässt sich problemlos beheben - und diese Mängel sind in aufwendiger ausgestatteten kommerziellen Tools sicherlich weniger gravierend. Vorläufig unüberwindbar sind jedoch die Übersetzungsprobleme, die durch die semantischen Kapriolen entstehen, die Lyrik mit Inversionen, Elisionen, Ellipsen, Neubildungen und andere Stilmittel schlägt. Und die Übertragung von Rhythmus und Reim dürfte Maschinen wohl auf immer überfordern. Oder anders: Sollten dies Maschinen je leisten, werden wir wohl Probleme haben damit, sie noch als Maschinen zu begreifen.

Das maschinelle Vorlesen - in Google Translate z.B. integriert - hat inzwischen allerdings eine auch für Lyrik beachtliche Qualität erreicht und kann die eigene fremdsprachige Lektüre durchaus gelegentlich bereichern und das Erlernen der Aussprache unterstützen.



Francesco Petrarca

S’Amore o Morte non dà qualche stroppio
a la tela novella ch’ora ordisco,
e s’io mi svolvo dal tenace visco,
mentre che l’un coll’altro vero accoppio,

i’ farò forse un mio lavor sì doppio
tra lo stil de’ moderni e ’l sermon prisco,
che, paventosamente a dirlo ardisco,
infin a Roma n’udirai lo scoppio.

Ma però che mi manca a fornir l’opra
alquanto de le fila benedette
ch’avanzaro a quel mio diletto padre,

perchè tien’ verso me le man’ sì strette,
contra tua usanza? I’ prego che tu l’opra,
e vedrai rïuscir cose leggiadre.

Karl August Förster

Wenn Lieb und Tod nicht hindern das Gelingen
Neuen Gewebes, das ich jetzt beginne,
Und ich dem zähen Vogelleim entrinne,
Da ich Zwiefaches will in eins verschlingen,

Werd ich vielleicht ein Doppelwerk vollbringen
Bei neu- und altem Stile mitten inne,
Daß (Bangen fast bei solchem Wort die Sinne)
Sein Brausen bis zu dir nach Rom wird dringen.

Nun aber, da mir fehlt, das Werk zu enden,
Etwas von den gebenedeiten Fäden,
Die halfen jenem meinem lieben Vater;

Warum empfang ich nichts von deinen Händen,
Die sonst so mild? O sei du mir Berater,
Und keimen wirst du sehn viel holde Reden.

Google Translate

Wenn die Liebe oder Tod gibt keine stroppio
auf die Leinwand News ch'ora ordisco,
Und wenn ich svolvo mich durch die zähe viskose,
während das Paar mit einem coll'altro wahr,

die "vielleicht werde ich doppelt meine Lavor yes
zwischen stil de 'modern' prisco die Predigt,
dass paventosamente wage zu sagen,
infin Rome n'udirai platzen.

Aber da fehlt mir in stellt die Tat
etwas aus den Reihen gesegnet
ch'avanzaro dann mein geliebter Vater,

weil tien 'mir die Menschen so eng,
gegen Ihre eigene? Ich bete, dass Sie die Tat,
rïuscir anmutig und Dinge sehen.

Hartmut Schönherr

Amore, Morte, siebter Himmel, Hölle
War gestern, heute schreibe ich Bilanzen
Und lasse meine beiden Freunde tanzen
Zum postmodernen Tango der Gewölle.

Wenn alles gut geht, spare ich die Zölle
Und schicke dir den neuen Stoff zum Ganzen
Bis hin nach Babylon umsonst, im Ranzen
Der neuen Schule hungrig-armer Völle.

Und du musst mir im Gegenzug schnell schicken
Vom alten Zausel seine Gott-Gedanken
Damit ich damit mein Gewebe rahme.

Der Mann im hohen Berg sieht mich schon wanken
Zu ihm in untertänigstem Verzücken
Und endlich schass' ich jene schnöde Dame!



Reparaturen von Gedichten

Jede Übersetzung ist auch Reparatur insofern, als sie einen Text wieder "brauchbarer" macht für eine Zeit, die den Wortschatz und den Bedeutungskontext des Originaltextes verloren/vergessen hat. Das mag zunächst überraschen, betrifft eine Übersetzung doch gar nicht die Ausgangssprache, sondern eine "Fremdsprache". Doch der fremdsprachige Übersetzer muss sich mit dem Text in einer Mühe beschäftigen, die der - vermeintliche - Muttersprachler (denn natürlich war das Italienische Petrarcas ein anderes als das Berlusconis) in der Regel nicht auf sich nimmt. Ich persönlich lerne sehr viel über deutsche Gedichte durch die Lektüre von Übersetzungen dieser Gedichte in andere Sprachen.

Doch gemach, von dieser Art "Reparatur" sei hier nicht weiter die Rede. Ich möchte vielmehr aufmerksam machen auf den erstaunlichen Umstand, dass es bisweilen nur ein einziges Wort ist, das ein gutes Gedicht von einem schlechten unterscheidet. Nehmen wir einmal die berühmte erste Strophe aus einem Gedicht von Eichendorff:

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmel
Von ihm nun träumen müsst'.

Hoppla, da stimmt doch etwas nicht? Das ist doch wohl ein schlechtes Gedicht, das ist doch keineswegs Eichendorff. Und richtig, hier steht "Blütenschimmel" statt - wie im Original - "Blütenschimmer". Und das klingt schräg, banal, unprofessionell. Dabei reimt sich "Schimmel" doch wunderbar auf "Himmel". Also müsste dieses Gedicht (diese Strophe genau genommen) doch besser sein als das, was Eichendorff anscheinend "schlecht" gereimt hat? Zumal Mondlicht einen weißen, schimmelartigen Schein über die Landschaft gießt, was das Wort wunderbar rechtfertigt? Aber nein, auch hier gilt wieder einmal: Mehr ist weniger. Der im Original hart an der Schnulze vorbeischrammende Text beweist seine Qualität gerade darin, dass er hier auf einen glatten Reim verzichtet, eine Reibung konstruiert. Und auch darin, dass er um eines billigen Reimes wegen nicht in Kauf nimmt, ein stilistisch unpassendes Wort zu wählen. Angeboten hätte sich auch "Blühgebimmel". Ja, schrecklich, in der Tat!

Das gleiche Gedicht ließe sich im übrigen auch rhythmisch "korrigieren". "Und meine Seele spannte/Weit ihre Flügel aus" folgt nämlich nicht dem vorgegebenen Metrum. Eigentlich sollte es so oder so ähnlich lauten:

Und meine Seele spannte
Die weiten Flügel aus,

Doch was Eichendorff gestaltet, ist zwar metrisch weniger genau, aber darin um Klassen besser. Die Hebung bei "weit", die eigentlich nicht vorgesehen ist vom Metrum, macht dieses "weit" eben noch wirksamer, als es schlicht semantisch ist, lässt die Seele sich schier grenzenlos ausweiten. Den gleichen Kunstgriff setzt Eichendorff gleich in der folgenen Zeile nochmals eine: "Flog durch die stillen Lande". Nicht die Regeln also machen ein Gedicht wirklich gut, sondern das Können, mit der diese Regeln in künstlerischer Gestaltung auch immer wieder aufgehoben werden.

Wer lernen möchte, seine eigenen Gedichte zu "reparieren", also besser zu machen, vielleicht sogar entscheidend besser, sollte zunächst einmal versuchen, existierende Gedichte "besser" zu machen. Bei guten Gedichten wird man dabei rasch begreifen, dass man seine Vorstellungen von einem "guten Gedicht" in Frage stellen muss. Und dass gute Gedichte erstaunlich resistent gegen "Verbesserungen" nach gutgemeinten formalen Regeln sind. Auch bei eigenen Gedichten sollten Verbesserungen nicht dem Diktat einer engen Regel unterworfen werden, sondern einer Abwägung folgen, die im Zweifelsfalle einem durch Lektüre und Übung geschulten Empfinden vertraut. Nennen wir es meinethalben "Bauchgefühl" - auch wenn daran viel Erfahrung, Wissen und Nachdenken beteiligt sind.



Bastelanleitung


Ich bin durchaus der Poeschen Auffassung, das auch Dichtung "Handwerk" sei, harte Arbeit (so Edgar Allan Poe in "The Philosophy of Composition" 1846). Oder, wie dies Thomas Alva Edison aus der Sicht des Erfinders sagte: "Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration." Wenn ich hier von einer "Bastelanleitung" spreche, dann sehe ich "Basteln" auch im "Handwerk" - als immer wieder sinnvolle und für Lernprozesse hilfreiche Tätigkeit. Und als eine Möglichkeit, mit Lyrik ähnlich bereichernde Erfahrungen zu machen wie etwa mit der Bleistiftskizze einer Urlaubslandschaft - die wir ja auch nicht im Anspruch machen, nun gleich Maler zu werden.

1. Lassen Sie sich Zeit. Sammeln Sie Bilder, mal mit geschlossenen Augen träumend, mal hart arbeitend in gezielter Lektüre und Überlegung. Gehen Sie dabei immer von der Sprache aus, von dem, was Sie an Textmaterial schon haben. Und nicht von einem Ziel, wo Sie hin möchten. Gedichte sind keine Essays zu einem Thema. Häufig beginnen sie mit einem einzelnen Reim, der uns anzieht, einer Wortfügung, einer Zeile, einem Satz. Einem sprachlichen Gebilde, von dem wir meinen, es habe eine besondere Bedeutung.

2. Wenn Sie reimen möchten, konsultieren Sie Reimlexika, lesen Sie andere gereimte Texte, die Ihnen gefallen. Machen Sie Reimlisten zu Wörtern/Bildern, die Ihnen zu Ihrem Vorhaben passend scheinen und die Sie am Ende einer Zeile haben möchten. Manches gute Gedicht hat seine Existenz als Reimgerüst begonnen. Die dazu gehörigen Zeilen kamen dann dazu. Suchen Sie einmal nicht Wörter für einen Inhalt, sondern einen Inhalt für Wörter. Sie werden überrascht sein.

3. Kleben Sie nicht zu eng an Ihrer eigenen Vorstellung davon, wie das Gedicht weitergehen sollte, lassen Sie auch die Bilder, die sich assoziativ einstellen, und die Reimgruppen an Ihrem Text mitarbeiten. Lassen Sie ein stückweit zu, dass ein Gedicht, poetisch gesprochen: "Sich selber schreibt". Helfen Sie ihm dabei. Das kann anstrengender, vor allem aber auch lehrreicher sein als "nur" einer eigenen Inspiration zu folgen.

4. Versuchen Sie, einen Rhythmus zu finden, der zu Ihrem Text, zu ihren Bildern passt. Summen Sie ihn, tanzen Sie ihn, hören Sie ihn innerlich, sprechen Sie ihn mit sinnlosen Silben, das kann auch einfach nur "da da Da da, Da da Da" sein. Notieren Sie sich diesen Rhythmus, suchen Sie die Wörter dazu, das was aus dem schon Vorhandenen dazu passt.




Kontrafaktur

Das Feld der Kontrafakturen ist weit, reicht von der spöttischen Parodie bis hin zur ehrfurchtsvollen Verneigung vor dem Vorbild. Die am häufigsten parodierten Gedichte deutscher Sprache sind Schillers "Lied von der Glocke" und Goethes "Ein Gleiches", letzteres bekannt auch als "Wandrers Nachtlied" Nummer zwei.

Am radikalsten ist wohl Christian Morgensterns Parodie "Fisches Nachtgesang", die Anzahl der Zeichen entspricht der Anzahl der Silben in Goethes Text (ohne Titel), nimmt man "Vöglein" oder "Vögel" statt "Vögelein" - wofür es jeweils Überlieferungslinien gibt. Morgensterns Titel lautete: "Fisches Nachtgesang: das tiefste deutsche Gedicht".

Am anderen Ende des Spektrums wird es schwierig, die Kontrafaktur einerseits gegen das Plagiat, andererseits gegen die eigenständige Leistung abzugrenzen. Erinnern wir uns etwa daran, das Goethes bekanntes "Nähe des Geliebten" auf einen Text von Friederike Brun, "Ich denke dein", zurückgeht - woraus Goethe nie ein Geheimnis machte.

Parodien haben die "ernste" Lyrik stets begleitet, wie es scheint. Der Minnesang wurde fleißig parodiert, auch von seinen namhaften Vertretern. Dabei traten Motive auf, die im späteren Antipetrarkismus wiederkehrten, etwa die Wendung gegen die Fernliebe zugunsten drastisch vorgestellter körperlicher Erfüllung oder die Charakterisierung der Geliebten als überspannt, kapriziös, egozentrisch. Im Barock - Blütezeit des Antipetrarkismus - wurden menschliche Schwächen aufs Korn genommen, die Aufklärung kritisierte voraufgegangene oder zeitgleiche gefühlsbetonte Lyrikströmungen, in Klassik und Romantik finden wir zuhauf satirischen Überschwang, auch mit deutlich gesellschaftskritischen Tönen.

Im 19. und 20. Jahrhundert wurden vor allem die gesellschaftskritische Satire, aber auch freche Nonsense-Parodien gepflegt. Die innerliterarische Parodie trat dem gegenüber zurück, ohne ganz zu verschwinden. So schrieb Peter Rühmkorf sein "Lied der Naturlyriker" - wobei es schwer fällt, ernstzunehmende Lyriker zu benennen, die er meinen könnte. Er scheint sich doch eher auf einen bestimmten Lebensstil, einstmals gerne charakterisiert durch Birkenstock-Sandalen und Müsli, spöttisch zu beziehen.

Im 21. Jahrhundert entschwindet dann vollends ein Kanon, auf den parodistisch Bezug genommen werden könnte. Wenn die Lyrik von Günter Grass in einer Satirezeitschrift parodiert wird, so hat dies kaum über die Tagesaktualität hinaus Bedeutung. Spielerisch werden im Feuilleton, auch durch Leser, Gedichte der Weltliteratur "umgeschrieben", wobei Respekt, postmoderne Forschheit und spöttische Distanz munter ineinander gehen und reizvolle Werke entstehen lassen wie den "Vorfrühling" von Rainhard Roscher, der sich vor Georg Trakl und dem Expressionismus insgesamt verneigt.



Gottfried Finckelthaus: Er entsaget der Liebe (1645)
(Martin Opitz: Ode XVIII)


Ich empfinde fast ein Grauen,
Daß ich, Liebe, für und für
Bin gewesen eigen dir.
Es ist Zeit, einmal zu schauen,
Was doch meine Bücher machen,
Die ich lange nicht gesehn:
Alles soll beiseite gehn
Von den süßen Liebessachen.

Wozu dienet doch das Lieben,
Als zu lauter Ungemach:
Unterdes verschießt die Bach
Unsers Lebens mit Betrüben.
Keiner wird es erstlich innen,
Bis das süße Seelengift
Unser junges Herze trifft:
Welcher wird ihr denn entrinnen?

Holla, Junger, geh' und siehe,
Wo die Federn mögen sein.
Hole Tinten vor den Wein.
Morgen will ich aufsein frühe.
Ich will aller Lieb indessen,
Aller schönen Damen Gunst,
Und der bitter süßen Brunst
Der verdammten Lust vergessen.

Ich will mich itzt setzen nieder.
Lasse niemand ein zu mir
Und verschließe fest die Tür:
Alle meine Buhlenlieder
Sollen gänzlich sich verlieren.
Dieser Tag und diese Nacht
Soll von mir sein zugebracht
Nur mit Lesen und Studieren.


Ludwig Christoph Heinrich Hölty:
Petrarchische Bettlerode (1774)


Wenn mit leisen Hutfilzsöckchen
Meine braune Trutschel geht,
Und ihr rothes Büffelröckchen
Um die dicken Schinken weht,
Über Zäune, Steg und Brücken,
Jeden ausgeschlagnen Tag,
Humpl' ich dann auf beiden Krücken
Ihr mit Sack und Packe nach.

Wär ich nur ein Dorn der Hecke,
Welche schlau ihr Röckchen ritzt!
Nur ein Tröpfchen von dem Drecke,
Der an ihre Waden spritzt!
Wär ich nur das Fledermäuschen,
Das um ihre Mütze schwirrt!
Nur das kleine Silberläuschen,
Das von Ohr zu Ohr ihr irrt!

Wüßt ich hübsche Liebesstückchen,
Lustig, wie des Kukuks Schall;
Ach! Dann hörte mich mein Fieckchen
Abends an des Amtmanns Stall!
Schmauchten mich nur ihre Lippen
Als ein Paffchen Krolltoback!
Oder drückt' an ihre Rippen
Sie mich als den Dudelsack!

Könnt' ich als ein Kamm ihr dienen,
Wenn sie hinterm Zaun sich kämmt!
Könnt' ich an dem Teiche grünen,
Wo sie ihre Glieder schwemmt!
Wär' ich doch auf Veltens Diele,
Schatz, für dich ein Bündel Stroh!
Nagt' ich, ach! mit süßem Spiele
Dir dein Leder, als ein Floh!

Würde doch von Niklas Mutter,
Durch den alten Teufelstext
Und ein Stücklein Hexenbutter,
Dir ein Traum von mir gehext!
Schmunzelnd in dem Schlafe, drücke,
Fest mein Bild mit einem Schmaz!
Morgens trabst bey meiner Krücke
Du einher, und bist mein Schatz!



Christian Morgenstern: Fisches Nachtgesang (1895)
(J.W. Goethe: Wandrers Nachtlied)


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Rainhard Roscher: Vorfrühling (2010)
(Georg Trakl: Ein Herbstabend)


dem Wind fällt Unfug ein, lässt laue Lüfte wehen

den Menschen friert´s nicht mehr an ihren kalten Zehen

und auch die Sohlen an den Schuhen – alle Achtung!

haben vielerorts schon wieder gute Haftung

allüberall ein Übergang zum Nichtmehrsein

der Menschen Sprachen werden farbiger und bunter,
die Amsel lacht im Busch die Kehle rauf und runter

warm fallen Winde ein, das macht die Menschen kirre

bald zeigen Frauen wieder Bein, das Einsame,

das bleibt zu Hause eingeschlossen, an den Hemden

sind die Kragen meistens offen, das Eigene

wird hell und weit, die Stirn wird seltner runzelig

geschoben und der Frage Blick nach oben

hält Ausschau nach Vögeln, welche ferngezogen




ein blick in die werkstatt


Wie habe ich selbst gearbeitet, als ich Petrarcasche Sonette als Anregung eigener Texte nutzte? Ich zeige das am Beispiel des Sonetts vom 2. September 2012. Das war ein ruhiger Sonntag, ich hatte die Muße, in mehreren Schritten detailliert zu arbeiten.

Am Anfang steht der Text von Petrarca, das zweite Sonett aus dem Canzoniere (II), in welchem das "Ich" (von den Literaturwissenschaftlern "lyrisches Ich" genannt) vom Beginn seiner Liebe berichtet, wie ihn "Amors Pfeil" zum ersten Mal traf. Zum Originaltext habe ich noch die englische Übersetzung von A. S. (Tony) Kline beigezogen, außerdem zwei Sonette von Joachim du Bellay aus "L'Olive" (XXII und XXIII - wobei XXII als Übertragung von und Kommentar zu Canzoniere II gelesen werden kann).

07:23

Die Schlacht ruft aus der alten Heere Zauder
Von Rache und Begehren tausendfacher

Mit einem Schuss erledigt er tausendfach Beleidgen

Ahndung Amor Sexboy Lahmung
viel
lauter.

Neue Knöpfe braucht das Land

Die erste Skizze bleibt noch nahe an Petrarca, verstärkt jedoch dessen Tendenz, den Liebesgott Amor zu bedrohlich aggressiver Größe aufzubauen.

10:09

Die Schlacht ruft aus der diese Welt am Kreisen
Hält. Mit einem Schuss.

Mit einem Schuss erledigt er tausendfach Beleidgen

alten Heere Zaudrer
Von Rache und Begehren tausendfacher

Ahndung Amor Sexboy Lahmung
viel
lauter.

Ziegen        Qui Gong

Die zweite Skizze erinnert lautlich an die enge Beziehung des Liebesgottes zur Reproduktion ("Kreisen" - Lebenskreislauf, kreißen=gebären). Verstärkt wird der bildliche Bezug zu Shiva, dem hinduistischen Gott von Geburt und Sterben, der auch das Attribut Pfeil und Bogen trug - allerdings gibt es im Hinduismus eine eigene untergeordnete Liebesgottheit, Kamadeva, gleichfalls mit Pfeil und Bogen ausgestattet. Ich notiere schon mal das Motiv der "Ziegen" , altes Fruchtbarkeitssymbol und eng mit weniger idyllischen Liebesgottheiten der Antike wie Dionysos oder dem Halbgott Pan verbunden. 

10:52


Die Schlacht ruft aus der diese Welt am Kreisen
Hält. Mit einem Schuss. Und tausendfach fällt Myrte
Vor ihm nieder, Gott Amor, Ziegenhirte
Homöopath der Pfeile, weißen Geißen.

Ich wartete lange, Ort und Zeit gabst du in leisen
Botschaften aus der alten Welt, die Noahtaube girrte
Als mich dein Ruf traf, mich, den armen Wirte
Den nach der Zeit die Zeiger preisen

Geschichten sind erzählt, wir sitzen
An Feuern aus den Stühlen unsrer Küchen
Und warten lange auf das Vergessen

schnitzen ritzen blitzen
Gerüchen
Hilfe Essen

Altane Platane Kaftane Banane Safrane plane ahne

Kreisen heißen beißen Steißen leisen Meisen weißen Geißen

Amor Ziege Horn Akupunktur Qui Gong Meridiane

Der Text entwickelt sich nun zügig, zum Bilderkreis Liebe-Sexualität-Reproduktion tritt die "Myrte", antikes Symbol einer den Tod überdauernden Liebe. Mit der Benennung "Homöopath der Pfeile" für Amor wird der Themenkreis "Heilen durch Stiche" eingebracht. Amors Pfeil kann tödlich verletzen, aber auch heilen - ein Motiv, dass bei Petrarca selbst erst sehr spät auftaucht und dann eher im Sinne von "Heilen durch Entsagen". Die Quartette stehen nun grob, von den Terzetten gibt es einen ersten Entwurf mit einem Reimschema.

18:43

Die Schlacht ruft aus, der diese Welt am Kreisen
Hält. Mit einem Schuss. Und tausendfach fällt Myrte
Vor ihm nieder, Gott Amor, Ziegenhirte
Homöopath der Pfeile, weißer Geißen.

Ich harrte, Ort und Zeit gab er in leisen
Botschaften aus, die Noahtaube girrte
Als mich sein Zeiger traf, mein Auge flirrte
Am Lido wo die Eisenarchen gleißen.

Das tat er einmal, zweimal bis ich wusste
Sein Spiel war falsch, weil ich die Regeln kannte
Und gegen ihn zu spielen mich versuchte,

musste
rannte
verfluchte

Bis ich verstand, ich war am falschen Orte
Der kleine Schelm hat nur sein Spiel getrieben
Mit Plastikpfeilen

Und hieß mich mit AIDA reisen.

dem armen Wirte
Gab ich das Zeichen
Die Zeiger von der Uhr Den nach der Zeit die Zeiger preisen

Du hast den Pfeil zurückgenommen ohne Worte
Da war es schon zu spät

Nach einer längeren Pause geht es am Abend weiter. Der Genitiv zu "weiße Geißen" wird als "weißer Geißen" stärker verknappt und dreifach beziehbar: "Ziegenhirte weißer Geißen" und/oder "Homöopath weißer Geißen" und/oder "Gott Amor weißer Geißen". Das zweite Quartett wird inhaltlich noch stärker auf den Bildkreis "Arche Noah" konzentriert. Verbunden wird das mit dem Amor-Eros-Thema des ersten Quartetts durch die Anspielungen auf die Stadt der Verliebten, aber auch Casanovas, Venedig ("Lido"), und auf den Kreuzfahrten-Titanic-Mythos ("Eisenarchen"). Evoziert werden auch die Kreuzfahrtschiffe, die gigantisch vor dem Markusplatz Venedig auffahren. Zu den Terzetten gibt es einen vollkommen neuen Entwurf, der gegen Petrarcas Stilisierung der Einzigartigkeit das Casanova-Motiv  ("einmal, zweimal", "gegen ihn zu spielen") stärkt.

19:08

Die Schlacht ruft aus, der diese Welt am Kreisen
Hält. Mit einem Schuss. Und tausendfach fällt Myrte
Vor ihm nieder, Gott Amor, Ziegenhirte
Homöopath der Pfeile, weißer Geißen.

Ich harrte, Ort und Zeit gab man in leisen
Botschaften aus, die Noahtaube girrte
Als mich sein Zeiger traf, mein Auge flirrte
Am Lido wo die Eisenarchen gleißen.

Das tat er einmal, zweimal bis ich wusste
Sein Spiel war falsch, weil ich die Regeln kannte
Und gegen ihn zu spielen mich versuchte,

Die Pfeile steckten tief, verhakt, ich musste
Mich ihrer reißend beißend wehren, rannte
Zum Berg wo ich die Einsamkeit verfluchte.

Und dann ist der Text auch schon weitgehend abgeschlossen. Im zweiten Quartett habe ich "er" zu "man" geändert - Amor hat Zuträger, Mittelsmänner, Leute, die für ihn "Gerede" produzieren, Intrigen, geheime Zusammenkünfte. Das zweite Terzett ließ sich gut mit dem vorgegebenen Reimschema entwickeln. Vor der Einstellung ins Netz ändere ich noch das harsche "verfluchte" zu einem sanften "besuchte". Es ist eben kaum mehr möglich, im 21. Jahrhundert noch "die Einsamkeit verfluchen" zu schreiben, auch wenn der Reim danach ruft.




Frauenlob - Vier Gedichte

Die ferne, unerreichbare Geliebte ist ein Motiv der männlichen Literatur seit dem Minnesang. In der Antike wurde das übergeordnete Thema der Liebesbeziehung eher von Frau zu Frau (Sappho) oder von Mann zu Mann (Pindar) eingesetzt. Hier könnte also ein Motiv liegen, das Mittelalter und Neuzeit verbindet und gegen die Antike abhebt. Mich interessiert allerdings, mit Blick auf Petrarca und Trakl, die auf meiner Website im Vordergrund stehen, eine Differenz, die Petrarca mit Trakl gemeinsam von der Lyrik des Mittelalters unterscheidet.

Der Minnesang ist die Lyrik des Mittelalters, die im Blick auf Petrarca und Trakl besonders relevant ist. Hier erscheint eine ganze Schar von Frauen, die aus der Ferne verehrt und angeschmachtet werden. Allerdings handelt es sich dabei vorwiegend um Frauen, die der Sänger stellvertretend für ihren Ehemann anbetet, als Auftragnehmer gleichsam. Daneben gibt es eine Vielzahl an Liedern/Gedichten, in denen Liebeserfüllung besungen oder doch zumindest in Aussicht gestellt wird. Damit ist mit Petrarca Schluß, das Thema "Erfüllung" interessiert die "hohe" Lyrik nicht mehr, damit kann sich fortan der Gassenhauer befassen, die Volksdichtung in der Nachfolge der Vagantenlyrik.

Auch im Petrarkismus gibt es eine Strömung, die erfüllte Liebe darstellt, in der die Besungene auch die Ehefrau sein kann - oder, im weiblichen Petrarkismus, der Ehemann. Doch mustergebend bleibt bis hinein ins 19. Jahrhundert Petrarca selbst mit den Liedern auf eine unerfüllte Liebe. Selbst Heinrich Heine zehrt davon noch, mit viel Ironie versetzt. Vor allem aber Charles Baudelaire, einer der maßgeblichen Lyriker des 19. Jahrhunderts und prägende Kraft des französischen Symbolismus, erscheint in dieser Hinsicht als ein später Nachfolger Petrarcas. Alle einzelnen Motive und Bilder seines Gedichtes "A une passante" finden sich auch im Canzoniere, mit Ausnahme von Bildern, die für Petrarca noch nicht zur Verfügung standen wie die "rue assourdissante". Dass Baudelaire die Sonettform wählte, kann als bewußte Reverenz vor Petrarca verstanden werden.

Trakl verbindet die Sonettform in seinen Gedichten nicht mit Petrarcaschen Themen. Es gibt auch (anders als bei Baudelaire) keinen Hinweis, dass er Petrarcas Werk genauer kannte. Aber das Thema der unerreichbaren Geliebten, bei ihm stärker als bei Petrarca nicht nur mit Leid, sondern auch mit Schuld verbunden, schließt ihn an die von Petrarca - im Anschluss an die sizilianische Dichterschule und Dante - begründete Tradition an. Dass er Baudelaires "A une passante" in einem eigenen Text aufgreift, fügt sich in diesen Kontext. Weitere Essays, Daten, Fakten, Deutungen zu Georg Trakl.


Heinrich von Morungen
Vil süeziu senftiu toeterinne (um 1215)

Vil süeziu senftiu toeterinne,
war umbe welt ir toeten mir den lîp,
und ich íuch sô herzeclîchen minne,
zwâre vróuwè, vür elliu wîp?
Waenent ir, ob ir mich toetet,
daz ich iuch iemer mêr beschouwe?
nein, iuwer minne hât mich des ernoetet,
daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe.
sol mir hie niht guot geschehen
von iuwerm werden lîbe,
sô muoz mîn sêle iu des verjehen,
daz iuwerre sêle dienet dort als
einem reinen wîbe.



Francesco Petrarca
Canzoniere III (vor 1374)

Era il giorno ch’al sol si scoloraro
per la pietà del suo Fattore i rai,
quando i’ fui preso, e non me ne guardai,
che i be’ vostr’occhi, Donna, mi legaro.

Tempo non mi parea da far riparo
contra colpi d’Amor: però m’andai
secur, senza sospetto; onde i miei guai
nel commune dolor s’incominciaro.

Trovommi Amor del tutto disarmato
ed aperta la via per gli occhi al core,
che di lagrime son fatti uscio e varco:

però, al mio parer, non li fu onore
ferir me de saetta in quello stato,
a voi armata non mostrar pur l’arco.



Charles Baudelaire
A une passante (1860)

La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d'une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l'ourlet ;

Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l'ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

Un éclair... puis la nuit ! - Fugitive beauté
Dont le regard m'a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l'éternité ?

Ailleurs, bien loin d'ici ! trop tard ! jamais peut-être !
Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais !


Georg Trakl
Einer Vorübergehenden (1909)

Ich hab' einst im Vorübergehn
Ein schmerzenreiches Antlitz gesehn,
Das schien mir tief und heimlich verwandt,
So gottgesandt -
Und ging vorüber und entschwand.

Ich hab' einst im Vorübergehn
Ein schmerzenreiches Antlitz gesehn,
Das hat mich gebannt,
Als hätte ich eine wiedererkannt,
Die träumend ich einst Geliebte genannt
In einem Dasein, das längst entschwand.


Augen in der Liebeslyrik

Psychologische Untersuchungen verweisen auf die besondere Bedeutung des Augenkontaktes beim Kennenlernen von Mann und Frau. Und Flirtratgeber erklären Männern auch im 21. Jahrhundert noch, lange nach Roy Black und Dorthe (die mit dem Thema, ganz zeitgemäß, 1977 fast schon ironisch und geschlechtsneutral umgehen: "Du hast so wunderschöne blaue Augen"), dass eine schmeichelhafte Bemerkung über die Augen der Frau durchaus hilfreich sei.

Seit Petrarca kommt die Liebeslyrik nicht mehr aus ohne den Preis der Augen. Das geht noch bis Heinrich Heine ungebrochen so weiter. Die Augen erscheinen dabei häufig als Lichter. Wobei Petrarca an den Augen vor allem das Sonnenhafte preist. In der Romantik werden die Augen dann als "Sterne" entdeckt.

Schon vor Petrarca fanden die Augen der Geliebten vor allem in der arabischen Liebeslyrik besondere Beachtung, während der christliche Minnesang den "roten Mund" und die "roten Wangen" in den Vordergrund stellte - die geliebten Augen allerdings durchaus auch pries (vgl. das berühmte Traumlied Walters von der Vogelweide). Die auffallende Konzentration der arabischen Liebeslyrik auf die Augen könnte ein Hinweis sein auf einen Effekt von religiös begründeter Verschleierung.

Als ein besonders berührendes Beispiel sei ein Text genannt, der die bei Petrarca und danach häufige Verbindung von Augen und Tränen in einem Text der Hamasa (6.-9. Jahrhundert, Übersetzung von Friedrich Rückert) gestaltet:

Und was mich betrübt: daß, als sie mir begegnet,
sie sich abwandt und im Aug ihr Tropfen quollen;
Dann als aus der Ferne sie nach mir sich wieder
umsah, ließ vom Schleier sie die Tropfen rollen.

Für die Verschleierung werden verschiedene Gründe angeführt in der theologischen Literatur des Islam. So habe die Verschleierung zunächst nur für die Frauen des Propheten gegolten, um dessen Eifersucht zu beruhigen. Rasch sei die Verschleierung dann zu einem Zeichen geworden, freie Frauen (verschleiert) von Sklavinnen (die sexuellen Belästigungen ohne Schutz durch die Religion ausgesetzt waren) zu unterscheiden.

Ob über Petrarca ein literarischer Effekt der Verschleierung im Islam in die europäische Liebeslyrik Eingang fand, wird kaum zu entscheiden sein. Petrarca selbst hat alles getan, mögliche Einflüsse der arabischen Lyrik auf sein Schreiben zu negieren. Und wie eingangs schon erwähnt, spielen die Augen auch unabhängig von kulturell-literarischen Einflüsse eine besondere Rolle in der Geschlechterbegegnung. Dies hat gewiss auch Einfluss auf die Bilderwelt der Liebeslyrik.




Abdallah ben Eldumeina von Chatham
(aus der Hamasa - üs. Fr. Rückert)

Wir kamen zu den Sänften, an deren Seite ritt
ein Hagrer, dessen Schulter scharf durch das Hemde schnitt.

Ein Mann, der leicht blinzelt, und drein schaut wie der Tod,
wo recht uns ohne Rückhalt sein Grimm entgegentritt.

Da schwenkten wir und grüßten, gezwungen grüßt' er uns,
indes der Grimm ihm würgend hinab die Kehle glitt.

Ich gab auf eine Weil' ihm Geleit, und wollt' es Gott,
solang ers Leben hätte, ritt ich zum Trotz ihm mit.

Und als sie keinen Rat sah, und daß er zwischen uns
ein Vorhang sei der Trennung, der keinen Zugang litt;

Da schoß sie einen Blick mir - würd' ein Gewappneter
gestreift von einem solchen, des Lebens wär er quitt -

Und einen Glanz des Auges, der Wolke Leuchtung gleich,
wenn sie zum Hochland, Regen verheißend, hinüberglitt.



Francesco Petrarca
Canzoniere CLVI (Sonetto 123)

I’ vidi in terra angelici costumi
et celesti bellezze al mondo sole,
tal che di rimembrar mi giova et dole,
ché quant’io miro par sogni, ombre et fumi;

et vidi lagrimar que’ duo bei lumi,
ch’àn fatto mille volte invidia al sole;
et udí’ sospirando dir parole
che farian gire i monti et stare i fiumi.

Amor, Senno, Valor, Pietate, et Doglia
facean piangendo un piú dolce concento
d’ogni altro che nel mondo udir si soglia;

ed era il cielo a l’armonia sí intento
che non se vedea in ramo mover foglia,
tanta dolcezza avea pien l’aere e ’l vento.



Hans Aßmann Freiherr von Abschatz
(1646-1699)

Ich leb ohne Ruh im Herzen
Von der Zeit
Da zwey schöner Augen Kerzen
Mich versezt in Traurigkeit
Von der Zeit
Leb ich stets in Schmerzen
Fühle keine Ruh im Herzen.

Keine Lust war mir zu nütze
Von der Zeit
Da der kleine Venus-Schütze
Seel und Herze mir bestreit
Von der Zeit
Leb ich stets in Schmerzen
Fühle keine Ruh im Herzen.


Heinrich Heine
Buch der Lieder - Junge Leiden 3

Im nächtgen Traum hab ich mich selbst geschaut,
In schwarzem Galafrack und seidner Weste,
Manschetten an der Hand, als gings zum Feste,
Und vor mir stand mein Liebchen, süß und traut.

Ich beugte mich und sagte: »Sind Sie Braut?
Ei! ei! so gratulier ich, meine Beste!«

Doch fast die Kehle mir zusammenpreßte

Der langgezogne, vornehm kalte Laut.

Und bittre Tränen plötzlich sich ergossen

Aus Liebchens Augen, und in Tränenwogen

Ist mir das holde Bildnis fast zerflossen.

O süße Augen, fromme Liebessterne,

Obschon ihr mir im Wachen oft gelogen,

Und auch im Traum, glaub ich euch dennoch gerne!



Poetologie des Fragments

"Rerum vulgarium fragmenta" nannte Francesco Petrarca seine einer geheimnisvollen "Laura" gewidmete Gedichtesammlung, die als "Il Canzoniere" bekannt wurde. In der deutschen Literaturwissenschaft gilt das Fragment als eine Leitmetapher der ästhetischen Moderne seit der Romantik (Eberhard Ostermann 1991). Laut Friedrich Schlegel müsse ein guter Roman Fragment bleiben. Hat Petrarca mit seinem Zyklustitel ein Programm formuliert, das die ganze Poetik der  Neuzeit, beginnend mit Petrarcas eigenem Schreiben, bis in die Gegenwart prägen sollte? Zu nennen ist in diesem Kontext auch Walter Höllerers "Theorie der modernen Lyrik" von 1965, die als Poetik in Fragmenten gestaltet ist, mit sechzig aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert zusammengetragenen poetologischen Textstücken.

Nehmen wir Petrarca als Modell, so werden wir auf eine bedeutsame Zwiespältigkeit im poetologischen Umgang mit dem Fragment aufmerksam. Während die Romantik das Fragment zelebriert und den einzelnen fragmentarischen Text für sich gelten lässt, ist bei Petrarca die Bemühung erkennbar, eine Summe von Fragmenten historisch aufzuheben. So ist bekanntlich der Canzoniere als Jahreszyklus angelegt. Die 366 Texte entsprechen der Tageszahl von Lauras Todesjahr 1348, einem Schaltjahr. In "Secretum meum" nennt Petrarca als Lebensaufgabe "sparsa anime fragmenta recolligam": "Ich will so sehr bei mir sein, wie ich es vermag, die zerstreuten Teile meiner Seele sammeln und mich bemühen, bei mir zu bleiben."

1946 schreibt Günter Eich seinen berühmten Text "Inventur", basierend auf Erfahrungen in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Dieser Text, ein Schlüsseltext der so genannten "Trümmerliteratur", versammelt in prägnanter Weise, was den Alltag eines Kriegsgefangenen dinglich ausmacht und zusammenhält:

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier ist mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

(...)

Eine ganz erstaunliche Parallelstelle haben wir bei Petrarca in einem Brief an den Dominikanermönch Giovanni Colonna über seinen Besuch in Rom (Fam. 6.2). Dort heißt es in einer umfangreichen Aufzählung unter anderem: "Hier pflügte Quinctius, als er gewürdigt wurde, vom Landmann zum Staatsmann zu werden. Von hier wurde Serranus weggeholt und zum Konsulat geführt. Dies da ist der Ianiculus, dies der Aventinus, dies der Mons Sacer. Zu ihnen zog sich das Volk dreimal im Zorn gegen die Väter zurück. Hier war das mutwillige Tribunal des Appius, hier wurde Verginia dem Eisen väterlicher Strenge entrissen, hier fand auch der Decemvir das seiner Maßlosigkeit entsprechende Ende." Und in diesem Stil geht es weiter.

Die (geschichtliche) Wirklichkeit selbst erscheint als das, was - notwendig - fragmentarisch, unabgeschlossen, unabschließbar ist. Und die Kunst muss dem entsprechen. Sie kann dies auf unterschiedliche Weise tun. Eine davon ist, Sammlungen anzulegen, Inventuren.



Vom "Buch der Lieder" zum "Buch der Bilder"

Die frühen Herausgeber des Petrarcaschen Laura-Zyklus im 16. Jahrhundert haben die von ihm "Rerum vulgarium fragmenta" genannte Sammlung als "(Il) Canzoniere" auf den Markt gebracht - und bei diesem Titel ist es bis heute geblieben. Noch Heinrich Heine zehrt von dieser erfolgreichen Findung, mit der Bezeichnung "Buch der Lieder" für sein eigenes lyrisches Hauptwerk, das von Petrarca auch die enge Verbindung von Landschaftserfahrung und Liebesschmerz übernimmt.

Bei Rainer Maria Rilke heißt es dann aber - für den in moderner Lyrik Kundigen nicht überraschend - "Buch der Bilder".  Dabei war Rilke der tradierten Vorstellung vom lyrischen Gesang keineswegs abholt. Seine "Sonette an Orpheus" - die Petrarcas lyrische Hauptform schon im Titel übernehmen - sind dem kulturhistorischen Modellgeber für die Verbindung von Lyrik und Gesang gewidmet, Orpheus. Sie tragen im Untertitel die Botschaft "Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop", eine jung verstorbene Tänzerin, Tochter einer Freundin, Freundin von Rilkes Tochter Ruth (Mutter: Clara Westhoff). Petrarcas Laura klingt an. Doch schon in dieser Widmung nimmt Rilke auch Abschied vom Petrarcaschen Modell. Nur Grabmal ist diese Sammlung, zwischen Autor/lyrischem Ich und Angesprochener gab es keine wie auch immer geartete Liebes-Beziehung. Die Beziehung entsteht erst durch die Texte post mortem und durch den Anspruch des Titels. "(...) lerne/ vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt" heißt es im 3. Sonett. Und einige Zeilen davor lesen wir: "Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes. Wann aber sind wir?"

Das "Buch der Bilder", Rilkes bedeutendste Gedichte-Sammlung, verdankt sich poetologisch der Begegnung mit dem Bildhauer Rodin und den Erfahrungen der Zeit in Worpswede, der Zeit auch seiner kurzen Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff. Der Sammlungs-Titel nennt, was für die Lyrik der Zeit um 1900 charakteristisch war, die enge Verbindung zur Bildkunst. Bekannt ist und oft benannt die Bedeutung der Bildkunst für die Literatur der Moderne. Streiten wir uns hier nicht, ob diese Moderne mit der Romantik beginne oder doch erst mit Symbolismus und Expressionismus. Für Ulrich Weisstein gilt: "Gegen Ende der Aufklärung begann die zwischen den Einzelkünsten errichtete Mauer zu zerbröckeln." (Weisstein 1992, S. 16 - "Einleitung")

Lektüreempfehlung: Ulrich Weisstein (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin: Erich Schmidt, 1992




Abstraktion in Bildkunst und Lyrik des beginnenden 20. Jahrhunderts

Richard Brinkmann, dem großen Tübinger Germanisten mit kunsthistorischem und philosophischem Hintergrund, gebührt das Verdienst, als erster nachdrücklich auf das Thema einer strukturellen Beziehung zwischen Lyrik und Bildkunst unter dem Zeichen der "Abstraktion" zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht zu haben, in seinem Vortrag „Abstrakte Lyrik“ von 1963, der 1965 gedruckt erschien.

Brinkmann zitiert Hugo Ball. Dieser erklärte am 7. April 1917 in der Zürcher Galerie DADA, die zeitgenössischen Künstler "schaffen Bilder, die keine Naturnachahmung mehr sind, sondern eine Vermehrung der Natur um neue, bisher unbekannte Erscheinungsformen und Geheimnisse". Für Brinkmann gelte dies "im Prinzip auch für die Dichtung" (S. 97). Die Dichtung insbesondere des Expressionismus löse sich von der Darstellung der Wirklichkeit ab. "Abstrakt nenne ich also eine Dichtung, die in ihrer Sprache ein eigenes Gefüge der Verknüpfung und Trennung, der Auswahl und Gliederung schafft" (S. 90).

Nun ließe sich darauf verweisen, dass diese Maler und Dichter eben nicht äußere Wirklichkeit, sondern innere und spirituelle Wirklichkeit darzustellen suchten. Dass Trakl - auch drogeninduzierte - Halluzinationen hatte (ich möchte den Ausdruck "unter Halluzinationen litt" vermeiden), ist inzwischen unbestritten. Kandinsky glaubte zumindest zeitweise an die Konstrukte von Theosophie und Anthroposophie. Was sie ganz individuell "sahen" oder zu sehen wünschten/meinten, prägte den Bildbereich ihrer Malerei bzw. ihrer Gedichte zumindest mit.

Damit sind jedoch die Bemühungen von Brinkmann nicht schlicht erledigt. Denn sowenig "realistische", "abbildende", "gegenständliche" Kunst sich darin erschöpft, das zu leisten, was auch eine blanke Fotografie (womit ich künstlerische Fotografie nicht abwerten möchte) leisten könne, so wenig erschöpfen sich die Werke Trakls und Kandinskys darin, Drogenerfahrungen oder theosophische Konzeptbildungen darzustellen. Kandinsky bestimmt als Leistung der abstrakten Malerei, eine "Mauer vor der Kunst" zu überwinden, die von der naturalistischen Malweise aufgerichtet sei (Kandinsky, Rückblick, 1955, S. 28). Er möchte, wir erinnern uns an Eichendorff, den "inneren Klang" der Dingwelt enthüllen (Kandinsky/Marc, Der Blaue Reiter, 1965, S. 161).

Lektüreempfehlung: Richard Brinkmann, ‚Abstrakte Lyrik’ im Expressionismus und die Möglichkeit symbolischer Aussage. In: Der deutsche Expressionismus, Göttingen 1970 (2. Auflage), S. 88-114



"Geistige Welt" in der Kunst um 1900

Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayer charakterisiert die moderne Kunst als Abkehr von der Transzendenz und "Verkapselung in der Immanenz" (Sedlmayr, Das Licht, 1979, S. 42). Für die moderne Dichtung kommt der Romanist Hugo Friedrich (promoviert wurde er in Germanistik) zuvor schon zu ähnlichen Einschätzungen. In seinem nach wie vor anregenden Werk "Die Struktur der modernen Lyrik" schreibt er 1956 von der "leeren Transzendenz" bei Baudelaire, Mallarme, Rimbaud und ihren Nachfolgern.

Das Stichwort von der "Geistigen Welt" begegnet explizite bei Edmund Husserl, dem Phänomenologen. Bei ihm ist der Begriff in "Die Konstitution der geistigen Welt" (1913-1917 verfasst) bezogen auf die soziale Welt der Bedeutungs- und Sinngebung. Er kann verstanden werden als Vorstufe seines Begriffes der "Lebenswelt", wie er ihn in den 20er und 30er Jahren ausprägte. Der "geistigen Welt" korreliert ist die "Geisterwelt" der Subjekte. Husserl operiert hier - und wir müssen annehmen: nicht unbewußt - mit einem Vokabular, das zeitgleich in ganz anderen Kontexten en vogue war, in spiritistischen, theosophischen, magnetistischen und ähnlichen Glaubensgemeinschaften und Zirkeln. Die Philosophie stand angesichts dieser Theoriebildungen vor einem ähnlichen Dilemma wie die Kirche, die sich mit Unterstützung der Wissenschaften um 1900 vom neuen "Aberglauben" abzusetzen suchte. Schon Kant hatte mit "Träume eines Geistersehers", seiner Auseinandersetzung mit dem Spiritisten Emanuel Swedenborg, 1766 Husserl vorgearbeitet.

Klarer wird das von Husserl wohl Gemeinte in einer Formulierung des großen Tübinger Germanisten Richard Brinkmann, der in seinem Expressionismus-Aufsatz zur "Abstraktion" (1963 erstmals vorgetragen, publiziert 1965) schreibt: "Nicht mehr um Einheit von Natur und Subjekt (gehe es ihnen, den expressionistischen Theoretikern - H.Sch.), nicht um 'Empfindung', die 'ein Sonnenuntergang' oder irgendein Phänomen der Welt in der Seele des Künstlers 'wachruft', sondern um Geist, Geistiges, jedenfalls etwas, das zuerst und nur im Menschen ist, das sein Wesen und seine Würde ausmacht und das in der Kunst seinen Ausdruck, seine 'Expression' finden soll."

Für den Bereich der Bildkunst hat Wassily Kandinsky mit seiner Publikation "Über das Geistige in der Kunst" 1911 wichtige Impulse zur Erschließung der bildkünstlerischen Abstraktion über den Begriff des "Geistigen" gegeben. Allerdings ist sein Text auch durchzogen mit Anklängen an den Spiritismus seiner Zeit. Klärend kann hier die Konfrontation mit der Begrifflichkeit Husserls wirken.




Bedeutung der Farben in der Lyrik um 1900

Wir sahen bereits, dass die Literatur um 1900 sich der Bildkunst annäherte und umgekehrt. Ein Aspekt dieser Entwicklung ist die besondere Bedeutung der Farben in der Lyrik um 1900. Ansätze zu einem betonten Einsatz von Farben in der Literatur kennen wir aus der Romantik. Denken wir etwa an die Farbe Blau bei Novalis oder an das "blaue Band" des Frühlings bei Eduard Möricke. Doch erst bei ihren Nachfolgern finden wir die Farben in semantischer Eigenständigkeit eingesetzt.

Darauf hat Jacob Steiner etwa in "Die Farben in der Lyrik von George bis Trakl" hingewiesen (Erstdruck 1984). Einen entscheidenden Schritt sieht er in der "romantischen Poetisierung der Welt" getan. Damit sei der ganzen Generation "eine Fülle von Farben, Tönen und Synästhesien, die das stimmungshafte In-Bezug-Setzen von allem mit allem ermöglichen" eröffnet (Steiner 1986, S. 87). In der Literatur um 1900 sieht der dann, über die Romantik hinausgehend, die "Emanzipation der Farbe" verwirklicht (Steiner 1986, S. 104)

Detaillierter ausgearbeitet wurde dies am Beispiel der Farbe Blau durch Angelika Overath, in ihrer umfassenden Studie "Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht", 1987 erschienen, die bei Goethe, Schiller und Novalis ansetzt, den französischen Symbolismus zu Wort kommen lässt und ihren Schwerpunkt dann in der Lyrik des beginnenden 20. Jahrhunderts hat.

Was den Gebrauch der Farben in der modernen Lyrik auszeichnet ist eine Tendenz zur verdinglichten Abstraktion, die sich abhebt von den tradierten farbensymbolischen, religiösen oder volkskulturell geprägten Verwendungen. Es gibt deutliche Parallelen zur Emanzipation der Farbe von der Form und von der Wirklichkeitsabbildung in der Bildkunst, wie sie sich in Impressionismus, Expressionismus und Abstraktion gleichermaßen um 1900 durchsetzte.

Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich überzeugende Belege vor allem im Werk Georg Trakls finden. Er steht auch darin "einzig", wie dies im bekannten Diktum von Rainer Maria Rilke zu Trakl 1915 allgemein formuliert wurde: "man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiederbringlich einzige waren", und weiter: "Trakls's Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel". Allerdings halte ich dafür, dass Trakl eben auch, in seiner offenkundigen Einzigartigkeit, eine Entwicklung artikuliert, die von allgemeiner Bedeutung ist. Sein Gebrauch der Farben steht in einem Kontext, der wohl erst mit größerem historischem Abstand gebührend verstanden werden kann.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Farben bei Trakl finden Sie auf meiner Seite zu Georg Trakl.

Lektüreempfehlung: Jacob Steiner, Die Farben in der Lyrik von George bis Trakl, in Ders.: Rilke. Vorträge und Aufsätze, Karlsruhe 1986








DEUTSCHSPRACHIGE GEDICHTE UND IHRE INTERPRETATIONEN  

Hartmann von Aue: Minne waltet grôzer kraft/Das Klagebüchlein - Hartmann von Aue: Manger grüezet mich alsô - Heinrich von Morungen: Vil süeziu senftiu toeterinne - Oswald von Wolkenstein: Wach, menschlich Tier - Martin Luther: Ein feste Burg ist unser Gott - Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg: Lebensbericht - Georg Rodolf Weckherlin: Ueber den frühen tod Fräuleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden - Martin Opitz: Trostlied - Paul Fleming: Zu Zeiten seiner Verstoßung - Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes - Andreas Gryphius: Abend - Sibylla Schwarz: An den unadelichen Adel - Sibylla Schwarz: Liebessonett - Catharina Regina von Greiffenberg: Auf die blühenden Bäume - Barthold Hinrich Brockes: Kirschblüte bei der Nacht - Christiana Mariana von Ziegler: Das männliche Geschlecht - Anna Louisa Karsch: Lob der schwarzen Kirschen - Johann Wolfgang Goethe: Wanderers Nachtlied - Johann Wolfgang Goethe: Lied der Mignon - Johann Wolfgang Goethe: Nähe des Geliebten - Sophie Albrecht: Lied auf dem Kirchhofe - Friedrich Hölderlin: An Neuffer - Friedrich Hölderlin: Wie wenn am Feiertage ... - Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens - Novalis/Friedrich von Hardenberg: Marienlied - Karoline von Günderrode: Mahomets Traum in der Wüste - Bettina von Arnim: Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! - Annette von Droste-Hülshoff: Unruhe - Heinrich Heine: Traumbilder 3 - Isolde Kurz: Nein, nicht vor mir im Staube liegen - Eduard Mörike: Erinna an Sappho - Conrad Ferdinand Meyer: Zwei Segel - Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich - Rainer Maria Rilke: Du Nachbar Gott - Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos - Rainer Maria Rilke: Die Frucht - Gottfried Benn: Kleine Aster - Georg Trakl: An die Schwester - Nelly Sachs: Du in der Nacht - Bertolt Brecht: Der Radwechsel - Günter Eich: Inventur - Christine Lavant: DIE STADT ist oben auferbaut - Paul Celan: Psalm - Elisabeth Borchers: Immer ein Anderes - Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit - Ingeborg Bachmann: Erklär mir, Liebe - Sarah Kirsch: Datum - Elke Erb: Wolken darüber - Volker Braun: Letzter Aufenthalt auf Erden - Wolf Wondratschek: In den Autos




Hartmann von Aue

Minne waltet grôzer kraft
(um 1180/85)

Minne waltet grôzer kraft,
wande sî wirt sigehaft
an tumben unde an wîsen,
an jungen unde an grîsen,
an armen unde an rîchen.
gar gewalteclîchen
betwanc sî einen jungelinc,
daz er alliu sîniu dinc
muose in ir gewalt ergeben
und nâch ir gebote leben,
so daz er ze mâze ein wîp
durch schœne sinne und durch ir lîp
minnen begunde.
dô sî im des niht gunde
daz er ir wære undertân,
sî sprach er solde sîs erlân.

Doch versuochte erz ze aller zît.
disen kumberlîchen strît
entorste er nieman gesagen:
dar umbe wolde ern eine tragen,
ob er sî des erbæte
daz sî sînen willen tæte,
daz ez verswigen wære.
er klagete sîne swære
in sînem muote
und hete in sîner huote,
sô er beste kunde,
daz es ieman befunde.

... weiter ...





Das Klagebüchlein/Die Klage


Die Liebe ist kaum zu überwinden,
wenn sie sich erst einmal durchgesetzt hat
bei Tumben und bei Weisen,
bei Jungen und bei Alten,
bei Armen und bei Reichen.
Ganz außerordentlich
hat sie einst einen Jüngling bezwungen,
so dass er all sein Sinnen
in ihre Gewalt geben musste
und nach ihrem Gebote leben,
so dass er tugendhaft eine Frau
dank ihres edlen Wesens und ihres Leibes
zu umwerben begann.
Wobei diese ihm nicht erlaubte,
dass er ihr untertan sei,
sie teilte ihm mit, er solle davon ablassen.

Doch er bemühte sich immer wieder.
Von dieser betrüblichen Auseinandersetzung
erzählte er niemandem etwas.
Und so hätte er es alleine gehalten,
wäre es ihm gelungen zu erbitten,
dass sie ihm zu Willen sei,
wo er doch verschwiegen sei.
Er klagte seinen Kummer
in seinem Inneren
und behütete ihn gut,
so konnte er sicherstellen,
dass niemand etwas davon erfuhr.




Die genauen Lebensdaten des Hartmann von Aue sind nicht überliefert. Aus den zahlreichen Verweisen auf ihn und sein Werk (etwa bei Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach) und einigen Hinweisen in seinen Texten (etwa auf Kreuzzüge) lässt sich der Zeitraum 1180 bis 1200 als Kernzeit seines Schaffens erschließen. Geboren wurde er vermutlich um 1160. Er stand als Ministral im Dienst eines Herrn von Aue und nahm an einem Kreuzzug teil, entweder 1189 oder 1197. Gestorben ist er nach 1210.

Im "Klagebüchlein" (auch "Klage" genannt), das 1.914 Verse umfasst, streiten sich Herz und Leib (lîp). Es geht um die Qualen der "Minne". Erörtert wird, wie diesen zu begegnen sei und welchen Sinn sie haben. Dabei ist für die Gegenwart von besonderer Bedeutung die Konzeption des Leibes, die eher unserer heutigen Vorstellung von "Persönlichkeit", "Charakter" entspricht (siehe etwa Verse 801f: "Lîp, dar an gedenke wol/und gebâre als ein man sol"). Dieser "lîp" beklagt sich beim Herzen, es quäle ihn mit seinem maßlosen Liebesleiden. Ähnliches finden wir etwa bei Francesco Petrarca im Sonett "Date mi pace, o duri miei pensieri" mit seiner Klage: "E tu, mio cor, ancor se' pur qual eri,/disleal a me sol" (Canzoniere CCLXXIV). Daneben aber finden wir bei Petrarca eine im Allgemeinverständnis gerne als mittelalterlich-christlich apostrophierte Leibfeindlichkeit mit der Hoffnung, dem Leib - spätestens im Tod - entfliehen zu können. Diese nicht originär mittelalterlich-christliche, sondern neuplatonische Konzeption findet sich bei Hartmann von Aue noch nicht. Augustinus war ihm fremd.

Das "Klagebüchlein" wird (wie auch sein Autor) in seiner Bedeutung gravierend unterschätzt. Erst 2015 ist bei de Gruyter eine kritische Neuauflage erschienen, nachdem frühere Ausgaben vergriffen waren. Eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche steht noch aus, lediglich eine von Thomas L. Keller erstellte und 1986 in Göppingen publizierte englische Übersetzung liegt vor. Dabei darf das Werk durchaus neben dem "Canzoniere" Petrarcas bestehen als wesentlicher Beitrag zur Begründung einer neuzeitlichen, "bürgerlichen" Auffassung von Liebe. Auch wenn es bereits 150 Jahre vor dem "Canzoniere" verfasst wurde und gerade weil es stärker mittelalterlich-aristotelischen Konzeptionen verpflichtet ist.


Lektüreempfehlung: Gottfried-Portal, Universität Straßburg



Hartmann von Aue

Manger grüezet mich alsô
(um 1190 - MF 216, 29-217, 13)

Manger grüezet mich alsô
(der grouz tuot mich ze mâze frô),
»Hartmann, gên wir schouwen
ritterlîche frouwen.«
mac er mich mit gemache lân
und île er zuo den frouwen gân!
bî frouwen triuwe ich niht vervân,
wan daz ich müede vor in stân.

Ze frouwen habe ich einen sin:
als sî mir sint als bin ich in;
wand ich mac baz vertrîben
die zît mit armen wîben.
swar ich kum dâ ist ir vil,
dâ vinde ich die diu mich dâ wil:
diu ist ouch mînes herzen spil:
waz touc mir ein ze hôhez zil?

In mîner tôrheit mir geschach
daz ich zuo einer frowen sprach
»frow, ich hân mîne sinne
gewant an iuwer minne.«
dô wart ich twerhes an gesehen.
des wil ich, des sî iu bejehen,
mir wîp in solher mâze spehen
diu mir des niht enlânt geschehen.






Mancher grüßt mich gerne so



Mancher grüßt mich gerne so
(der Gruß macht mich ganz maßlos froh),
"Hartmann, gehn wir doch beschauen
ritterliche Frauen."
Soll er mich doch in Ruhe lassen
und eilig zu den Frauen rasen!
Bei Damen fand ich niemals Treue,
wenn ich vor ihnen stand in Reue.

Zu Frauen hab ich dies im Sinn:
Dass sie mir, was ich ihnen bin;
warum ich mir lieber vertreibe
die Zeit mit nem armen Weibe.
Wohin ich auch komme gibts ihrer viel,
die mich wollen als Gespiel:
für die brennt mein Herz mit Gefühl
was taugt mir ein zu hohes Ziel?

In meiner Torheit mir einst geschah
dass ich eine Edelfrau mit Liebe besah
"Frau, ich hab all mein Sinnen
gewendet, Sie zu minnen."
Da wurde ich schräg angesehen.
Darum will ich, ich muss es gestehen,
ein Weib nur noch in Liebe erspähen
wenn mir solches nicht mehr kann geschehen.


Ein erstaunlich modern anmutender Text, der berücksichtigt werden muss, wenn von der "Erfindung" der Liebe im Minnesang die Rede ist (formuliert im Anschluss an Sieglinde Hartmann).

Auf den ersten Blick könnten wir hier eine Abwendung von der moralisch durchformten, der Persönlichkeitsentwicklung verpflichteten Liebeskonzeption der "hohen Minne" zur "niederen Minne" sehen, zum Bereich der sinnlichen Befriedigung. Etwa wenn der Autor davon spricht, seine Zeit mit "armen wîben" sich vertreiben zu wollen. Doch dazu steht sperrig der Zweizeiler davor, wo Hartmann eine balancierte Beziehung zwischen den Geschlechtern anspricht. Hier klingt durchaus ein fortschrittliches gesellschaftliches Programm an, das Programm einer zwischenmenschlichen Begegnung "auf Augenhöhe" zwischen Mann und Frau. Das "zu hohe Ziel", dem der Autor sich hier nicht mehr unterwerfen möchte, scheint nicht primär das Ziel einer ethisch-moralisch anspruchsvollen Liebesbeziehung zu sein, sondern eher das Ziel, dem sozialen Aufstieg das eigene Lebensglück zu opfern.

Dieser Zwiespalt hat Übersetzer bisher dazu geführt, die "frouwen" im einleitenden Zweizeiler der zweiten Strophe nur als Edelfrauen zu lesen, diese streng zu unterscheiden von den "wîben" danach. Damit wird allerdings das "wand" in der dritten Zeile problematisch. Resigniert der Autor vom Wunsch nach gleichberechtigter Partnerschaft oder erwartet er, diesen gerade bei den "armen Weibern" verwirklichen zu können? Sind die "armen Weiber" nur Sexualobjekte oder Frauen, mit denen er auch, ja primär eine Liebesbeziehung eingehen möchte?

Gegen eine schlüssige Auslegung sperrt sich dieser Text erfolgreich. Zu fern sind uns Sprache und Denkwelt der Zeit, zu widersprüchlich ist der Text in seiner Anlage, zu vieldeutig sind viele seiner zentralen Begriffe, etwa "fro(u)we" und "wîb/p", die Hartmann mit irritierender Ungenauigkeit einsetzt. Und vielleicht ist gerade dies die Botschaft des Autors, dass die gesellschaftliche Unterscheidung in edle Frauen und arme Weiber überholt sei und zu überprüfen insbesondere in ihren moralischen Urteilen? Gleich in der ersten Zeile wendet er sich ja gegen gesellschaftliche Konvention, gegen soziale Ansprüche an ihn im Blick auf sein Verständnis von Liebe. Und dies mit deutlicher Ironie: "der grouz tuot mich ze mâze frô".


Lektüreempfehlung: Sieglinde Hartmann, Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein oder die Erfindung der Liebe im Mittelalter, Wiesbaden 2012



Heinrich von Morungen
Vil süeziu senftiu toeterinne
(um 1215)

Vil süeziu senftiu toeterinne,
war umbe welt ir toeten mir den lîp,
und ich íuch sô herzeclîchen minne,
zwâre vróuwè, vür elliu wîp?
Waenent ir, ob ir mich toetet,
daz ich iuch iemer mêr beschouwe?
nein, iuwer minne hât mich des ernoetet,
daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe.
sol mir hie niht guot geschehen
von iuwerm werden lîbe,
sô muoz mîn sêle iu des verjehen,
daz iuwerre sêle dienet dort als
einem reinen wîbe.



Ihr liebliche, sanfte Mörderin


Ihr liebliche, sanfte Mörderin
Warum wollt Ihr den Leib mir töten
Wo ich Euch doch so herzlich liebe,
Herrliche Frau, vor allen Weibern?
Glaubt Ihr denn, wenn Ihr mich tötet,
Dass ich Euch nicht weiter anschauen werde?
O nein, die Liebe zu Euch hat mich so ergriffen,
Dass Eure Seele meiner Seele Braut ist.
Soll mir hier (auf Erden) kein Gutes geschehen
Von Eurer werten Person,
So muss meine Seele Euch dies bekennen,
Dass sie Eurer Seele dort (im Jenseits) dienen wird als
Einem jungfräulichen Weib.



Über Heinrich von Morungens Person ist wenig bekannt. Vermutlich ist er identisch mit dem Hendricus de Morungen, der dem niederen Rittertum angehörte und von der Burg Morungen bei Sangerhausen in Sachsen-Anhalt stammte. Als Ritter außer Diensten bezog dieser Hendricus eine Pension des Markgrafen von Meißen, die er 1213 dem Leipziger Thomaskloster überschrieb. In dieses Kloster trat er 1217 ein und dort verstarb er nach einer Quelle aus dem 16. Jahrhundert im Jahr 1222.

Von seinen Liedern sind 115 Strophen überliefert, davon alleine in der Manessischen Liederhandschrift 104 Strophen. Zum Vergleich: Die Manessische Liederhandschrift tradierte von Walther von der Vogelweide 444 Strophen, von Neidhart 300 Strophen, von Reinmar dem Alten 262.

Heinrich von Morungen vertritt im Minnesang eine Richtung, die dem "dolce stil nuovo" Dantes und Petrarcas sehr nahe steht. Seine Liebe gilt einer Frau, die sich ihm körperlich verweigert, der er jedoch auch ohne sinnliche Erfüllung Liebe über den Tod hinaus verspricht. Charakteristisch ist das Leiden an dieser Liebe, die den Autor von der Geliebten als "toeterin" sprechen lässt.

Das mittelhochdeutsche Wort "lîp" - bzw. hier im Genitiv auch "lîbe" - steht sowohl für den Körper als auch für die Person. Der Autor selbst arbeitet mit der Gegenüberstellung "lîp" - "sêle", die wir auch differenziert entfaltet im "Klagebüchlein" des Hartmann von Aue finden. Weshalb zumindest an der ersten Stelle die Übersetzung mit "Leib" angemessen ist.

Diese ganz spezifisch ausgeführte Unterscheidung in Leib und Seele bestimmt den Text und macht ihn zu einem besonderen Zeugnis kulturgeschichtlicher Entwicklung. Die Seele ist hier nicht, wie wir es aus parallelen Traditionslinien kennen, im Körper gefangen und sehnt sich nach Erlösung. Sie ist auch nicht platonisch gespalten in ein schwarzes und ein weißes 'Seelenross', die von der Vernunft gelenkt werden. Seele und Körper sind je erstaunlich souverän und werden nicht gegeneinander ausgespielt, erscheinen eher als die zwei Seiten einer Person. Auch nach dem Tod des Körpers vermag die Seele zu begehren und mit durchaus sinnlicher Kompetenz 'anzuschauen'.





Oswald von Wolkenstein
Wach, menschlich tier

I
Wach, menschlich tier,
brauch dein vernunft, ir frauen und ouch manne!
wie bistu gar erphlumsen so
in deiner sünden wanne,
das du nicht fürchst des herren dro,
der dir dein leib und sel verlihen hat.
Louff, süch in schier,
es vinstert pald, die weil dus macht gesehen,
und sol dich jemand machen los,
das müss durch in geschehen.
er brach die hell, die nie gefros,
zwar sein gewalt all müglich sach durch gat.
Die sunn, der man, der sterne kranz,
den plümlin auf der haid,
den geit er farb und liechten glanz.
bei mancher ögelwaid
sicht man sein wunder michel swer,
wer nicht geloubn wolt, das got nicht wer.

II
Wer habt den himel
und die erd, das wasser, grosse staine?
was pringt den toner, sne und wind?
das firmament allaine
möcht uns beteuten gottes kind,
der seiner mütter vatter ist und man.
In tieffer timel
so freit er fisch, da mit si nicht ertrinken,
er habt die vogel in der höh,
das si nicht abher sincken,
er zieret perg und tal, die löch
mit manchem klaid, das niemd erdenken kan.
Wer nert das würmlin in der erd,
das räblin junck und marb,
wenn vatter und mütter von im kert
und fleucht sein weisse farb?
das tüt gots herschafft gross und lanck,
sein macht gewan nie end noch anefangk.

III
Der aller frucht,
mensch, tier und vich ain underschaid kan geben,
das ains dem andern nicht geleicht,
der gnad mir an dem leben
und weiss die fraun gütlicher beicht,
in der gebot man mir zerbricht die schin.
An weiplich zucht
kompt si mir selden immer aufs den oren,
wie si die barschafft von mir drung;
si tüt mich vil betoren,
und das si als ain zeisel sung;
zwar meinen schatz, den hat si pald dahin.
Was ich si man der lieben mer,
die si ainst an mich lait,
und das si mir ain eisen swer
von meinen füssen tet
und liess die andern dannocht stan,
da mit traib ich si ferr von mir hindan.

IV
Dabei so merkh,
weltliche lieb, wie pald si hat verpranget!
wer ich ainst hundert meil gewesen,
ir leib hett mich erlanget,
da mit ich wer durch si genesen;
nu tüt si mir den grössten ungemach.
Der baine sterck
spannt si mir herter in wann ainem pferde,
das ich darauf nicht mag gestän.
mit groblichem geverde
so ward ich ir gevangen man;
mein wolgetrauen ir kirchvart übersach.
Mein daumen, arm, darzu den hals
hat si mir ingesmitt.
o frau, wie bitter ist dein sals!
si swecht mir mein gelid;
erst han ich funden, was ich sücht,
nu walt sein got, der mir den rock gedücht.




Wach, menschlich Tier

I
Sei wachsam, menschliches Tier,
gebrauche Deine Vernunft, seist Du Frau oder Mann!
Wie bist Du so auf Federn gebettet
in Deiner Sünden Wanne,
dass Du des Herren Drohen nicht fürchtest,
der Dir Deinen Leib und Deine Seele verliehen hat.
Lauf, such ihn rasch,
es wird bald finster, während Du bummelst,
und sollte Dich je jemand befreien,
dann kann das nur durch ihn geschehen.
Er brach die Hölle, die nie gefror,
in seiner Gewalt sind alle denkbaren Dinge.
Die Sonne, der Mensch, der Sterne Kranz,
den Blumen auf der Wiese
gibt er Farbe und hellen Glanz.
Bei mancher Augenweide
sieht man seine Wunderkraft sehr genau,
auch wer nicht glauben will, dass es Gott gibt.

II
Wem gehört der Himmel
und die Erde, das Wasser, der Fels?
Wer bringt den Donner, den Schnee und den Wind?
Das Firmament alleine
zeigt uns schon Gottes Kind,
das seiner Mutter Vater ist und Ehemann.
In dunkler Tiefe
liebt er die Fische, damit sie nicht ertrinken,
er hält die Vögel in der Höhe,
damit sie nicht versinken,
er ziert den Berg, das Tal, die Wälder
mit manchem Kleid, das unausdenklich ist.
Wer nährt den Wurm in der Erde,
den jungen, schwachen Raben,
wenn Vater und Mutter sich von ihm abkehren
und seine weiße Farbe fliehen?
Das macht Gottes Herrschaft, groß und dauernd,
seine Macht hatte nie Ende noch Anfang.

III
Der allen Früchten,
Mensch, Wild und Nutztier den Unterschied kann geben,
dass eins dem anderen nicht gleiche,
der sei mir gnädig
und weise die Frau zur Beichte an,
in deren Auftrag man mir die Knochen bricht.
Mit weiblicher Zucht
lag sie mir selten in den Ohren,
als sie die Barschaft mir entwunden hat;
sie hat mich oft betört,
indem sie wie ein Zeisig sang;
doch mein Vermögen, das hat sie zügig durchgebracht.
Wenn ich sie an die Liebesfesseln erinnere,
die sie mir einst angelegt hat,
und sie bitte mir die Eisenfesseln
von den Füßen zu tun
und die anderen (Fesseln) zu belassen,
treib ich sie weg von mir.

IV
Merke wohl,
weltliche Liebe verliert so rasch ihren Glanz!
wäre mir einst hundertfach übel gewesen,
ich hätte nach ihrem Leib verlangt,
damit ich durch sie genese;
nun tut sie mir das Schlimmste an.
Der Beine Stärke
zeigt sie mir härter noch als einem Pferde,
dass ich gestehen sollte.
Unter grobem Zugriff
wurde ich zu ihrem Gefangenen;
mein Wohlvertrauen verstand ihre Wallfahrt falsch.
Meinen Daumen, Arm, den Hals dazu
hat sie mir in Eisen gelegt.
O Frau, wie bitter ist dein Salz!
Sie schwächt mir meine Glieder;
erst hatte ich gefunden, was ich suchte,
nun walte Gott, der mich ins Wasser warf.



Von Oswald von Wolkenstein wissen wir mehr als von den anderen mittelalterlichen Dichtern - vorwiegend aus seinen eigenen Texten. Wo sich dabei Dichtung und Wahrheit scheiden lassen, ist umstritten. Einige zentrale Daten sind allerdings gesichert, denn aus der Zeit ab 1399 verfügen wir auch über amtliche Dokumente seiner Existenz.

Er lebte von etwa 1375/78 bis 1445. Geboren wurde er als Nachkomme einer Seitenlinie des angesehenen und reich begüterten Tiroler Familienclans der Vilanders, auf einer hoch gelegenen Felsenburg am Ende des Grödner Tals. Er wurde zum Ritter erzogen, vermutlich auf der Burg wohlhabender Verwandter, und musste als sogenannter "Renner" einige Jahre einem fahrenden Ritter dienen (s. das Lied "Es fügt sich"). In Kriegsdiensten blieb er auch danach, er heiratete und erwarb sich ein beträchtliches Vermögen, verlor dieses (und Teile seine Gesundheit) jedoch in einer Streitigkeit mit anderen Familienmitgliedern, rappelte sich wieder auf, geriet in einen zweiten Rechtsstreit, verlor erneut einen Teil seines Vermögens, etablierte sich in der Politik und kam erneut zu Wohlstand. Am 2. August 1445 starb er in Meran. Er hinterließ sieben Kinder.

Eine Lebensgeschichte, die aus heutiger Sicht exzeptionell anmutet. Doch Johan Huizinga hat uns darauf aufmerksam gemacht, das solche Biographien der Zeit entsprachen. "Überall, wo wir den Schicksalen von Personen nachforschen, die in den Quellen jener Zeit (Huizinga bezieht sich auf das 15. Jhd. - H.Sch.) genannt sind, kommt solch ein heftig bewegtes Lebensbild zum Vorschein." Huizinga 2015, S. 46 - er bezieht sich dabei exemplarisch auf die Lebensgeschichte von Mathieu d'Escouchy.

Im Text "Wach, menschlich Tier" thematisiert Wolkenstein Gottesfurcht und die Tugenden des Ritterstandes - die Wolkenstein in der Praxis möglicherweise nicht immer beachtete, wie der Rechtsstreit um den Weinhof der Anna Hausmann nahe legt, den er sich wohl mit unlauteren Mitteln angeeignet hatte. Und den er schließlich auch wieder den Erben zurückgeben musste. Wobei die eingesetzten Mittel der Gegenseite, Haft und Folter für Wolkenstein, das Verfahren in ein trübes Licht rücken.

Die Streitigkeiten um diesen Weinhof kommen auch zur Sprache in diesem Lied mit der Werknummer K2, das den "Gefangenschaftsliedern" zugeordnet und als "Rügelied" bezeichnet wird. Hier gibt Wolkenstein Anna Hausmann, seiner ehemaligen Geliebten und Besitzerin des Weinhofes, die Schuld am Rechtsstreit. Sie habe ihn betrogen und um sein Vermögen gebracht.

*

Bemerkenswert an diesem Gedicht ist zunächst einmal, dass sich der einführende Appell, die "Vernunft" zu gebrauchen, an Männer wie Frauen gleichermaßen richtet. Allerdings geht es hier nicht um einen Appell zur Emanzipation, zumindest nicht auf der primären Ebene, sondern um Gottesfurcht, die Freiheit von Sünde, die durch vernünftige Einsicht in die Größe und Macht Gottes erreicht werden könne. Dieser Text darf durchaus aufklärend verstanden werden, es wird nicht blinder Gottesgehorsam verlangt, vielmehr bemüht sich der Autor, Gott auch nachzuweisen in der Schöpfung und andererseits zu zeigen, wie schwankend menschliches Glück ohne ihn stünde.

Die letzten beiden Strophen gelten insbesondere trügerischer Liebe und weiblicher List, die das Vermögen des Mannes aufzehren können. In der Forschung wird vermutet, dahinter verberge sich die Geschichte mit Anna Hausmann, die vielleicht nicht ganz unschuldig war im Streit um ihren Weinhof. Das Lied wird zu den "Gefangenschaftsliedern" gezählt, die eine eigene Gruppe im Werk Wolkensteins ausmachen. In diesen Liedern taucht explizit das Bild der Gefangenschaft auf, in der Regel verbunden mit Berichten über eine ehemalige Geliebte. Die Lieder gelten als Versuche Wolkensteins, sich medial gegen politische und ökonomische Gegenspieler zu positionieren.

Auch wenn Struktur und Inhalt des Gedichtes klar sind, geben einzelne Stellen Rätsel auf. Der junge Rabe mit weißen Federn geht wohl auf die mittelalterliche Vorstellung zurück, dass die Raben mit hellen Federn aus dem Ei schlüpfen und von ihren Eltern so lange nicht gefüttert werden, bis ihre Federn schwarz gefärbt sind. Möglicherweise ist die letzte Zeile des Textes in diesem Kontext so zu lesen, dass Gott dem Sprechenden den "Rock" (analog zu den Rabenfedern) getaucht - im Sinne von gefärbt - habe, damit er nun wieder 'gefüttert' werde.

Zunächst schwer verständlich ist auch die Zeile "mein wolgetrauen ir kirchvart übersach". In der Forschung wird dies so verstanden, dass Anna Hausmann Wolkenstein zu einer Wallfahrt (möglicherweise nur die verhüllte Darstellung einer sexuellen Begegnung) eingeladen habe, in deren Verlauf er verhaftet wurde.

Lektüreempfehlung: Anton Schwob, Historische Realität und literarische Umsetzung. Beobachtungen zur Stilisierung der Gefangenschaft in den Liedern Oswalds von Wolkenstein, Innsbruck 1979

Lektüreempfehlung: Werner Marold, Kommentar zu den Liedern Oswalds von Wolkenstein, Berlin 1926 (neu hg. v. Alan Robertshaw 1995)

Lektüreempfehlung: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Reclam 2015



Martin Luther
Ein feste Burg ist unser Gott
(1528)


Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind
Mit Ernst er´s jetzt meint,
Groß Macht und viel List
Sein grausam Rüstung ist,
Auf Erd ist nicht seinesgleichen.

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren.
Es streit für uns der Rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muß er behalten!

Und wenn die Welt voll Teufel wär
Und wollt uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr,
Es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
Wie sau´r er sich stellt,
Tut er uns doch nicht,
Das macht, er ist gericht,
Ein Wörtlein kann ihn fällen.

Das Wort sie sollen lassen stahn
Und keinen Dank dazu haben,
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib,
Laß fahren dahin,
Sie habens kein Gewinn,
Das Reich muß uns doch bleiben.




Martin Luther (1483-1546) wird gemeinhin nicht als Dichter gepriesen. Anerkannt wird jedoch, dass seine Bibelübersetzung ins Deutsche auch literarisch bedeutsam ist und dass seine Kirchenlieder den deutschsprachigen Kirchengesang wesentlich bereicherten. Gerne zitiert werden auch seine kurzen Fabeln und seine saloppe Gebrauchslyrik, Spruchgedichte wie etwa dieser Text:

Das größte Haus ist eng,
das kleinste Haus ist weit,
wenn dort ein Gedräng
und hier Zufriedenheit.

Ein Rang als Lyriker lässt sich daraus noch nicht zwingend ableiten. Doch es gibt einen ergänzenden äußerlichen Grund, ihn in diese kleine historische Anthologie aufzunehmen. Nämlich die Lücke zwischen 1450 und 1600 in der Lyrikentwicklung. Zwischen Oswald von Wolkenstein und Weckherlin fallen uns keine Namen ein, die sich mit diesen Autoren messen könnten. Es existiert so etwas wie eine "Renaissance-Lücke" in der deutschsprachigen Lyrik, sie liegt zwischen Minnesang/Frührenaissance und Spätrenaissance/Barock. Man könnte sie auch Humanismus- oder Reformations-Lücke nennen.

Zu Luthers bekanntesten Kirchenliedern gehört "Ein feste Burg ist unser Gott". Es soll für das stehen, was diese Lücke unter anderem auszeichnet: Die Hinwendung der Lyrikproduktion/Liedproduktion zu Alltagsbewältigung, Alltagsgebrauch und - in einem sehr weiten Sinne hier verstanden - Unterhaltung. Das Lied gehört in den Kontext der Gottesdienste und sonstiger religiös grundierter Geselligkeit. Es soll ermutigen, Kraft für die Lebensbewältigung geben, Gemeinschaft stiften. Schon der Titel formuliert dies vortrefflich. Eine Burg verspricht Sicherheit und Geborgenheit, eine Gruppe ist angesprochen und gestärkt schon im "unser", bezogen auf Gott, der mit einer Burg gleichgesetzt wird.

Eine "Not" wird angesprochen, ohne sie genau zu benennen. Der "alt böse Feind" droht, wir können hier den Teufel gemeint sehen, auch wenn er nicht so tituliert wird, lediglich im kunstfertig konjunktivisch eingebundenen Plural "voll Teufel" erscheint dieser Name, ansonsten ist vom "Fürst dieser Welt" noch die Rede. Der ist ohne Macht nun, "Ein Wörtlein kann ihn fällen". Auch dieses Wörtlein wird nicht präzisiert. Stattdessen geht es weiter mit "Das Wort sie sollen lassen stahn" - wir denken an "und das Wort ist Fleisch geworden", also an Jesus Christus. "Er ist bei uns wohl auf dem Plan" - das heißt, er steht auf unserer Seite, steht uns bei.

Und was immer uns geschehen mag, das Reich Christi bleibt. Etwas peinlich berührt aus heutiger Sicht die Ausgestaltung des "uns" hier, denn offensichtlich ist nur eine Gemeinschaft von Männern gemeint, denen "Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib" genommen werden könne, aber nicht "das Reich". Luthers - und seiner Zeit allgemeine - Haltung zur Stellung der Frau ist bekannt, so erstaunt diese Stelle auch nicht weiter.





Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg
Lebensbericht
(1555)


Ey gott mein lieber herre

Lob dich beidt tag vnnd nacht,

Ich will dich auch thun ehrenn,

Sieh, du hast mich gebracht

Ach schwerlich aus Mutterleibe

Bin ich in anngst getzelt

Ehe dem teuffell zu leide

Getauft wie es dir gefelt


Im ehestanndt bin ich begebenn

Dem edelenn herrenn mein,

Inn kranngkheit thet ich lebenn,

Ahnn furcht thet ich nicht sein.

Creutz, Jammer vnnde schmertze

Was mir alltzeit empor,

Ich schrei zu gott vonn hertzenn,

Dem vngelück kam zuvor.


Nach meiner seel gestandenn,

Auch nach dem leibe mit gewalt,

Vom wortt mich enthaltenn

Treibenn die da waren erkalt.

Mein trew thet mir denn schadenn,

Das redt ich vberlaut,

Das ist In nicht geratenn,

Ich bin ins herrenn hut.


... weiter ...




Eine vorzüglich humanistisch gebildete Frau war Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg, auch als Elisabeth von Calenberg bekannt, 1510 geboren als Tocher des katholischen Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg und der dänischen Prinzessin Elisabeth, einer der ersten Lutheranerinnen, die vor ihrem Mann 1528 nach Wittenberg floh. 1525 wurde Elisabeth die Jüngere mit dem vierzig Jahre älteren katholischen Herzog Erich I. von Braunschweig-Lüneburg verheiratet, mit dem sie einen Sohn (Erich II.), zwei Töchter (Anna Maria und Katharina) und ein nicht näher bekanntes Kind hatte. Sie lernte 1534 Martin Luther persönlich über ihre Mutter Elisabeth kennen und unterhielt einen lebhaften Austausch mit ihm. Nach dem Tod ihres Mannes führte sie ab 1540 die Regierungsgeschäfte bis zur Mündigkeit des Sohnes. 1541 führte sie die Reformation in Braunschweig-Lüneburg ein. 1545 übernahm ihr Sohn die Regierung und bekannte sich zwei Jahre später zur Gegenreformation. 1546 heiratete Elisabeth erneut, den Grafen Poppo XII zu Henneberg. 1553/54 wurde sie aus ihrem Witwentum Münden vertrieben. 1557 verheiratete ihr Sohn seine Schwester Katharina gegen den Willen der Mutter mit dem katholischen Burggrafen von Rosenberg. Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg zerbrach der Legende zufolge an dieser Tat ihres Sohnes und starb 1558 auf Schloss Ilmenau, das den Hennebergern gehörte.

Es gibt allerdings auch die andere Geschichte dieser zweifellos ungewöhnlichen Frau - dass nämlich mehrere Frauen ihretwegen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, dass sie ihren weit älteren Mann kräftig unter der Kuratel hatte und sich ein beträchtliches Witwentum von ihm überschreiben ließ, das ihr auch nach dem Regierungsantritt ihres Sohnes eine bedeutende Regentschaft beließ, die sie sich vom Sohn nach ihrer erneuten Heirat gegen die ursprüngliche Bestimmung garantieren ließ. Und dass sie schließlich ihren Sohn mit einer zehn Jahre älteren lutheranischen Prinzessin, Sidonie von Sachsen, verbandelte (was diesen aber dann doch nicht vom Katholizismus abhielt). Sie schrieb ihrem Sohn ein Regierungshandbuch und erwartete, dass dieser sich daran hielt. Auch von ihren Untertanen verlangte sie unbedingten Gehorsam.

*

Der "Lebensbericht" von Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg ist mit der Anweisung überschrieben "Im thon Ich dannck dir lieber herre das du mich hast erlost", war also als (Kirchen-)Lied konzipiert. Es ist durchaus bezeichnend für die Autorin und die Zeit, dass selbst dieser bemerkenswert persönliche autobiographische Bericht im Gewand eines Kirchenliedes daher kommt. Kirchenlieder im engeren Sinne hat die Autorin im übrigen auch verfasst und ihr Beitrag zur Reformation ist beträchtlich, gelegentlich wird sie gar "Mutter der Reformation" genannt.

Der Text schildert überwiegend Leiderfahrungen, denen sie im Laufe ihres Lebens ausgesetzt war, durchsetzt mit religiösen Wendungen. Am Ende des Liedes resümiert sie "Ertzalt mein Creutz unnd nott" und erbittet sich "from underthan", fromme Untertanen, aber auch "laß mich dannckbar sein" von Gott. Gleich die erste Strophe führt, nach der einführenden Verneigung vor dem "liebe(n) herre(n)", ein Ereignis an, das als Schlüsselerfahrung ihres Lebens gelten kann, die Todesnähe schon bei ihrer Geburt "schwerlich aus Mutterleibe". Die "anngst" stand schon bei ihrer Geburt Pate, doch der "teuffell" freute sich zu früh auf eine ungetaufte Seele. Und so sollte es in ihrem Leben weitergehen, möchte sie uns mitteilen, zwischen "Creutz, Jammer unnde schmertze" und "ins herrenn hut" gestellt.

Die Datierung des Berichtes ist problematisch, doch es gibt starke Argumente für die Zeit um 1555. Zwei konkrete Zahlen nennt sie im Text, einmal "Ich thett auch ernnstlich regirenn,/Im lanndt woll funftzehenn jar" in der vierten Strophe, dann "Einunndreißig jar im lannde/Bin ich gewesenn hir". Setzt man als ihren Regierungsbeginn den Tod ihres Mannes 1540, so kommt man auf das Jahr 1555, lässt man ihren Aufenthalt "im lannde" mit der Heirat 1525 beginnen, kommt man auf das Jahr 1556. Da sie vielleicht nicht erst mit der Heirat an den Hof ihres Mannes kam, sondern schon ein Jahr zuvor sich dort zur Einübung in die kommenden Pflichten befand, können wir 1555 als Entstehungsjahr des Textes für wahrscheinlich ansehen.





Georg Rodolf Weckherlin

Ueber den frühen tod Fräuleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden

Dein leben, dessen end uns plaget,
war wie ein tag, schön und nicht lang,
wie ein stern vor des tags aufgang,
die rötin wehrend weil es taget,
ein seufz aus einer edlen brust,
ein klag aus lieb, nicht aus unlust,
ein nebel, den die sonn verjaget.

Ein staub, der mit dem wind entstehet,
ein thau an einer hitz anbruch,
ein luft mit lieblichem geruch,
ein schnee, der frühlingszeit abgehet,
die blum, die frisch und welk zugleich.
ein regenbog von farben reich
ein zweig, den bald der wind umwehet.

Ein schaur in sommerszeit vergossen,
ein eis am heißen sonnenschein,
ein glas, so brüchig als es rein,
ein wasser über nacht verflossen,
ein blitz zumal geschwind und hell
ein stral abschießend klar und hell
und ein gelächter bald beschlossen.

Ein stim, die lieblich dahin fähret,
ein widerhall der stim in eil,
ein zeit, vertriben mit kurzweil
ein traum, der mit dem schlaf aufhöret,
ein flug des vogels mit begir,
ein schat, wan die sonn sticht herfür,
ein rauch, von starkem wind zustöret.

Also dein leben, schnell verflogen,
hat sich nicht anderst, dan ein tag,
stern, morgenröt, seufz, nebel, klag,
staub, thau, luft, schnee, blum, regenbogen,
zweig, schaur, eis, glas, blitz, wasserfall,
stral, stim', gelächter, widerhall,
zeit, traum, flug, schat und rauch verzogen.




Die "Leichengedichte" stellen einen eigenen Gedichttypus des Barock dar. Zahllos sind die oft wenig interessanten, die bloße Auftragsarbeit kaum verhehlenden Zeugnisse hierzu. Insbesondere der Tod junger Frauen und der Tod von Kindern haben jedoch immer wieder zu sehr bewegenden und auch literarisch anspruchsvollen Texten geführt. Zu diesen Texten gehört Weckherlins Klagelied für Anna Augusta von Baden. Zu diesen Texten gehört auch, am anderen Ende Deutschlands geschrieben, Paul Flemings "Auf den Tod eines Kindes".

Georg Rodolf Weckherlin wurde 1584 in Stuttgart geboren und verstarb 1653 in London. Er studierte Jura in Tübingen und arbeitete dann in Staatsdiensten oder politischen Sekretärsdiensten, in Württemberg und in England. Seine Karriere entsprach noch ganz dem von Petrarca begründeten Modell des Renaissance-Dichters, mit juristisch-politischer Grundsicherung und einem zwischen Hofdichter und freiem Autor oszillierenden literarischen Anteil.

Anna Augusta war die Tochter des Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach (der auch über Baden-Baden regierte) und der Tochter eines Rheingrafen, Juliane Ursula von Salm-Neufville. Sie wurde am 30. März 1604 als neuntes Kind des Paares geboren und verstarb kurz nach ihrem zwölften Geburtstag am 2. April 1616, zwei Jahre nach ihrer Mutter. Das Haus Baden-Durlach hatte gute Beziehungen zum Stuttgarter Hof, unterstützt dadurch, dass Georg Friedrich strenger Lutheraner war. Die Bibel hatte er ausweislich seiner handschriftlichen Eintragungen 58 Mal vollständig durchgelesen.

Weckherlins Text könnte als Auftragsarbeit seines Hofes entstanden sein, allerdings wirkt es ausgesprochen individuell und emotional, weit weniger formal als die dem gleichen Anlass gewidmete "Elegy" in Alexandrinern. Leichen- oder Todesgedichte sind eine eigene Gattung des Barock und zeigen eine weite formale Streuung. Weckherlins Text darf dabei als eine der originellsten Schöpfungen dieser Gattung gelten, die den barocken Reihungsstil schon zu einem frühen Höhepunkt führt und musterhaft ausprägt.

*

Das Programm des Textes gibt die erste Strophe vor, die zunächst in vier Zeilen das Leben der früh Verstorbenen recht bieder mit mit einem kurzen Tag vergleicht, dann mit einem Morgenstern, der das Morgenrot abwehrt. Aus heutiger Sicht irritiert der Bruch zwischen den beiden Vergleichen, aber das Barock lebte mit solchen Brüchen, seine Kultur ist geprägt durch bewusst inszenierte Widersprüche. Es lohnt sich allerdings, hier dem Widerspruch etwas genauer nachzufragen. Das Leben der Verstorbenen gleiche einem "stern vor des tags aufgang". Nun ist das Alter von zwölf Jahren für junge Mädchen auch das Alter der beginnenden Geschlechtsreife, darauf könnte auch bildlich die Morgenröte hinweisen, die nur sehr verhüllt hier angesprochen wird. Der Stern nun wehrt die "rötin" ab. Möchte Weckherlin hier in subtiler Verhüllung auf die Todesursache hinweisen, ein fatales Einsetzen der Mensis?

Dagegen spechen die folgenden drei Zeilen der ersten Strophe. Allesamt bringen sie nun eher positiv konnotierte Vergleiche, gar eine Liebesklage wird angeführt. Allerdings führt Weckherlin hier auch das gleich zu Beginn strukturbildend eingesetzte Gegensatzprinzip fort. Der "seufz" kommt aus der "edlen brust", "lieb" steht gegen "unlust", "nebel" gegen "sonn".

Die folgenden drei Strophen entfalten dann ein reiches Kaleidoskop an Vergleichen, in schlichtem doch kunstvoll geflochtenem Reihungsstil. Hier begegnen sich spannungsvoll zunächst "staub" und "wind", "thau" und "hitz", "luft" und "geruch", "schnee" und "frühling", "frisch" und "welk", "zweig" und "wind". Eine Ausnahme bildet die Zeile "ein regenbog von farben reich". Hier ist die Spannung schon im Bild selbst gegeben, hat doch der Bogen zwei Enden, zwischen denen er sich wölbt.

In der abschließenden fünften Strophe werden alle Vergleichsnomina nochmals knapp aufgereiht, ohne ihre jeweilige - zumeist sie bedrohende oder negierende - Kontextualisierung. Die Reihenfolge wird dabei gelegentlich aus wohl lautlichen Gründen durchbrochen - etwa in der Vertauschung von "blitz" und "wasserfall". Und hier wird die "rötin" nun auch verdeutlicht zur "morgenröt". In manchen Wiedergaben des Textes wird aus "schat und rauch" in der letzten Zeile "schal und rauch" oder gar "schall und rauch". Dass dies falsch ist, zeigt der Bezug zu "ein schat, wan die sonn sticht herfür". Gemeint ist also "Schatten".

Auf die hohe Musikalität des Textes hat der Weckherlin-Interpret Adolf Beck 1962 in einem Essay im Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft hingewiesen. Er hält es für durchaus denkbar, dass der Text als Lied verfasst wurde. Allerdings sei aus der Barockzeit keine Vertonung bekannt (vgl. Schillemeit 1965, S. 15). Der Komponist Mathias Spalinger (*1944) vertonte den Text 1995 für fünf Männerstimmen, fünf Posaunen, drei Frauenstimmen und drei Bläser.

Lektüreempfehlung: Adolf Beck, Über ein Gedicht von Georg Rudolf Weckherlin. In: Jost Schillemeit (Hrsg.), Deutsche Lyrik, Fischer Taschenbuch Verlag 1965, S. 11-18





Martin Opitz
Trostlied


Zehnde von den Pierinnen,

Vierdte Charis dieser Zeit,

Andre Venus, laß den Sinnen

Keinen Fug zur Traurigkeit:

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Eine Heldinn hoch von Gaben,

Wie wir dich für Augen sehn,

Denckt, was Gottes Bücher haben,

Soll und muß gewiß geschehn.

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Den der Himmel pflag zu lieben,

David, Gottes beste Lust,

Ward bald hin, bald her getrieben,

Doch so war ihm wol bewust,

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Er schlug seine Feinde nieder,

Nahme Leut’ und Länder ein,

Kriegte Kron und Scepter wider

Und erfuhr es war zu seyn,

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Welches Scheuren voll schon ligen,

Meynt, er darff der Saat-Zeit nicht,

Lebt in Wollust nach Genügen,

Biß ihm Wein und Brod gebricht.

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Rosen geben durch die Dörner

Ihren angenehmen Schein;

Garben, haben sie zwar Körner,

Wollen doch gedroschen seyn.

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Stöcke muß man vor beschneiden,

Dann wächst erst die Traube wol,

Trauben müssen Pressen leyden,

Wann man Fässer legen soll.

Die mit Thränen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Edle Fürstinn, Ziehr der Jugend,

Jovis Haupt, Minerven Brust,

Klarer Spiegel aller Tugend,

Liebe diß, als wie du thust:

Die mit Threnen Saamen streuen,

Werden frölich Korn abmeyen.



Martin Opitz wurde 1597 in eine wohlhabende Metzgersfamilie im schlesischen Bunzlau geboren. Sein Vater war Ratmann der Stadtgemeinde und bekennender Protestant, der sich der Gegenreformation verweigerte. Der Vater der Mutter war Stadtrichter und Ratmann, die Mutter starb wohl bei oder bald nach der Geburt von Martin Opitz. Die Familie ermöglichte Opitz eine ausgezeichnete Schulausbildung und ein Jurastudium zunächst in Frankfurt (Oder), dann in Heidelberg. Dabei wurde er geprägt von einem protestantischen Späthumanismus, der eine nationale Identitätsfindung gegen den Zugriff des Habsburgerreiches stellte. Auf der Flucht vor den spanisch-habsburgischen Truppen lernte er um das Jahr 1620 in Leiden die Bemühungen um das Niederländische als Literatursprache kennen, die ihn zu seiner eigenen poetologischen Arbeit im Sinne des in den nördlichen Provinzen des Heiligen Römischen Reiches sich ausprägenden deutschen Identitätsbewußtseins ermutigte.

Martin Opitz ist vor allem bekannt als Autor des "Buch(s) von der Deutschen Poeterey", 1624. Darin erstellt er einen Kanon von legitimen Gedichtformen und Gedichttypen, mit exakten Regeln für die Abfassung von Gedichten. Dabei orientiert er sich weitgehend an Julius Caesar Scaliger (1484-1558), macht dessen lateinische Dichtungslehre (Poetices libri septem, 1561) für den deutschen Sprachraum verpflichtend. 1625 wurde Opitz von Kaiser Ferdinand II. während einer Delegationsreise nach Wien zum Poeta laureatus gekrönt, 1627 geadelt zu "Martin Opitz von Boberfeld". Den Adelstitel hat er nicht getragen.

1626 bis 1632 stand Opitz, weiterhin bekennender Protestant, in den Diensten des konvertierten Grafen Karl Hannibal von Dohna, der die Gegenreformation förderte. Eine diplomatische Reise führte ihn 1630 nach Paris, wo er möglicherweise um Vermittlung zwischen den Parteien bemüht war. 1637 wurde er vom polnischen König Vladislav IV. zum Historiographen an den Hof nach Danzig bestellt. Dort starb er 1639 an der Pest.

*

Die Sammlung von Trostliedern entstand in den Jahren um 1620 vorwiegend in den Niederlanden unter dem Eindruck des 30jährigen Krieges, wobei Opitz auf der protestantischen Seite stand. Daran änderte dann auch seine Krönung zum Poeta laureatus 1625 durch Kaiser Ferdinand II., Haupt des katholischen Habsburger-Reiches, nichts.

Der von mir gewählte Text ist berühmt durch seinen Refrain "Die mit Threnen Saamen streuen,/ Werden frölich Korn abmeyen." Ungebrochen artikuliert sich hier die Hoffnung auf eine göttliche Gerechtigkeit, die dafür sorge, dass alles Leiden vergolten werde. In der ersten Strophe werden drei mythologische Frauengestalten bzw. Frauengruppen genannt, die Pierinnen/Pieriden, die Chariten und Venus. Die neun (nach anderen Quellen sieben) Pieriden sind Töchter des mythologischen Königs Pieros, von Ovid den Musen gleichgestellt. Die Chariten (gr.) - entsprechend den Grazien (lat.) - sind die drei Göttinnen Euphrosyne, Thalia und Aglaia, der Aphrodite beigesellt. Gemeinsam mit Venus werden sie bezogen auf eine Frauenfigur, von der wir nichts Genaues erfahren außer dass sie großem Leiden ausgesetzt ist. In der zweiten Strophe wird sie als "Heldin" apostrophiert, in der letzten als "(e)dle Fürstin".

Die Strophen Drei und Vier gelten David, der zunächst massives Unglück erfahre, dann aber belohnt werde mit dem Mehrfachen seines Verlustes. Strophe Fünf wendet sich vermeintlichem Glück zu, das nur zu Trägheit verleide und schließlich zu Leid führe. In den Strophen Sechs und Sieben wird das Motiv des "per aspera ad astra" erneut aufgegriffen, nun mit Beispielen aus dem Naturreich, den dornigen Rosen, deren Schönheit nur um den Preis ihrer verletzenden Dornen zu haben sei, und dem Rebstock, der beschnitten werden muss, um zu fruchten. Wie gekonnt Opitz hier seinen Text komponiert, ist etwa daran zu erkennen, wie er vom Naturreich wieder zurückführt zum Bereich von Kultur und Geschichte. Der dornigen Rose beigesellt ist das Getreide, das gedroschen werden müsse, um seine Körner freizugeben. Und vom Rebstock leitet Opitz über zur Erzeugung des Weins. Charakteristisch für die Zeit ist dabei, dass Naturreich und Kulturreich nicht wirklich klar getrennt sind oder genauer: Das Naturreich gar nicht gedacht wird ohne Bezug auf den Menschen.



Paul Fleming
Zu Zeiten seiner Verstossung

Ein Kauffmann, der sein Gut nur einem Schiffe traut,
ist hochgefährlich dran, in dem es bald kan kommen,
daß ihm auff einen Stoß sein gantzes wird genommen.
Der fehlt, der allzuviel auff ein Gelücke traut.

Gedenck' ich nun an mich, so schauret mir die Haut.
Mein Schiff das ist entzwey. Mein Gut ist weggeschwommen.
Nichts mehr das ist mein Rest; das machet kurtze Summen.
Ich habe Müh' und Angst, ein ander meine Braut.

Ich unglückseeliger! mein Hertze wird zerrissen,
mein Sinn ist ohne sich. Mein Geist zeucht von mir aus.
Mein alles wird nun nichts. Was wird doch endlich drauß?

Wer eins doch übrig noch, so wolt' ich alles missen.
Mein theuerster Verlust der bin selb-selbsten ich.
Nun bin ich ohne Sie, nun bin ich ohne mich.




Geboren wurde Paul Fleming 1609 in Hartenstein/Sachsen als Sohn des Stadtpastors und Schulrektors Abraham Fleming. Als Autor orientierte er sich früh an Martin Opitz. 1633 reiste er in einer herzoglichen Gesandtschaft zunächst nach Moskau, mit längerem Aufenthalt im Baltikum/Reval (heute Tallinn, Hauptstadt von Estland), im Oktober dann nach Persien, wo er bis 1639 blieb. 1640 erwarb er in Leiden die medizinische Doktorwürde mit einer Arbeit über die Syphilis. Er starb im gleichen Jahr, am 2. April, in Hamburg an einer Lungenentzündung, die er sich beim Umzug nach Reval zugezogen hatte, wo er heiraten und eine Arztpraxis eröffnen wollte.

Seine Jugendliebe "Rubella" starb 1630 in Leipzig an der Pest, bei einem Aufenthalt in Reval 1635 lernte Fleming die Kaufmannstochter Elsabe Niehusen kennen, die 1637 einen anderen Mann heiratete, was ihn wohl sehr enttäuschte. 1639, nach der Rückkehr aus Persien, verlobte er sich mit der jüngeren Schwester Anna. Hintergrund dieses Gedichtes dürfte also die Enttäuschung Flemings darüber sein, dass die von ihm Verehrte nicht auf seine Rückkehr aus Persien gewartet, sondern ihn "verstoßen" habe, indem sie einen anderen heiratete.

Das Bild vom Kaufmann und dem verunglückenden Handelsschiff kann zum einen auf den Erfahrungsraum Reval bezogen werden, war aber auch ein gängiger Topos der Zeit. Dieses Bild bestimmt das erste Quartett des Sonetts, mit der Warnung, nicht alles auf eine Karte zu setzen, salopp gesprochen. Im zweiten Sonett wird diese Lehre auf die eigene Erfahrung bezogen, konkret auf eine Liebeserfahrung, wobei der Autor berichtet, wie er all sein Glück mit einer - dann enttäuschten - Hoffnung verbunden habe. Die Schlussfolgerung muss der Leser, die Leserin selbst ziehen. Nahe liegt der wenig sittenstreng anmutende Vorwurf, nicht mehrere Bräute in Erwägung gezogen zu haben.

Im ersten Terzett wird dann ausgeführt, welches Leid dem Autor aus seiner verengten Brautschau erwuchs. Sein ganzes Wesen sei zerrüttet, sein "Geist" aus ihm gewichen. Nichts mehr sei ihm geblieben, gar sich selbst habe er nun verloren mit ihr, der Geliebten, so besagt die Engführung in der letzten Zeile des zweiten Terzetts. Besonders bemerkenswert ist der Beginn des zweiten Terzetts, "Wer ("wäre") eins doch übrig noch, so wolt' ich alles missen". Aus dem nachfolgenden Text dürfen wir erschließen, hier sei der Selbst-Besitz, die Selbst-Gewissheit, das Selbst-Bewußtsein gemeint - dessen Erhalt dem Klagenden über den Verlust geholfen hätte. Womit er zugleich den möglichen Ausweg aus dem Dilemma andeutet: Selbst-Bewußtsein wieder zu erlangen.



Andreas Gryphius
Thränen deß Vaterlandes
(1636)


Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar, die rasende Posaun,
Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun,
Hat aller Schweiß, vnd Fleiß, vnd Vorrath auff gezehret.

Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist vmbgekehret.
Das Rahthaus ligt im Graus, die Starcken sind zerhaun.
Die Jungfraun sind geschänd’t, vnd wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest, vnd Tod, der Hertz vnd Geist durchfähret.

Hier durch die Schantz vnd Stadt, rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr, als vnser Ströme Flutt,
Von so viel Leichen schwer, sich langsam fortgedrungen.

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest, vnd Glutt vnd Hungersnoth,
Das auch der Seelen Schatz, so vielen abgezwungen.




Andreas Gryphius (1616-1664), der eigentlich Andreas Greif hieß, war Meister des deutschen Barocksonettes, das sich weniger mit Liebesthemen beschäftigte als mit politisch-gesellschaftlichen, philosophisch-religiösen und naturbetrachtenden Themen. Das Gedicht "Tränen des Vaterlandes" thematisiert die Leiden des 30jährigen Krieges, geschrieben 1636, achtzehn Jahre nach Beginn des Krieges: "Dreymal sind schon sechs Jahr".

Seine einführende Charakterisierung des Dreißigjährigen Krieges ist zum Modell geworden, "Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!" Unüberbietbar sind die entsetzlichen Folgen dieses Krieges, nicht zu übersteigen ist die von Gryphius dafür gefundene Formel. Prägnant formuliert er in der Abschlusszeile der ersten Strophe auch das vom Krieg zerstörte Gegenmodell eines Lebens in "Schweiß, vnd Fleiß, vnd Vorrath". Churchills "blood, toil, tears and sweat" - ebenso wie die Formulierungen seiner möglichen Vorbilder Garibaldi und Roosevelt ("blood, sweat and tears") - verbindet beides, Krieg und Frieden.

Das zweite Quartett konkretisiert die allgemeinen Charakterisierungen des ersten Quartetts in Bildern, die zunächst die drei Zentralmächte des Mittelalters als zerstört zeigen. Die Wehrtürme, die Kirche, das Rathaus stehen pars pro toto in Flammen, sind Ruinen. Die Starken - Männer - sind tot, die Schwachen - Jungfrauen - sind geschändet. Doch nicht nur der Leib leidet, auch die Seele, "Hertz vnd Geist", sind zerstört, was die abschließende Zeile des Gedichtes nochmals eindringlich vorführt, "der Seele Schatz, so vielen abgezwungen".

Für die politische Geschichte von Bedeutung ist, dass Gryphius im Gedichttitel das "Vaterland" anspricht - lange vor der Nationalstaatenbildung, die populär gerne verantwortlich gemacht wird für die Ausbildung patriotischer Ideologien. Das vermeintlich so höfisch geprägte Barock zeigt damit deutlich seine unterschwellig bürgerlich-demokratische Konstitution im intellektuellen Milieu.

Einer der ersten, der an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit den Begriff des Vaterlandes - als "patria" - in den Vordergrund gerückt hat, im Rekurs auf antike Quellen, war Petrarca. Der Begriff wurde unter anderem dann durch die Übersetzungen seines Trostbuches ("De remediis utriusque fortunae") in die Barockzeit transportiert. Dies belegt etwa der Druck "Eyn Neüwe Geteütscht Büchlein" von Adam Werner von Themar 1516 mit der Titelangabe: "Inhaltende Grosse Erbermliche Clagen / der Synlichkeit uñ des Schmertzē / Umb / Belegerūg / Zerstorūg / Verbrēnūg / vaterlāts. / Kranckheit des Leibs. Uff dz alles Trostlich Antwurt / Der Vernůnfft."

Die Parallelen zum Vaterlands-Konzept bei Gryphius liegen auf der Hand. Dass Gryphius Petrarcas Werk kannte, sei der Vollständigkeit halber hier auch vermerkt. Der Text "Einsambkeit" etwa bezieht sich eindeutig auf Petrarcas Sonett "Solo e pensoso", Canzoniere XXXV - was von der Forschung bereits ausführlich gewürdigt wurde, so von Thomas Borgstedt.




Andreas Gryphius
Abend
(1650)

Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn, 
Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen

Verlassen feld und werck, wo Thier und Vögel waren
,
Trawert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

Der port naht mehr und mehr sich, zu der glieder Kahn.

Gleich wie diß licht verfiel, so wird in wenig Jahren,

Ich, du, und was man hat, und was man siht, hinfahren.

Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten
,
Laß mich nicht ach, nicht pracht, nicht lust, nicht angst verleiten.

Dein ewig heller glantz sei vor und neben mir,

Laß, wenn der müde Leib entschläfft, die Seele wachen,
Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen,

So reiß mich auß dem thal der Finsterniß zu dir.




Der frühe Tod seiner Eltern, der dreißigjährige Krieg, die Pest in Schlesien und andere private oder gesellschaftlich-politische Ereignisse haben Gryphius während seines nur 48 Jahre währenden Lebens mit Elend, Tod und Zerstörung konfrontiert. Doch die Zeit um 1650 ist geprägt von beruflichen und privaten Erfolgen und Konsolidierungen. 1649 heiratet er in eine wohlhabende Familie ein, im gleichen Jahr wird der erste Sohn geboren, Gryphius avanciert beruflich als Jurist. Und da schreibt er zwei Jahre nach Kriegsende eines der berührendsten Sonette zur Vanitats-Thematik.

Die von Gryphius als Bild seines Gedichtes gewählte Zeit ist der Abend, ist Abschied, ist Todesahnung. "Der schnelle Tag ist hin" - das hat Weckherlin so ähnlich zum Tod der zwölfjährigen Markgräfin Anna Augusta von Baden geschrieben. Kriegsfahnen werden nicht mehr geschwungen, nun schwingt die Nacht "ihre Fahn". Das Tagwerk, "feld und werck", scheint sinnlos, mündet in Einsamkeit. Eine fatale Summe wird gezogen: "Wie ist die zeit verthan!"

Im zweiten Quartett wird die damit skizzierte Motivik weiter entfaltet. Doch dies ohne jedes auf den vorausliegenden Krieg verweisende Bild. Wie der Tag verging, so wird auch alles jetzt noch Lebende verfallen, dahingehen - allen voran das "Ich". In Bildern, die wir auch aus antiken Elegien kennen, aus Kirchenliedern und den Sonetten Petrarcas, wird ein Bogen gespannt vom Kahn, der sich dem Hafen nähert, zur sinnlosen Hatz des Lebens, für die Gryphius hier das berühmte Bild von der "renne bahn" prägt. Der Bildbereich Schiff-Hafen findet sich intensiv entfaltet im Text "An die Welt" des Autors.

Der Hafen, "port", wird von Gryphius nicht, wie im Kirchenlied, schlicht mit Gott verbunden. Gott wird vielmehr direkt angesprochen, nicht griffig gemacht in einem Bild. Das Ich bittet darum, nicht "auff dem Lauffplatz" zu Fall zu kommen, nicht von "pracht", "lust" oder "angst" vom rechten Weg abgebracht zu werden. Jetzt, wo das Tageslicht erloschen ist, solle der "ewig helle() glantz" Gottes den Weg ausleuchten.

Auch im zweiten Terzett wendet sich der Text an Gott, mit der Bitte, die Seele wach zu halten. Es geht in diesem Text also um die menschliche Existenz, die "Conditio humana" allgemein, unabhängig von konkreten und eher zufälligen Kriegsgräueln, es geht um Religion und Erlösung. Und um die letzten Dinge und insbesondere den "letzte(n) Tag". Wobei Gryphius sich nun zum Ende auch das ganz konventionelle Bild vom "thal der Finsterniß" erlaubt und somit das Sonett als Gebet ausweist. Dass es auch als Kunstwerk bestehen kann, hatte der Autor schon zuvor hinreichend besorgt.




Sibylla Schwarz
An den unadelichen Adel  


    GNade Juncker / ich muß fragen:
Wo hinauß? Ihr fallet schier:
Atlas kan den Himmel tragen
Ohn' euch darumb bleibt nur hier:
Ewer stoltz sein wil mich treiben /
Euch ein schlechtes Lied zu schreiben.
    Dedalus weiß sich zuschwingen /
Krafft der Flügel / hoch empor /
Icarus wil höher dringen /
Meint ihm noch zu kommen vor /
Aber muß auff Erden liegen /
Als er wil gen Himmel fliegen.
    Also kan man heut noch sehen /
Wie so mancher Edelman
Seinen Ahnen nach wil gehen /
Der doch kaum nur sehen kan
Spiesse / Harnisch / Büchs und Degen /
Die da Edel machen pflegen.
    Wer den Weg der Demuth kennet /
Der ist Edel nur allein /
Wer sich selbst unedel nennet /
Der mag zweymahl edel sein;
Der ist edel von Gemüth /
Und nicht schlecht nur vom Geblüt.

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Eine der eigentümlichsten Lyrikerinnen deutscher Sprache lebte nur etwas mehr als 17 Jahre. Sibylla (auch Sibylle) Schwarz wurde geboren am 14. Februar 1621 in Greifswald/Pommern, am Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Ihre Eltern waren angesehene Greifswalder Bürger, der Vater Bürgermeister, mit Stadthaus und Landgut. 1627 erreichte der Krieg auch ihre Heimat, die Familie musste sich vom Landgut Fretow bei Greifswald hinter die Mauern der Stadt zurückziehen, wo Wallensteins Truppen etwas weniger brutal plünderten als draußen im offenen Land. 1630 starb überraschend die Mutter, und Sibylla wurde zunehmend neben ihren beiden älteren Schwestern in die Haushaltsführung eingebunden. Dennoch erhielt sie weiterhin eine fundierte Ausbildung durch Privaterzieher. Der Bürgermeister scheint sich also mit Wallenstein arrangiert zu haben. Mit etwa 10 Jahren schrieb Sibylla ihre ersten Gedichte. Schwerpunkte ihrer Schreibarbeiten waren in der Folge Gelegenheitsdichtungen sowie literarische Gedichte zu den Themenbereichen Tod, Freundschaft, Liebe und Gesellschaft. Dabei orientierte sie sich an der Poetik von Martin Opitz. Gelegentlich übersetzte sie aus dem Holländischen - der Leitsprache/Leitkultur für Opitz, vielleicht aber auch ein Hinweis darauf, dass ihre Familie im Handel tätig war.

1631 rückten die schwedischen Truppen in Greifswald ein und wurden als Befreier gefeiert. In der Folge wurde Samuel Gerlach, aus Schwaben stammender Feldprediger in schwedischen Diensten, Hauslehrer bei der Familie Schwarz. Seine junge Schülerin starb am 31. Juli 1638 an einer Ruhrerkrankung. Ihre Gedichte, über 200 an der Zahl, wurden nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1650 von Gerlach in Danzig veröffentlicht. Hat also gerade der Dreißigjährige Krieg dafür gesorgt, dass diese Dichterin, gefeiert auch als "pommersche Sappho" nicht in Vergessenheit geriet? Was ein großer Verlust gewesen wäre, denn zweifellos gilt die von Schwarz-Forscher Michael Gratz, nicht ganz frei von Greifswalder Lokalpatriotismus, vorgetragene Einschätzung, dass Sibylla Schwarz "mit 16 Jahren besser war als Goethe oder Rilke" - "im gleichen Alter" wäre zu ergänzen, um Mißverständnissen zu begegnen.

*

Der Text "An den unadelichen Adel" enthält die differenzierte Kritik an einer Adelsgesellschaft, die sich lediglich zum eigenen Vorteil und mit vordergründiger Statusbetonung, ohne substantielle Begründung, vom Rest der Gesellschaft abzuheben sucht. Deutlich formuliert Sibylla Schwarz dem gegenüber bereits positiv das Programm des "Seelenadels", das erst in der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts breitenwirksam werden sollte, das allerdings schon z.B. bei Leonardo Bruni (1369-1444), "In nebulonem maledicum", vorformuliert wurde: "Die eigene Tugend macht einen Menschen edel, nicht die Schatten und Gräber der Vorfahren." (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Die zweite Schöpfung der Welt, 1994, S. 59)

Mit äußerst differenzierter Sprachführung beginnt sie ihr Gedicht als direkte Ansprache an einen "Juncker", den sie ironisch um "Gnade" bittet für eine Frage, die sie an ihn habe: "Wo hinauß?" Wo hinaus er denn wolle mit seinen überheblichen Ansprüchen, als müsse er die Welt alleine auf den Schultern tragen, was ihm keineswegs gut anstünde: "Ihr fallet schier". Und spöttisch erklärt die Autorin dem "Juncker": "Atlas kan den Himmel tragen/Ohn' euch". Das verdankt sich sicherlich dem Geist einer "freien Hansestadt", ist aber dennoch unerhört in einer Zeit, die geprägt ist von (Adels-)Dünkel und Gewalt. Und verständlich ist der Wunsch der Autorin, man möge ihre Verse anonym veröffentlichen. 1650 erübrigte sich dann diese Rücksichtnahme.

Schon in der ersten Strophe begegnet uns "Atlas" aus dem humanistisch geprägten Bildungsfundus der Zeit - in gebührende Distanz zum lächerlichen Abklatsch, den der "Juncker" mimt. In der zweiten Strophe folgen dann "Dedalus" und "Icarus", die aktualisiert werden als Vertreter menschlich-männlicher Hybris. Sie werden in der dritten Strophe bezogen auf den "Edelman", der sich auf seine Ahnen berufe, obgleich sein geistiger Horizont kaum über "Spiesse / Harnisch / Büchs und Degen" hinausreiche, also die engste Gegenwart bloßer Statussymbole nicht verlasse.

Dem Konzept des Seelenadels gilt dann die vierte Strophe, mit der strengen Forderung, dass nur der edel genannt werden dürfe, der sich selbst nicht so nenne.





Sibylla Schwarz
Liebessonett (8)

Ach/Amor/nimb dein schwäres Joch vohn mir/
kans müglich seyn/nimb wegk die Liebes Plagen/
dein Joch ist schwer/drümb kan ichs nicht mher tragen/
du bist zu süß/drümb klag ich über dir.

Nimb wegk die Last/sie unterdruckt mich schier:
was sol ich doch vohn deinen Pillen sagen/
die bitter sind/und doch mir wohl behagen?
Ich steh und geh im Zweiffel für und für:

wo sol ich hin? Im fall ich bin allein
so denck ich nuhr: Ach möcht ich bey Ihr seyn!
bin ich bey Ihr/so steht mir vohr das Scheiden;

liebt sie mich dan/das ich so sehr begehr/
so ist mir doch die Süßigkeit zu schwär;
Ich will den Tod wohl für die Liebe leiden.




"Sonneten oder Klinggedichte" nennt der Herausgeber Samuel Gerlach die Sonette der "Sibyllen Schwärzin", die er auch "Die Deutsche Sibylla" nennt, im Anschluss an Varros/Laktanz' Auflistung der zehn antiken Sibyllen. Sechzehn Sonette, allesamt Liebessonette, hat er uns von Sibylle Schwarz überliefert. Ein Bezug zu Petrarca ist dabei klar zu erkennen - allerdings wissen wir nicht, ob die junge Autorin Petrarca direkt oder über barocke Nachahmer rezipiert hat.

Thematisch wird auch bei ihr die Liebe als Pein, Qual, Schmerz beschrieben und ganz im Stil Petrarcas spricht die Autorin "Amor" in diesem Sonett auch direkt an mit der Bitte, sie doch freizugeben. Doch halt, wer ist hier das "Ich"? Eine Frau offensichtlich nicht, es sei denn, wir nehmen ein homoerotisches Verhältnis an. Denn im ersten Terzett heißt es ja "Ach, möcht ich bey Ihr seyn!". Denkbar ist auch, dass Sibylle Schwarz diese Sonette nicht aus eigenem Erfahren schrieb, sondern als rein artistische Arbeiten, den Modellen von Opitz und des Petrarkismus folgend. Und in diesen Modellen wird aus männlicher Perspektive geschrieben. Auch Sonett 14 weist in diese Richtung, denn hier tritt das Ich des Textes ausdrücklich als Mann auf. Von Amor wird berichtet: "man sagt/eß sey kein Man/den er nicht könne binden:/noch hat er meinen Muht nicht können überwinden/".

In der Summe scheint es, als wolle Sibylle Schwarz in diesen sechzehn Sonetten verschiedene Liebesmodelle und Ansätze zur Deutung der Liebe durchspielen. Und nicht alle folgen dem Muster des Petrarkismus. Am nächsten ist der vorliegende Text Petrarcas Schreiben nahe. Sie spielt hier mit Ambivalenzen, entfaltet Widersprüche, Spannungsverhältnisse, wie wir sie von Petrarca kennen (allerdings auch schon von Sappho): Süß sei die Liebe und doch auch bitter. Ist der/die Geliebte fern, leidet das Ich an der Sehnsucht, ist er/sie nah, an der Angst vor dem Abschied.

Noch eine Bemerkung zu den oft höchst fremden Schreibweisen vieler Wörter: Nicht alle sind dem Schreibgebrauch der Zeit oder der Autorin anzulasten. Ein Gutteil geht schlicht auf den Drucker/Setzer zurück (etwa: "mher"). Meine Wiedergabe basiert auf dem Druck von 1650. Der Herausgeber Samuel Gerlach beklagt in seinem Nachwort: "Eß geht mihr in disem/wie in andern meinen außgelassenen Werklein/ja wie fast einem jeden/der/abwesend/etwas dem Druk untergibet/und also die Aufsicht einem andern/ob er auch der bäste Freund/oder der gelehrteste Mensch wäre/anvertrauen muß." Dass es nämlich zu zahlreichen Druckfehlern komme.




Catharina Regina von Greiffenberg

Auf die blühenden Bäume
(1662)

Ach du schönes weisses Feld /
aller Jubel-Vögel Zelt /
Frülings-Flor und Chor der Sänger /
Himmel der spatzieren-Gänger!
ich kan unterlassen nicht
dir zu richten meine Pflicht.

O du schöner Perlen-Baum /
die halb aufgeschlossen kaum!
Zephir-Zucker / Schnee vom Biesen!
Gipffel-Lilgen / Stamm-Narcissen!
alle Gleichnus gleicht dir nicht:
deine Zier viel höher sticht.

Schlossen-weisse Hoffnungs-Heerd /
die berühret keine Erd!
Schwanen-Schaar / die nicht in Seen /
sondern auf den Aesten stehen /
du lobst / ohne Zung' und Mund /
unsern Gott aus innern Grund.

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Die nach allgemeinem Urteil bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin des 17. Jahrhunderts wurde am 06. September 1633 auf Schloss Seisenegg in Niederösterreich geboren, mitten im 30jährigen Krieg. Ihre Familie gehörte dem protestantischen Landadel an, der zunehmend unter den Druck der Gegenreformation geriet. Weshalb sie 1663 nach Nürnberg übersiedelte, gemeinsam mit ihrem fünfundzwanzig Jahre älteren Onkel und Ziehvater, den sie 1664 wohl widerwillig heiratete, dessen Erbe ihr jedoch nach seinem Tod 1677 eine auskömmliche Existenz ermöglichte. Sie war befreundet mit Sigmund von Birken, einem der ersten Berufsschriftsteller deutscher Sprache und führendes Mitglied des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg, dem auch sie angehörte. Daneben war sie Mitglied der Teutschgesinnten Genossenschaft (Philipp von Zesen, Hamburg). Sie starb 1694 in Nürnberg.

Catharina Regina von Greiffenberg entwickelte eine eigenständige protestantische Mystik, die sich auch im Naturpreis des Gedichtes "Auf die blühenden Bäume" zeigt. Die Autorin darf mit gutem Recht als eine Begründerin der Naturlyrik aus dem Geiste protestantischer Frömmigkeit gelten. Ihr Einfluss etwa auf Brockes ist belegt und auch sonst zeichnete ihr Werk mit einer breiten Rezeptionsgeschichte klare Spuren in die nachfolgende Lyrikentwicklung.

Dominierende Farbe in diesem Gedicht "Auf die blühenden Bäume" ist Weiß. In barockem Reihungsstil wird in der zweiten Strophe aufgelistet, was der Farbe der Blüten gleichkommt: "Zephir-Zucker", "Schnee vom Biesen", "Gipffel-Lilgen", "Stamm-Narcissen". Und in der vierten Strophe wird deutlich, um welche Blüten es sich handelt: Kirschenblüten. In dieser Strophe finden wir auch das dichte und packende Bild von "des Schöpffers Zier", die sich auf dem "kreiden-weisse(n) Blüh-Papier" "durch schwarze Kirschen / schreiben" werde. Das Konzept vom Buch der Natur, in welches Gott seine Zeichen eingeschrieben habe, wird hier in einer gleichsam dekonstruierten Fassung präsentiert, die an Jacques Derridas Konzept der Schrift erinnert.

In der sechsten Strophe zeigt von Greiffenberg, dass wir sie mit Fug und Recht auch als eine Ahnin Rilkes begreifen dürfen. Die Weise, wie sie hier das Verhältnis von Blüte, Frucht und Stamm beschreibt, findet sich in Rilkes Gedicht "Die Frucht" 262 Jahre später wieder.




Barthold Heinrich Brockes
Kirschblüte bei der Nacht
(1727)

Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt', es könne nichts von größrer Weiße sein.
Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
Von zierlich-weißen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers ausgefunden werden.
Indem ich nun bald hin, bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe,
Sah ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe
Und ward noch einen weißern Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein
Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weißes Licht,
Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetze,
Dacht ich, hat Er dennoch weit größre Schätze.
Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.



Barthold Heinrich/Bertold Hinrich Brockes (1680-1747) ist einer der wichtigsten Barocklyriker und sein Gedicht von der Kirschblüte findet sich in zahlreichen Anthologien und im Schulunterricht. Das Gedicht findet sich in der Sammlung "Irdisches Vergnügen in Gott", erschienen in 9 Bänden 1721 bis 1748. Und damit ist schon das Programm genannt, dem der Text sich einschreibt, weltliche Schönheit zwar zu schätzen, in ihr aber auch einen Verweis auf die Transzendenz Gottes zu sehen, die der weltlichen Schönheit unvergleichlich überlegen sei.

Unübersehbar spielt Brockes dabei mit den Bildern aus Platons Höhlengleichnis, dem Spiel von Schatten und Licht, mit dem Platon uns das Verhältnis von Idee und Erscheinung deutlich machen möchte. Bei Brockes ist zunächst "Sogar der Schatten weiß und sonder Schwärze" beim Betrachten des Kirschbaums, auch wenn der Betrachter selbst "Im Schatten dieses Baumes" geht. Doch dann wendet er den Blick zum Himmel und sieht ein noch helleres Weiß, das Licht eines Sternes. Erst mit diesem Übergang, der von Brockes beschrieben wird im gleichsam säkularisierten Vokabular mystischer Erleuchtung, erscheint Gott, am Ende des Textes, als Geber irdischer Schätze und Garant noch weit größerer "himmlischer" Schätze.

Wie uns spätestens die Brockes Werkausgabe im 3. Band, erschienen 2014, zeigt, darf Brockes durchaus als Aufklärer gelten, der zwar - wie die meisten deutschen Aufklärer - Vernunftsteuerung und Gottesgläubigkeit nicht als Widerspruch sieht, aber doch vehement für die Berechtigung des "Irdischen" eintritt, gerade in diesem Aufruf zum Gotteslob. Dabei partizipiert er an einer Tradition, die von Platon ausgehend immer wieder einen ästhetischen Gottesbeweis zu installieren suchte, der dies jedoch nie theoriewertig in Eigenständigkeit gelang gegenüber den eng verwandten teleologischen und kosmologischen Gottesbeweis-Ansätzen - was auch an ihrer Nähe zu pantheistischen Konzeptionen lag.

Gerne wird dieses Gedicht als Vorgriff auf die Tradition des Dinggedichtes gelesen, die im 19. Jahrhundert einsetzt, etwa mit Eduard Mörikes, "Auf eine Lampe" und Conrad Ferdinand Meyers "Der römische Brunnen". Dabei ist die Differenz unübersehbar: Im Dinggedicht geht es um Artefakten, bei Brockes um ein Naturphänomen. Im Dinggedicht steht der Gegenstand im Zentrum, bei Brockes der Betrachtende, seine Empfindungen und Reflexionen. Und schließlich fehlt im Dinggedicht jeder Verweis auf außerweltliche Transzendenz. Am ehesten ist der Text der Traditionslinie der Naturlyrik einzuordnen.


Lektüreempfehlung: Burckhard Dücker, Blühende Kirschbäume. Zur Kulturgeschichte der Kirsche. In: Ders. (Hrsg.), Machen - Erhalten- Verwalten, Göttingen 2016




Christiana Mariana von Ziegler
Das männliche Geschlechte
(1739)


Du Weltgepriesenes Geschlechte,
Du in dich selbst verliebte Schaar,
Prahlst allzusehr mit deinem Rechte,
Das Adams erster Vorzug war.
Doch soll ich deinen Werth besingen,
Der dir auch wirklich zugehört;
So wird mein Lied ganz anders klingen,
Als das, womit man dich verehrt.

Ihr rühmt das günstige Geschicke,
Das euch zu ganzen Menschen macht;
Und wißt in einem Augenblicke
Worauf wir nimmermehr gedacht.
Allein; wenn wir euch recht betrachten,
So seyd ihr schwächer als ein Weib.
Ihr müßt oft unsre Klugheit pachten,
Noch weiter als zum Zeitvertreib.

Kommt her, und tretet vor den Spiegel:
Und sprechet selbst, wie seht ihr aus?
Der Bär, der Löwe, Luchs, und Igel
Sieht bey euch überall heraus.
Vergebt, ich muß die Namen nennen,
Wodurch man eure Sitten zeigt.
Ihr mögt euch selber wohl nicht kennen,
Weil man von euren Fehlern schweigt.

... weiter ...




Christiana Mariana Romanus wurde 1695 geboren als Tochter des Leipziger Bürgermeisters Franz Conrad Romanus, der 1705 einer Intrige zum Opfer fiel, in Festungshaft genommen wurde und dort 1746 verstarb, ohne dass je ein Urteil gesprochen war in seiner Angelegenheit. Sie verlor 1712 ihren ersten Ehemann, 1722 den zweiten Ehemann, Georg Friedrich von Ziegler, und zwei Töchter - vermutlich im Verlauf einer Epidemie. Danach lebte sie wieder in ihrem Elternhaus und führte dort einen "musikalischen Salon", an welchem auch Johann Sebastian Bach teilnahm, der einige ihrer geistlichen Cantaten vertonte. Georg Philipp Telemann war im übrigen ein Freund ihres Vaters. Sie war in der intellektuellen Welt anerkannt und berühmt insbesondere ihrer Reden wegen, unter anderem zur Frage "Ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach den Wissenschaften zu bestreben". 1728/29 erschien ihre erste, zweibändige Textsammlung. 1733 wurde sie als erste Frau von einer Universität, der zu Wittenberg, zur Dichterin, "Poeta laureata", gekrönt. 1741 heiratete sie zum dritten Mal und trat danach als Übersetzerin in Erscheinung. 1760 verstarb sie in Frankfurt an der Oder.

Der Text "Das männliche Geschlechte" erschien 1739 in der Sammlung "Vermischete Schriften in gebundener und ungebundener Rede" in Göttingen. Es trug die Titelergänzung "Im Namen einiger Frauenzimmer besungen" und war auch konkret als Lied konzipiert, mit einer Melodie-Beigabe. Der Inhalt ist rasch beschrieben, es handelt sich um eine durchaus humorvolle Abrechnung mit dem Dünkel der Männerwelt, als Nachkommen Adams die eigentlichen Vertreter des Menschengeschlechts zu sein. Die Ideale der Aufklärung werden hier radikal auch im Blick auf die Geschlechterdifferenz umgesetzt.

Dabei hebt die Autorin insbesondere die Überheblichkeit der Männer hervor, einmal den Frauen gegenüber, aber durchaus auch in einem allgemeinen Verständnis. Sie fordert darüber hinaus die Teilhabe der Frauen an den Wissenschaften und am allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs. Auch die sexuelle Selbstbestimmung ist bereits hier im beginnenden 18. Jahrhundert zentrales Thema, der Mann gönne sich selbst durchaus Seitensprünge, der Frau gestehe er das aber nicht zu, kritisiert die Autorin in souverän ironischem Ton.

Bemerkenswert ist auch der Hinweis auf die "Gemeine", in der die Frau schweigen solle. Damit sind die reformierten Kirchengemeinden gemeint, die mit den Frauen auch nicht gerechter umgingen als die katholische Kirche. Und die sich dabei auf Luther berufen konnte.




Anna Louisa Karsch
Lob der schwarzen Kirschen
(n.d.T. 1792)

Des Weinstocks Saftgewächse ward
Von tausend Dichtern laut erhoben;
Warum will denn nach Sängerart
  Kein Mensch die Kirsche loben?
 
O die karfunkelfarbne Frucht
In reifer Schönheit ward vor diesen
Unfehlbar von der Frau versucht,
  Die Milton hat gepriesen.
 
Kein Apfel reizet so den Gaum
Und löschet so des Durstes Flammen;
Er mag gleich vom Chineser-Baum
  In ächter Abkunft stammen.
 
Der ausgekochte Kirschensaft
Giebt aller Sommersuppen beste,
Verleiht der Leber neue Kraft
  Und kühlt der Adern Äste;
 
Und wem das schreckliche Verboth
Des Arztes jeden Wein geraubet,
Der misch ihn mit der Kirsche roth
  Dann ist er ihm erlaubet;
 
Und wäre seine Lunge wund,
Und seine ganze Brust durchgraben:
So darf sich doch sein matter Mund
  Mit diesem Tranke laben.
 
Wenn ich den goldnen Rheinstrandwein
Und silbernen Champagner meide,
Dann Freunde mischt mir Kirschblut drein
  Zur Aug- und Zungenweide:
 
Dann werd' ich eben so verführt,
Als Eva, die den Baum betrachtet,
So schön gewachsen und geziert,
  Und nach der Frucht geschmachtet.
 
Ich trink und rufe dreymal hoch!
Ihr Dichter singt im Ernst und Scherze
Zu oft die Rose, singet doch
  Einmal der Kirschen Schwärze!
 



Heute ist sie vor allem bekannt als erste Schriftstellerin deutscher Sprache, die von ihrem Schreiben leben konnte, Anna Louisa Karsch, geb. Dürbach (1722-1791). In ihrer Zeit galt sie als herausragendes lyrisches Talent, Goethe und Herder schätzten sie, Friedrich II. gewährte ihr Audienz, sie verkehrte in Berlin mit Lessing, Mendelssohn, Gleim und Sulzer.

Ihr Leben war von extremen Erfahrungen geprägt. Zunächst lebte sie nach dem frühen Tod des Vaters in einem Haushalt, der ihre Talente förderte, bei einem Großonkel. Dann kam sie zur erneut verheirateten Mutter auf einen Bauernhof und musst dort als wenig geliebtes Stiefkind mitarbeiten, als Viehhirtin und Kindermädchen ihrer Stiefgeschwister. Mit 16 Jahren verheirateten die Mutter und der Stiefvater sie mit einem Weber, der sie schikanierte und während ihrer vierten Schwangerschaft aus dem Haus jagte. Ihre Mutter zwang sie dann erneut in eine Heirat, mit dem alkoholkranken und gewalttätigen Schneidergesellen Daniel Karsch, mit dem sie vier weitere Kinder hatte.

Sie begann früh, mit Gelegenheitsdichtung Geld zu verdienen und wurde in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre bekannt durch ihre patriotischen Oden auf die Erfolge Friedrichs II. im Siebenjährigen Krieg. Gönner befreiten sie und ihre Kinder dann aus dem Herrschaftsbereich ihres Mannes - er wurde dann auch zum Militärdienst "eingezogen" - und ermöglichten ihr Aufenthalte in Berlin und Magdeburg, wo sie in die intellektuellen Zirkel und die Adelsgesellschaft eingeführt wurde und mit Steggreifgedichten in den Salons reüssierte. Allerdings erbot sich niemand, trotz verschiedener Versprechen, ihre Existenz auf eine finanziell gesicherte Grundlage zu stellen. Erst 1789 bekam sie von Friedrich Wilhelm II. ein kleines Haus in Berlin geschenkt, doch ohne Leibrente. So blieb sie bis ans Lebensende auf den Erwerb durch Gelegenheitsdichtung und Preisgesänge auf Angehörige des Adels angewiesen.

*

Von einer außergewöhnlichen sprachlichen und geistigen Souveränität kündet der Text "Lob der schwarzen Kirschen". Die Kirsche war der Barocklyrik eine bedeutsame Fruchtart, vor allem ihrer auf Transzendenz verweisenden weißen Blüte wegen. Karsch setzt dem die reife Frucht entgegen, wobei sie an exponierten Stellen, im Gedichttitel und nochmals im letzten Wort des Gedichtes, als Farbwert den ganz entgegen gesetzten nennt, substantivisch gefasst am Ende als "Schwärze" - auch wenn sie zuvor, der Wirklichkeit näher, "karfunkelfarbne" und "roth" anführt.

Der Text kommt gelöst und heiter daher und verrät nichts von den tragischen Hintergründen im Leben der Autorin. Er zeugt vielmehr von ihrer Neigung und Kraft, Humor gegen die Unbilde ihres Schicksals zu stellen. Explizit emanzipatorische Töne sind von dieser Autorin nicht zu hören, auch keine sonstig gesellschaftskritischen. Und doch birgt selbst dieser vermeintlich harmlose Text in seiner Farbensymbolik ein durchaus aufrührerisches Potential. Nehmen wir nur die siebte Strophe mit ihrer kecken Wendung gegen den "goldnen" Rheinwein und den "silbernen" Champagner zugunsten von "Kirschblut". Auch wenn die Farbe Rot zu Karsch Lebzeiten noch keinen klaren politischen Beiton hatte, diesen erst mit und im Gefolge der französischen Revolution kurz bekam, ist hier auch etwas von bürgerlichem Selbstbewußtsein zu hören.

Dazu fügt sich, dass auch religiöse Themen von ihr unorthodox angesprochen werden, gleichsam mit der Lizenz humoriger Hofnarretei versehen, schließlich handelt es sich um ein - wenngleich etwas anderes - Trinklied. So übersieht man leicht die Spitze, die Karsch mit dem Bezug auf John Miltons "Paradise Lost" setzt. Sie behauptet in der zweiten Strophe in einem reichlich verschwurbelten Kontext forsch, Milton habe Eva "gepriesen". Nun bleibt Milton jedoch durchaus im traditionellen Deutungsbereich von Eva als Mittlerin des Sündenfalls. Wo er diesen im IX. Buch beschreibt, gestaltet er jedoch eine sehr aufschlussreiche Reflexion Evas darüber, ob sie denn Adam in den Sündenfall einbeziehen solle, oder sich nicht besser die gottähnliche Klugheit alleine vorbehalten solle, um so mit Adam gleichzuziehen, nicht ihm untergeordnet zu bleiben.

*

Zweimal setzt Karsch sich in unmittelbaren Bezug zu Eva, in der zweiten und in der achten Strophe. Da sie Eva gleichsam als Aufklärerin und Dichterin sieht, wie die zweite Strophe mit dem Verweis auf "Paradise Lost" uns mitteilt, wirft dies ein durchaus interessantes Licht auf Karschs eigenes Selbstverständnis. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie den Text über die Kirsche auch noch in einer dritten Hinsicht (neben der politischen und der religiösen) als aufklärerisch verstanden hat, in einer allgemein lebenspraktisch-gesundheitsbezogenen Hinsicht.

Wie wir wissen, war ihr zweiter Ehemann Alkoholiker - was mit allen negativen Begleiterscheinungen, auch häuslicher Gewalt, verbunden war. Und hier gibt Karsch nun, hinter Augenzwinkern verborgen, Tipps, wie Alkohol etwas gesundheitsfördernder als üblich genossen werden könne. Nämlich durch Beigabe von Kirschsaft. Darüber hinaus stellt die Autorin sich als allgemeine Lebensberaterin vor. Auf die fiebersenkende Wirkung von Kirschsaft weist sie hin - und diese ist auch heute noch allgemein anerkannt, bezogen auf Sauerkirschensaft. Und von Sauerkirschen dürfte sie wohl (trotz der Farbangabe "schwarz") sprechen, die noch heute ihre Hauptanbaugebiete in Sachsen und Thüringen haben - während Süßkirschen eher in Süddeutschland heimisch sind. Weiter spricht Karsch die heilsamen Wirkungen des Kirschsafts auf die Lunge und die Leber an. Von denen ist heute nicht mehr vorrangig die Rede, aber die allgemein gesundheitsfördernde Wirkung insbesondere von Sauerkirschen ist bekannt.

Die Autorin widmet dem Gesundheitsthema drei Strophen von sieben, und zwar die mittleren. Womit die anderen Strophen eher zur Rahmung dieses zumindest formal zentralen Themenbereichs werden. Die rahmenden Strophen thematisieren einleitend und abschließend das defizitäre Verhältnis der Dichtkunst zur Kirsche sowie die Eva-Sündenfall-Legende. Kunstfertig verknüpft Anna Louisa Karsch dies alles zu einem Text, der durchaus auch als Lob der Aufklärung gelesen werden kann, die der Autorin bestens bekannt und vertraut war.





Johann Wolfgang Goethe
Ein gleiches/Wandrers Nachtlied
(1780)

Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.




Geschichte No 1, die Überlieferungsgeschichte: Am Abend des 06. September 1780 (nach anderen Quellen 1783) erreichte Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) auf einer Wanderung die damalige zweigeschossige Jagdhütte, im Besitz seines Herzogs, auf dem Kickelhahn (861 m) im Thüringer Wald, bei Ilmenau. Dort schrieb er - vielleicht erst am nächsten Tag - das Gedicht mit Bleistift auf die Bretterwand der Hütte, im oberen Zimmer, links neben das Südfenster. Im August 1831 besuchte Goethe die Hütte zum letzten Mal, begleitet vom Berginspektor Johann Christian Mahr. Der gibt Goethes eigenen Bericht bei diesem Besuch in seinen Aufzeichnungen wieder: "Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit meinem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben. Wohl möchte ich diesen Vers nochmals sehen und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es geschehen, so haben Sie die Güte mir solchen aufzuzeichnen." Die drittletzte Zeile lautete in der von Mahr überlieferten Hüttenfassung "Es schweigen die Vöglein im Walde". Mahr notiert als dem Wandtext angefügtes Datum den 07. September 1780. Die Hütte brannte 1870 ab, von Beerensammlern beim Nächtigen in Brand gesetzt, und wurde wenige Jahre später wieder originalgetreu aufgebaut - aber nun ohne die Goethesche Bleistiftnotiz. Von dieser Notiz existiert eine historische Fotografie von August Linde aus dem Jahr 1869. Diese zeigt "Die Vögel schweigen im Walde". Es ist allerdings ungewiss, ob es sich dabei wirklich um die Handschrift Goethes handelt.

Geschichte No 2, die Übersetzungsgeschichte: In der wieder aufgebauten Jagd- und Schutzhütte wurden im April des Jahres 2000 Glastafeln mit fünfzehn Übersetzungen dieses Textes angebracht. Darunter auch eine - sehr freie - Übersetzung ins Russische von Lermontow, zu der sich vortrefflich eine Lektion über Sinn und Gehalt von Lyrikübersetzungen entwickeln ließe. Bemerkenswert ist auch die Übersetzung ins Kasachische von Abai, der für die kasachische Identitätsbildung eine ähnliche Rolle spielte wie Goethe für die nationale Identitätsbildung in Deutschland. Ein im Internet kursierender Bericht besagt, eine japanische Übersetzung des Gedichtes von 1902 sei 1911 als japanisches Gedicht ins Französische übersetzt worden und als solches ins Deutsche mit folgendem Text:

Stille ist im Pavillon aus Jade.
Krähen fliegen stumm
zu beschneiten Kirschbäumen
im Mondlicht.
Ich sitze
und weine.

Ein bisschen mag man dabei an das Spiel "Die stille Post" denken. Allerdings wird dieser Bericht auf der Website des Ostasieninstituts der Hochschule Ludwigsburg 2015 als "moderne Sage" und "völliger Quatsch" bezeichnet. Verbreiter des Berichts ist - gewiss unfreiwillig, über die teilweise Veröffentlichung seines Buches bei Google Books - Dietmar Rösler, der ihn 1998 in "Deutsch als Fremdsprache außerhalb des deutschsprachigen Raumes" auf Seite 143 als Material zur "Diskussion des Übersetzungsbegriffs" bereitstellt. Als Quelle nennt Rösler Claudio Lange, Museum der Utopien vom Überleben, 1987. Lange selbst bietet als Quellenangabe im Katalog zur Ausstellung auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs Berlin lediglich ein handschriftlich krakeliges "Danke, Ingrid". Die älteste mir zugänglich gewordene Quelle ist "Goethe ist gut. Ein Goethe-Lesebuch für Kinder" von Dagmar Matten-Gohdes, 1982 erstmals erschienen. Dort wird die Geschichte ohne Quellenangabe als Faktum berichtet.

*

Johann Wolfgang von Goethe hat das Gedicht mit dem Titel "Ein gleiches" (meist überliefert als "Ein Gleiches") versehen. Aber auch als "Wandrers Nachtlied" ist es bekannt, als die Nummer Zwei, nach dem "eigentlichen" Nachtlied des Wanderers von 1776, "Der du von dem Himmel bist". Goethe hat diese beiden Texte in seiner Werkausgabe 1815 nacheinander geordnet, zuerst "Wandrers Nachtlied", dann "Ein gleiches". Daher wird der Titel "Ein Gleiches" in der Forschung bezogen auf das davor stehende Gedicht und interpretiert als: Gleichfalls ein "Wandrers Nachtlied", eben die Nummer Zwei.

Der Text entstand, als der Autor 31 Jahre alt war. Drei Jahre zuvor hatte der Tod seiner jüngere Schwester Cornelia mit 26 Jahren Goethe tief erschüttert. Die vier anderen, gleichfalls jüngeren Geschwister Goethes waren bereits bei oder bald nach der Geburt gestorben. Nur etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem letzten Besuch der Hütte starb Goethe selbst, mit 82 Jahren. Zeitlebens hatte er sich vor Tod und Krankheit gefürchtet, Kranke gemieden, den Tod ausgeblendet, "verdrängt", um es modern zu sagen. Bei der Lektüre des Textes an der Wand der Hütte 1831 habe er geweint, berichtete Johann Christian Mahr, und gesagt: "Ja: warte nur, balde ruhest du auch!".

Dieses Gedicht ist eines der wenigen, bei denen ich guten Gewissens sagen kann: Einfach selber lesen, das reicht schon. Was es hier braucht, ist vor allem eigene Erfahrung. Wer nie im Gebirge (es darf auch ein Mittelgebirge wie der Thüringer Wald sein) war, wird den Text nicht "verstehen" können, kann aber doch den Kern erfassen: Wenn wir uns am späten Abend oder in der Nacht fern aller menschlichen Siedlungen befinden, wenn es ganz still ist und nicht einmal ein leichter Wind geht, dann können wir eine Ahnung von unserem eigenen Tod als vollkommener Ruhe und Stille finden.

Die Qualität der künstlerischen Gestaltung dieses kurzen Textes zeigt sich in Melos und Rhythmus, aber auch inhaltlich an der unaufdringlich gestalteten Bewegung von großer Ferne zu innerer Nähe. Diese Bewegung wird entwickelt von "Gipfeln" über "Wipfeln" und "im Walde" zum "du", zu menschlicher Ansprache und Nähe, vermittelt über das Schweigen der Vögel.





Johann Wolfgang Goethe
Lied der Mignon
(1795)

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh' ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! Der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!




Das Lied "Nur wer die Sehnsucht kennt" findet sich in Goethes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre", das 1795/96 publiziert wurde. Johann Wolfgang Goethe lässt dieses Lied von dem geheimnisvollen Kind Mignon im Duett mit dem Harfner singen. Mignon stammt aus Italien und ist etwa zwölf Jahre alt, sie tritt bei einer Zirkusgruppe in Jungenkleidern auf. Wilhelm Meister entdeckt sie dort und kauft sie frei. Bekannt ist aus dem "Wilhelm Meister" auch das Mignon-Lied "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn".

Der Kontext des Liedes im Roman ist der folgende: Wilhelm war gerade einer schönen Unbekannten, einer höherstehenden Dame begegnet, in die er sich umgehend verliebte - der Minnesang lässt grüßen. Da hört er in der Nähe ein "unregelmäßiges Duett", gesungen von Mignon und dem Harfner, zwei Zentralfiguren des Romans: "Nur wer die Sehnsucht kennt ...". Mit Blick auf das andere allgemein bekannte Lied Mignons können wir auch hier ein Heimweh-Motiv vermuten, die Sehnsucht nach Italien. Allerdings wird in der Mitte des Textes dann eine konkrete Einzelperson ("Der mich liebt und kennt") als Ziel der Sehnsucht genannt. Und während es sich beim Lied "Kennst du das Land" um ein italienisch vorgetragenes Lied handelte, das von Wilhelm mit Mühe ins Deutsche übertragen wurde, wird "Nur wer die Sehnsucht kennt" offenkundig auf Deutsch vorgetragen.

Auch in "Kennst du das Land" wird ein Geliebter genannt - doch er ist nahe, die Frau des Liedes möchte mit ihm in das ersehnte Land ziehen. In "Nur wer die Sehnsucht kennt" ist jedoch der Geliebte selbst fern und seine Abwesenheit Grund des Leidens. Bemerkenswert ist dabei die komplex ausgeformte dialogische Struktur des Liedes, in welche diese Abwesenheit und das korrespondierende "allein und abgetrennt" eingebettet sind. Die erste Zeile hebt an mit "Nur wer" - die unmittelbare Evokation einer Gemeinschaft, die sich darin erkennt, dass ihre Mitglieder die "Sehnsucht" kennen. "Kennen" ist auch Schlüsselwort der Beziehung zum Geliebten, der "mich liebt und kennt". Das von Martin Luther geprägte "Erkennen" von Mann und Frau kehrt hier wieder.

Das "Ich" des Textes ist formal sehr zurückhaltend eingebracht, artikuliert sich unmittelbar nur im wiederholten "ich leide" und im "seh' ich". Ansonsten erscheint es indirekt im "mich", "mir" und "mein". Nebenbei werden hier höchst subtil alle vier Kasus durchgeführt mit dem "Ich". Diese anspruchsvolle Gestaltung verweist auf die außergewöhnliche Qualität des Textes, der vordergründig so schlicht daher kommt.





Johann Wolfgang Goethe
Nähe des Geliebten
(1795)

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
O, wärst du da!



Wer ist dieser rätselhafte Geliebte und wer singt dieses Lied? Die erste schlichte Vermutung, es handele sich um das Lied einer Frau, die ihren Geliebten vermisst, der unterwegs ist in fernen Ländern, vielleicht als Seemann, wird problematisch angesichts der eigenartigen Bilder, in denen der Geliebte gesehen und als nah empfunden wird. Da ist etwa die Rede von "tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege/Der Wandrer bebt". Ein Bild, das eher an Gott oder ein göttliches Wesen und seine schützende Gegenwart denken lässt denn an einen menschlichen Geliebten. Mit Göttlichem lässt sich auch eher das "Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege/Der Staub sich hebt" verbinden.

Unübersehbar ist die Präsenz des Meeres, genannt gleich in der zweiten Zeile und angedeutet im "wenn dort mit dumpfem Rauschen/Die Welle steigt". Die Zeit ist wohl die Abenddämmerung, klar genannt zum Ende des Textes: "Die Sonne sinkt; bald leuchten mir die Sterne." Auch in der ersten Strophe wird diese Übergangstageszeit angedeutet, vom Meere strahlt "der Sonne Schimmer", und gleich darauf zeigt sich "des Mondes Flimmer" auf der Wasseroberfläche von "Quellen".

Bezogen auf Göttliches klingt das neu einsetzende "Ich bin bei dir" der letzten Strophe eher vermessen. Doch denken wir an Rilkes "Du, Nachbar Gott" mit seinem "Ich bin ganz nah". Meint Goethe hier 100 Jahre früher etwas Ähnliches? Das wäre ungewöhnlich für die Zeit und fügt sich auch nicht gut in den gesamten Aufbau des Gedichtes. Auffallend ist die Entwicklung der Strophenanfänge von "Ich denke dein" über "Ich sehe dich" und "Ich höre dich" hin zu "Ich bin bei dir". Das deutet eher auf einen vermissten Menschen und die Annäherung an diesen im Gedenken hin.

Goethe bezieht sich teilweise wörtlich, vor allem aber in einigen zentralen Bildern auf ein Gedicht von Friederike Brun mit dem Titel "Ich denke dein" von 1792, das klarer als der Goethesche Text als Liebesgedicht auszumachen ist. Ein anderes Gedicht von Brun, 1788 geschrieben, trägt den Titel "An meinen Mann auf der Reise" und enthält gleichfalls einige Bilder, die dem Text Goethes sehr nahe stehen.

Im Vergleich zeigt sich, dass Goethes Text weit allgemeiner formuliert ist, künstlerisch stärker überformt und gegliedert. In dieser Formung gelingt Goethe auch ein perfekter Spannungsbogen hin zum abschließenden Vers "O, wärst du da!", der den Titel gerade nicht widerlegt, sondern die ganze Ambivalenz liebender Vergegenwärtigung aufzeigt, die den Anderen ganz nahe fühlt und doch auch schmerzlich die Distanz wahrnimmt.

Ein Text, der immer wieder zur Vertonung herausgefordert hat, früh schon durch Carl Friedrich Zelter, der den Text "Ich denke dein" von Friederike Brun vertont hatte - in dieser Vertonung lernte Goethe auch den Text von Brun bei einem Hauskonzert kennen. Wunderbar gelungen ist die Vertonung des Goetheschen Textes durch Franz Schubert von 1815 mit ihrem spannungsvoll-getragenen Gestus, der das "O, wärst du da!" in die gesamte Komposition hineinnimmt.

In "Wish You Were Here" von Pink Floyd heißt es: "We're just two lost souls/Swimming in a fish bowl/Year after year". Das Meer Goethes ist zum Goldfischglas geworden, aber der innigste Wunsch ist der gleiche geblieben, "O, wärst du da!"





Sophie Albrecht
Lied auf dem Kirchhofe
 
Sey leiser hier, du meines Kummers Klage,
   Und seufze nur, was mich zu Gräbern beugt;
Verzeiht - verzeiht, ihr Todten, daß ichs wage
   Zu jammern, wo des Schmerzes Stimme schweigt.
 
Nichts kann der Gräber stolze Ruhe stören,
   Der Friede wohnt im stillen Schattenreich;
Drum will ich heilig eure Thäler ehren,
   Ach! er, mein Herzensfreund, wohnt unter euch.
 
Mein Freund, der wieder all die süßen Bande,
   Die längst die Welt von meinem Herzen riß,
Sanft knüpft', und mir im finstern Wechsellande
   Elisiums ewig daurend Glück verhieß.
 
Die heiße Stirn gelehnt am kalten Steine,
   Der meiner Trauer stummen Hügel deckt;
Rinnt sanft, ihr Thränen! wie im Frühlingshayne
   Des Morgens Thau, der junge Rosen weckt.
 
Sie fließen nicht, dich Freyen zu beklagen,
   Der nicht im Kerker der Verwesung wohnt;
Dir jauchz' ich zu, dem nun nach schwülen Tagen
   Das kühle Wehn der Dulderpalme lohnt.
 
Dort seh ich dich den großen Morgen feyern,
   Der nur an jenem Purpurufer tagt;
Wohin keins von des Lebens Ungeheuern
   Durch Gottes Wachen sich hinüber wagt.
 
Nur mir, nur mir Gesunknen rinnt die Zähre,
   Nur mich Verlaßne klagt dies Thränenlied;
Mir ist die Welt nur eine öde Leere,
   Wo mir allein kein stiller Hügel blüht.
 
Er deckt mit dir auch alle bleichen Schrecken,
   Die Gruft und Tod mir einstens schaudernd gab;
So muß die Nacht den jungen Morgen wecken,
   Du starbst - und Heymath wird mir Tod und Grab.
 
Umschlungen unsrer schönsten Hoffnung Büste
   Späh ich, ob bald der Kahn herüber schwimmt,
Der mich von der Verwesung schwarzen Küste
   Zu dir - zu dir, mein Freund, hinüber nimmt.





Sophie Albrecht (1757-1840) gehört gewiss zu den bemerkenswertesten Frauen der bewegten Zeit um 1800. Geboren wurde sie im Dezember 1757 als Tochter des Professors für Medizin an der Universität Erfurt Johann Paul Baumer. Nach dem frühen Tod des Vaters heiratete sie 1772 einen Studenten ihres Vaters, Johann Friedrich Ernst Albrecht, der auch als Schriftsteller, Übersetzer und Verleger reüssieren sollte. Mit ihm hatte sie zwei Kinder. In den 90er Jahren geriet das Paar seiner Sympathien für die französische Revolution und einiger Ränke in Theaterkreisen wegen in Schwierigkeiten. 1798 ließ Sophie Albrecht sich von ihrem Mann scheiden, und heiratete ihren langjährigen Geliebten, den Leutnant Ferdinand von Hahn. Nach Hahns frühem Tod heiratete sie erneut Albrecht. Nach Albrechts Tod 1814 geriet die Autorin und Schauspielerin in finanzielle Probleme und musste Gelegenheitsarbeiten als Wäscherin und Haushälterin annehmen. Sie starb am 16. November 1840 im Armenhaus von St. Georg bei Hamburg (heute ein Stadtteil von Hamburg).

Als Kind fiel sie durch besondere Kühnheit auf, die bis zur ernsthaften Selbstgefährdung ging. Bei einem Sprung von einer meterhohen Galerie, mit dem sie ihren Freundinnen und Freunden imponieren wollte, zog sie sich eine Kopfverletzung zu, die sie fast das Leben gekostet hätte. Nur durch sofortige Hilfeleistung konnte sie gerettet werden. Berühmt und hoch umschwärmt wurde sie als Schauspielerin, insbesondere in Schillerschen Dramen. Mit Friedrich Schiller verband sie auch eine enge Freundschaft. Gemeinsam mit ihrem Mann erneuerte sie in Altona 1796 das 1783 gegründete Altonaer Nationaltheater. Als Schriftstellerin hatte sie weniger Erfolg als ihr Mann, der Theaterstücke und Romane schrieb, die ihn zu einem Lieblingsautor der Zeit machten, und der auch mit medizinischen Ratgebern und als Arzt Geld verdiente.

*

Ihr "Lied auf dem Kirchhofe" steht noch in der Tradition der barocken "Leichenreden", einer Tradition, der Sophie Albrecht offensichtlich und explizit verbunden war. In ihrem 1791 erschienenen Werk "Gedichte und Schauspiele" finden sich die Texte "An Frau Professorin Reinhardt in Erfurt, bey dem Tode ihres Sohnes" und "An Herrn Großmann, als seine Gattin starb", die noch enger an diese Tradition anschließen. Im gleichen Band findet sich auch ein "Lied auf dem Kirchhof zu singen", das als Bindeglied zu unserem Text gelesen werden kann, der nach dem Tod ihres zweiten Mannes, Ferdinand von Hahn, entstand.

Der Text ist handwerklich solide gearbeitet, die Bilder überraschen nicht durch sonderliche Originalität, aber es gibt auch keine schiefen Metaphern und schrägen Töne, hier schreibt keine Dilettantin, die ihr eigentliches Fach, die Schauspielerei, verlässt, sondern eine Lyrikerin. Was besonders anspricht, ist der klare und originelle gedankliche Aufbau des Textes, der seinen eigenen Ton findet.

Im Zentrum von Bildwelt und Gedankenwelt gleichermaßen steht das Grab des Geliebten als ein Ort, wo der Schmerz sich in Jammern zu lösen vermag, wo, modern gesprochen, "Trauerarbeit" stattfinden kann. Und diese Trauerarbeit findet zu bemerkenswerten Ergebnissen. So schon in der dritten Strophe zur Einsicht, mit welch gewaltiger Hypothek diese Liebesbeziehung belastet war. Sie sollte dem "finstern Wechsellande" des "Elisiums ewig daurend Glück" abringen.

Das musste scheitern - verweist aber auf eine Freiheit, die, ganz in Petrarcascher Tradition, in der fünften Strophe angedeutet und in den folgenden Strophen ausgeführt wird: einer Freiheit jenseits des "finstern Wechsellandes" und auch jenseits der Verwesung, für die der Friedhof steht. Das mag nun nicht so sehr gedankentief, sondern eher eskapistisch klingen. Doch verkennen wir nicht, dass es eingebunden ist und letztlich abgeleitet aus der Erkenntnis, dass die Trauernde nicht für den Verstorbenen weint, sondern für sich selbst, wie dies die fünfte und die siebte Strophe ausführen.





Friedrich Hölderlin
An Neuffer
Im März. 1794

Noch kehrt in mich der süße Frühling wieder,
Noch altert nicht mein kindischfröhlich Herz,
Noch rinnt vom Auge mir der Tau der Liebe nieder
Noch lebt in mir der Hoffnung Lust und Schmerz.
 
Noch tröstet mich mit süßer Augenweide
Der blaue Himmel und die grüne Flur,
Mir reicht die Göttliche den Taumelkelch der Freude,
Die jugendliche freundliche Natur.
 
Getrost! es ist der Schmerzen wert, dies Leben,
So lang uns Armen Gottes Sonne scheint,
Und Bilder beßrer Zeit um unsre Seele schweben,
Und ach! mit uns ein freundlich Auge weint.




"Noch altert nicht mein kindischfröhlich Herz" schreibt Hölderlin (1770-1843) hier mit gerade vierundzwanzig Jahren an den Kindheitsfreund Christian Ludwig Neuffer. Hölderlin wurde am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren. Wir können vermuten, dass dieses Gedicht auch als Geburtstagsgedicht für den Autor selbst gelten darf. Der Widmungsadressat Neuffer war Kommilitone am Tübinger Stift, wo Hölderlin 1788 bis 1793 Theologie studierte.

1794 begann der "Ernst des Lebens" für den jungen Theologen und Dichter, mit einer Hofmeisterstelle bei der Familie von Kalb seit Dezember 1793. Dem drohenden Dienst in der evangelischen Kirche hatte er sich damit entzogen. In Frankreich entwickelte sich zeitgleich die mit Robespierres Namen verbundene jakobinische Schreckensherrschaft. Von all dem findet sich in diesem Geburtstagsgedicht nur ein schwacher Reflex, etwa in dem fast beschwörenden "Noch lebt in mir der Hoffnung Lust und Schmerz" zum Ende der ersten Strophe.

Doch genauere Betrachtung zeigt die Folie, vor der diese "Hoffnung" sich abhebt. In der dritten Strophe ist von den "Schmerzen" des Lebens die Rede und von dem, was wir redensartlich kennen als "geteiltes Leid ist halbes Leid": Das Leben sei der Schmerzen wert, so lange "mit uns ein freundlich Auge weint". Wir dürfen hier einen klaren Appell an Neuffer lesen, mit dem Hölderlin "Bilder beßrer Zeit" verbinden. Mit Rudolf Magenau und Neuffer hatte Hölderlin im März (sic) 1790 einen Dichterbund gegründet, man las im Tübinger Stift gemeinsam Klopstock, Schubert und Schiller, man schrieb Gedichte, die man einander zeigte. Und man debattierte über die französische Revolution.

Dieser Hintergrund gibt dem so idyllisch daher kommenden Text, mit "blaue(m) Himmel" und "grüne(r) Flur", eine Tiefe, die mehr zu ahnen als zu lesen ist. An der Oberfläche ist dieser Text eben ein Geburtstagsgedicht, das den Frühling feiern möchte. Doch all die "Noch", das zweimalige Trösten, das "ach" der letzten Zeile verweisen auf einen Bruch.




Friedrich Hölderlin
Wie wenn am Feiertage ...
(1800)

Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn,
Ein Landmann geht, des Morgens, wenn
Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen
Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner,
In sein Gestade wieder tritt der Strom,
Und frisch der Boden grünt
Und von des Himmels erfreuendem Regen
Der Weinstock trauft und glänzend
In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines:

So stehn sie unter günstiger Witterung,
Sie die kein Meister allein, die wunderbar
Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen
Die mächtige, die göttlichschöne Natur.
Drum wenn zu schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs
Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern
So trauert der Dichter Angesicht auch,
Sie scheinen allein zu sein, doch ahnen sie immer.
Denn ahnend ruhet sie selbst auch.

Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,
Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.
Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten
Und über die Götter des Abends und Orients ist,
Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht,
Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder
Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,
Fühlt neu die Begeisterung sich,
Die Allerschaffende, wieder.


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Der unvollendete Hymnus "Wie wenn am Feiertage ..." wurde von Hölderlin im Jahr 1800 niedergeschrieben im Stuttgarter Foliobuch, S. 28-34, in zwei strophischen Entwürfen und einer Prosaskizze. Vorgesehen waren von Hölderlin 9 Strophen, die formal geordnet sein sollten nach dem Muster abc abc abc. Erstmals veröffentlicht wurde eine Kompilation 1910 von Stefan George und Karl Wolfskehl. 1916 publizierte Hellingrath den Text in der heute verbreiteten Fassung und mit dem Titel aus der Anfangszeile in seiner Werkausgabe Hölderlins.

Anfang 1800 war Hölderlin intensiv mit Pindar-Übersetzungen, ab Mai 1800 mit der Übersetzung der Tragödie "Die Bacchen" von Euripides beschäftigt. Das spiegelt sich in diesem Text deutlich wider, denn formales Vorbild war offensichtlich die griechische Chorlyrik. Und damit eine Form, die als Hintergrund eines theatralischen Geschehens den allgemeinen Rahmen einer Handlung, Erläuterungen und Kommentare dazu bekannt gibt und erzählt. Und so hebt dieses Gedicht auch inhaltlich mit Analogien zur antiken Chorlyrik an, in epischer Breite, mit der berühmten knappen Skizze einer ganzen Epoche, einer schon zu Hölderlins Zeiten vom technologischen Fortschritt in Frage gestellten Lebensform: "Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn, der Landmann geht, des Morgens". Dies geschieht im Konjunktiv, markiert durch das einführende "wie wenn". Damit klingt zugleich an, dass verloren sein könnte, was hier nun entworfen wird, dass wir einer Legende aus vergangenen Zeiten lauschen.

Diese Zeiten sind gezeichnet durch Bilder üppiger Natur und keimender Fruchtbarkeit. Hauptperson ist "die Natur", der Mensch nur Gast, Zuschauer im "wie wenn", zunächst als "Landmann", dann als "ich", welches in der dritten Strophe auftritt. Der "Feiertag" folgt auf einen Gewittersturm, der Regen gebracht hatte. Nun sind die Flüsse wieder beruhigt, das Hochwasser vorbei, die Äcker und Weinberge gedeihen nach dem erfrischenden Regenguss in der "stillen" Sonne. Das erinnert an den Beginn der "Bacchen", den Auftritt des Dionysos, die Bacchanalien sind abgemildert zu einem "wie wenn" Feiertag, die Blitze und der Donner des Zeus sind verzogen, nur noch der Weinstock steht ein für Dionysos.

*

Die erste Triade von Hölderlins "Wie wenn am Feiertage" stellt die Natur in den Mittelpunkt, die Natur als Wirkmacht, die noch über den Göttern des Orients und des Okzidents regiere. Die Natur, so heißt es in der zweiten Strophe, schlafe, was die Dichter trauern lasse, da ihnen die beseligende Kraft fehle. Doch dann erwacht die Natur in der dritten Strophe "mit Waffenklang", und die Dichter werden aufgerufen, es ihr gleich zu tun, wie die zweite Triade dann ausführt.

Hier wird gleich zu Beginn deutlich, dass "Taten der Welt" gemeint sind mit dem Werk der Natur, ihrem Erwachen. Es geht nicht um eine Allegorie des Frühlings hier, die erwachende Natur hat mit Geschichte und menschlichem Handeln, mit Politik und Gesellschaft zu tun. Anders wäre die vierte Strophe nicht zu verstehen. "Ein Feuer" sei "angezündet in Seelen der Dichter" und die Seele des Dichters nun aufgerufen zum "Gesang", der sowohl Götter als auch Menschen Werk offenbaren, preisen und verbreiten soll.

Ungeheuer wird der Anspruch dann in der letzten Triade. Der Prometheus-Mythos vom Lichtbringer wird in einem kühnen Bild zitiert: "daher trinken himmlisches Feuer jetzt/Die Erdensöhne ohne Gefahr". Und an den Dichtern sei es, die Botschaft des Zeus unters Volk zu bringen. Welche Botschaft? Zeus bringt Donner und Blitz, und wie wir in der Eingangsstrophe erfahren haben, bedeutet dies neue Fruchtbarkeit, "Feiertag" nach dem Sturm. Die Dichter also sollten den Sinn des Sturms aufklären und vermitteln.

Das Bild des Dichters ist eine Neuauflage des "poeta vates", des Dichters als Seher, Prophet, Künder, Botschafter der Götter - historisch prägend formuliert zuerst in Platons Dialog "Ion".

Wir dürfen vermuten, dass hier von Hölderlin ein Hymnus auf die französische Revolution (den "Sturm") und den politischen Aufbruch im Allgemeinen intendiert ist. Wobei die Bezüge zur Antike, zu einer vergöttlichten Natur und zu religiös-heilsgeschichtlichen Kategorien sicherlich von essentieller Bedeutung sind und nicht nur rhetorisches Mittel. Wie Hölderlin mit diesen Bezügen arbeitet, verdankt sich allerdings auch der Zensur und politischen Kontrolle in seinem Umfeld. Seine höchst verhüllende Ausdrucksweise macht den Text unzugänglich. Und letztlich scheiterte Hölderlin an seinem Anliegen literarisch, der Text blieb Fragment. Persönlich wurde er 1805 des politischen Hochverrates verdächtigt, auf Grund seiner Freundschaft mit Isaac von Sinclair. Beiden wurde, mit weiteren Freunden Sinclairs, Sympathie für die französische Revolution und konkret die Planung eines Attentates auf den Württembergischen Kurfürsten Friedrich I. vorgeworfen.

Die Ermittlungen gegen Hölderlin wurden wegen seines zerrütteten Geisteszustandes eingestellt. U.a. habe er während des Verfahrens mehrmals ausgerufen "Ich will kein Jacobiner sein" und Sinclair vollkommen unsinnig belastet. Sinclair wurde einige Wochen später vom Hochverratsvorwurf freigesprochen.





Friedrich Hölderlin

Hälfte des Lebens
(1803)

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.




1803 erreichte Hölderlin (1770-1843) das "Christusalter" von 33 Jahren. Damit dürfen wir einen biographischen Anlass für das Gedicht zumindest vermuten. Biographisch ist weiters darauf zu verweisen, dass Hölderlin zu dieser Zeit bereits erheblich an den Symptomen einer 1801/02, auf der "Winterreise" nach Bordeaux und zurück, manifest werdenden Nervenkrankheit litt, die 1806 die Einweisung in das Tübinger Universitätsklinikum zur Folge hatte und ab 1807 bis zum Lebensende den betreuten Aufenthalt im Tübinger "Turmzimmer" des Tischlers und Hölderlin-Bewunderers Ernst Zimmer. Damit ist das Gedicht selbstverständlich nicht bereits "gedeutet", aber dieser Hintergrund sollte zumindest bekannt sein.

Dass der Hinweis auf das "Christusalter" nicht zu sehr strapaziert werden darf, zeigt schon der Umstand, dass "Hälfte des Lebens" offenkundig aus einem Odenfragment mit dem Titel "Die Schwäne" entstand, welches bereits 1800 verfasst wurde.

Formal entspricht das Gedicht seinem Titel durch eine klare Zweigliederung in die beiden siebenzeiligen Strophen. Bildlich wird die Teilung im "heilignüchterne(n) Wasser". Die Wasseroberfläche trennt die beiden Bereiche des Gedichtes, die Zeit vor der Wende und die Zeit danach. Dem korrespondiert eine jahreszeitliche Gliederung in Sommer/Herbst und Winter.

Herbstlich sind die reifen Birnen, die wilden Rosen und die Schwäne. Wobei dieser Herbst auch mit frühlings- und sommerhaften Zügen gestaltet ist, denn es bleibt unklar, ob die "wilden Rosen" in der Blüte stehen, oder ob Hagebutten gemeint sind, die Früchte der wilden Rosen. Auch das "Küssen" der Schwäne ist kein eindeutiges Herbstbild, wenngleich Schwäne in der Zeit um 1800 dem Herbst zugeordnet waren, da die Singschwäne nur im Herbst zu uns kamen aus ihrer nördlichen Heimat. In der Forschung wird die erste Strophe zumeist dem Sommer zugeordnet. Birnen reifen bekanntlich recht früh und Rosen blühen auch im Spätsommer noch.

Die zweite Strophe ist gezeichnet in düsteren Klängen, es gibt keine Blumen mehr, keine Sonne und auch, zunächst irritierend, keinen "Schatten der Erde". Nun gehört der Schatten eben notwendig zur Sonne, und es spricht für die lyrische Stärke Hölderlins, dass er beide Aspekte des Sommers (wie immer konkret oder bildlich wir das verstehen wollen) anspricht und vermisst - die nun im Winter fehlen. Es fehlt Spannung, es fehlt Kommunikation, die Mauern stehen "sprachlos und kalt". Gespräch, was Hölderlin ein essentielles Lebensmoment war, findet nur noch als Monolog statt, es "sprechen" die klirrenden Fahnen. Wir können darin auch ein Bild für das sich abzeichnende weitgehende Verstummen des Dichters lesen.

In der Forschung gibt es eine lange Debatte darüber, wie wir uns denn "klirrende" Fahnen vorzustellen hätten. Eine Anwort heißt, es handele sich um Wetterfahnen aus Metall. Es schadet sicherlich nicht, auch daran zu denken. Aber für das Bild selbst ist dies nach meiner Einschätzung nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Hölderlin hier eine Bestimmung wählt, die das Bild des Winters weiter gestaltet und konkretisiert. Den "klirrenden" Frost kennen wir alle. Aber ein solch verbrauchtes Bild verwendet Hölderlin hier nicht. Auch darin sein Können erweisend.





Novalis
Marienlied
(1800)

Ich sehe dich in tausend Bildern,

Maria, lieblich ausgedrückt,

Doch keins von allen kann dich schildern,

Wie meine Seele dich erblickt.



Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel

Seitdem mir wie ein Traum verweht

Und ein unnennbar süßer Himmel

Mir ewig im Gemüte steht.




Friedrich von Hardenberg (1772-1801) gab sich selbst das Pseudonym "Novalis", unter dem er in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Er wählte den Namen für seine erste Veröffentlichung, "Blüthenstaub", erschienen 1798 in der Zeitschrift "Athenaeum", die von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben wurde.

In der Gedichtesammlung "Geistliche Lieder" des Autors finden sich zwei Texte, die Maria gewidmet sind, die Nummern XIV und XV. Das Lied XV, der letzte Text der Sammlung, ist als "Marienlied" allgemein bekannt. In der Forschung wird es auch als das "kleine Marienlied" angesprochen, im Unterschied zum "großen Marienlied", Text XIV. Ist in Text XIV die Rede von "Mutter" und "Königin", so wird erst in Text XV auch der Name "Maria" genannt.

Trotz des eindeutigen religiösen Rahmens wird unser Text in der Regel auf die bereits mit 15 Jahren in qualvoller Krankheit verstorbene erste Braut des Dichters bezogen, Sophie von Kühn, mit der Novalis an ihrem 13. Geburtstag sich verlobte - er selbst stand da kurz vor seinem 23. Geburtstag. Die Liebe zur verstorbenen Braut sei, so der gängige Deutungsansatz, transformiert in die Marienverehrung. Umgekehrt kann allerdings auch schon gelten, dass die Beziehung zu seiner Sophie von Novalis von Anbeginn religiös-mystisch überhöht wurde. Die Geliebte galt ihm als Mittlerin zur göttlichen Sphäre - Petrarcas Laura-Bild bietet sich an als Referenz. Dass Novalis Petrarcas Laura-Texte kannte, geht u.a. aus einem Brief an seinen Lehrer C.G. Wolf von 1789 hervor. Dort schreibt Novalis:

"Du lehrtest mir singen Petrarcas Gesang
Der zu des göttlichen Mädchens Füßen
Den reinsten Strom platonischer Liebe trank
Und seine Fantasie in höhere Welten schwang"

Befremdlich klingt heute, dass Friedrich von Hardenberg den Tod Sophiens später geradezu als Voraussetzung seiner eigenen Dichter-Werdung beschreibt. Allerdings müssen wir einbeziehen, dass im 18. Jahrhundert der Glaube an das Fortleben Nahestehender als Schutzgeister, Genien oder Engel durchaus verbreitet war. Vergleiche hierzu Udo Dickenberger: "Schutzgeister in der Goethezeit", 1991. Und der frühe Tod Nahestehender, auch von Kindern und Jugendlichen, gehörte zur Alltagserfahrung.

Margot Seidel führt in ihrer Novalis-Dissertation von 1973 aus, dass der katholische Marienkult im intellektuellen Protestantismus um 1800 zum Sophia-Kult wurde, zur Feier der Schutzgöttin philosophischer Lebensführung: "Bekanntlich schufen die protestantischen Mystiker ihrem Verehrungsdrang einen Marienersatz in Sophia, der himmlischen Weisheit." (Seidel 1983, S. 131). Seidel verweist zu dieser Verschmelzung von Maria und Sophia auch auf Herder, Lavater, Klopstock, Wackenroder, Tieck, die Gebrüder Schlegel, Goethe und Schiller.

Die "tausend Bilder", von denen der vorliegende Text spricht, lassen sich durchaus sinnvoll auf die bunte und bilderfreudige Marienikonographie im Katholizismus beziehen. Dieser Ikonographie stellt Novalis die eigene Marienerfahrung gegenüber, den Blick seiner "Seele". Eine innere Wahrnehmung wird dabei explizit als einer tausendfachen äußeren Wahrnehmung weit überlegen bezeichnet. Dies lässt sich auch lesen als kritische Distanz zu Versuchen, Religiosität über Andachtsbilder und ähnliche "propagandistische" Maßnahmen zu verbreiten. Dazu fügt sich auch die Distanz zu "der Welt Getümmel".

Aus der Überlieferungsgeschichte ist bedeutsam, dass sich die Handschrift zum Lied auf den selben Manuskriptblättern findet wie die Klingsohr-Lieder aus dem 6. Kapitel des "Heinrich von Ofterdingen". In der Forschung wird daher vermutet, das Lied sei für die Fortsetzung des Romans bestimmt gewesen und sei mit Bezug auf die Mathilden-Vision Heinrichs zu lesen. Was wiederum die Auffassung einer engen Beziehung zur Sophien-Erfahrung bestätigt.

Lektüreempfehlung: Margot Seidel, Novalis' Geistliche Lieder, Frankfurt u.a.: Peter Lang, 1983





Karoline von Günderrode
Mahomets Traum in der Wüste
 

    Bei des Mittags Brand
    Wo der Wüste Sand
Kein kühlend Lüftchen erlabet,
Wo heiß, vom Samum nur geküsset,
Ein grauer Fels die Wolken grüßet
Da sinket müd der Seher hin.
 
    Vom trügenden Schein
    Will der Dinge Seyn
Sein Geist, betrachtend hier, trennen.
Der Zukunft Geist will er beschwören,
Des eignen Herzens Stimme hören,
Und folgen seiner Eingebung.
 
    Hier flieht die Gottheit,
    Die der Wahn ihm leiht,
Der eitle Schimmer verstiebet.
Und ihn, auf den die Völker sehen,
Den Siegespalmen nur umwehen,
Umkreist der Sorgen dunkle Nacht.
 

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Karoline von Günderrode wurde am 11. Februar 1780 in Karlsruhe als Tochter eines badischen Kammerherren geboren. Der Vater verstarb 1786, die Mutter siedelte dann mit Karoline und ihren vier Geschwistern (drei Schwestern und ein Bruder) nach Hanau, in die Nähe ihrer Eltern um. Mit siebzehn Jahren trat Karoline auf Wunsch ihrer Mutter in das Cronstetter-Hynspergische Stift für adelige Damen in Frankfurt am Main ein. An einer Versorgung durch Heirat hatte Karoline von Günderrode kein Interesse. 1801 schrieb sie an die jüngere Schwester von Clemens Brentano, Gunda: "Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch, mich in ein wildes Schlachtengetümmel zu werfen, zu sterben. Warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeit. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd, und so uneins mit mir (...)."

1799 lernte sie Friedrich Carl von Savigny kennen, mit dem sie später wohl eine kurze Liebesaffäre hatte, der dann allerdings 1803 Gunda Brentano heiratete. 1804 begegnete Karoline von Günderrode in Heidelberg dem mit einer dreizehn Jahre älteren Frau verheirateten Philologen und Mythenforscher Georg Friedrich von Creuzer. Es entwickelte sich eine Beziehung, die Creuzer zwei Jahre später schriftlich beendete. Karoline erhielt seine Nachricht am 26. Juli 1806. In der darauf folgenden Nacht erstach sie sich mit einem Messer am Ufer des Rheins bei Winkel.

Unter dem männlichen Pseudonym "Tian" veröffentlichte Karoline von Günderode 1804 "Gedichte und Fantasien", 1805 den Gedichtband "Poetische Fragmente" sowie die Dramen "Uhdohla", "Magie und Schicksal" und "Mahomed". "Mahomets Traum in der Wüste" erschien im Band "Gedichte und Fantasien".

Die Seher-Figur begegnet bei Friedrich Schleiermacher, mit dessen Schriften sich Günderrode, gemeinsam mit Bettina Brentano, der innigen Jugendfreundin, intensiv beschäftigt hatte. Was der Seher prophezeit, ist ein kommendes Goldenes Zeitalter, er verfügt über die "Wahnsagekunst", wie Schleiermacher "manik" übersetzt, daher der "Wahn" in der dritten Strophe. Dass Günderrode Mahomet als diesen Seher wählt, erklärt sich aus der Mohammed-Begeisterung der Zeit um 1800. Mohammed galt als Religionsstifter, der nicht nur mit Worten, Wundertaten und Erleiden wie Christus, sondern durch aktives Eingreifen in das politisch-gesellschaftliche Geschehen Zukunft gestalten wollte. Auch Goethe hatte ein Mohammed-Drama in Arbeit, kam aber nicht über Fragmente hinaus.
 
Literarisch kann mich das Gedicht nicht überzeugen, doch als Kulturdokument ist es zweifellos von ganz erheblicher Bedeutung, zumal zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wo die Bedeutung des Islam für Europa erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.

Lektüreempfehlung: Waltraud Schade, Bettine Brentano und Karoline von Günderrode. Ein Gespräch, Frank & Timme 2006





Bettina von Arnim
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
(1835)


Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt?

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.


Was wir von Bettine Brentano/Bettina von Arnim (1785-1859) vor allem kennen, ist ihr Briefwechsel mit Goethe, den sie 1835 nach dessen Tod in stark redigierter Gestalt herausgab, als "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde". Damit hat sie selbst wesentlich dazu beigetragen, für die Nachwelt das Bild eines reichlich überspannten lebenslang "kleinen" Mädchens zu hinterlassen, das im Schatten eines großen Bruders (Clemens Brentano), eines angesehenen Ehemannes (Achim von Arnim) und eines väterlich-/großväterlichen Vorbildes (Johann Wolfgang von Goethe) stand. Es blieb den 1980er Jahren vorbehalten, dieses Bild unter dem Einfluss der Studentenbewegung und des Feminismus zum 200. Geburtstag zu korrigieren. Hilfreich war dabei auch die Veröffentlichung von Auszügen ihres geplanten "Armenbuches" 1962, das sich mit den sozialen Problemen der Zeit auseinandersetzte.

Geboren wurde die Schriftstellerin als Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano am 04. April 1785 in Frankfurt am Main, genannt wurde sie Bettine oder Bettina. Nach dem Tod der Mutter 1783 kommt Bettine in die Klosterschule der Ursulinen, nach dem Tod des Vaters 1797 zur Großmutter Sophie von La Roche, die als Schriftstellerin in Offenbach lebte. Goethe lernte sie 1807 kennen, nachdem sie zuvor schon Goethes Mutter ihre Aufwartungen gemacht und deren Zuneigung im Sturm erobert hatte. 1811 heiratete sie den Freund ihres Bruders, Achim von Arnim. Bald darauf kam es zum Bruch mit Goethe, nachdem, Gerüchten zufolge, Bettina von Arnim dessen Frau Christiane als "wahnsinnige Blutwurst" tituliert hatte. Das Ehepaar von Arnim bekam sieben Kinder. 1831 stirbt Achim von Arnim, hoch verschuldet. Bettina von Arnim kann durch das geschickte Marketing von "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" erheblich zum Unterhalt der Familie beitragen und engagiert sich in der Folgezeit nicht nur literarisch, sondern auch vermehrt sozial und politisch. Ab 1844 arbeitete sie an ihrem "Armenbuch". Die 48er Revolution hat sie begrüßt. Am 19. Januar 1859 stirbt sie in Berlin, mit Blick auf eine Goethe-Büste.

Der junge Goethe war ein leidenschaftlicher Verehrer der Mutter Bettine Brentanos, Maximiliane Euphrosyne von La Roche, und wurde vom Ehemann (der 21 Jahre älter war als seine Frau) auch einmal mit schallender Ohrfeige aus dem Haus geworfen. Angeblich fand Bettine Brentano Liebesbriefe Goethes an ihre Mutter auf dem Dachboden ihrer Großmutter, die Echtheit ihrer "Kopien" wird allerdings angezweifelt.

*

Das Gedicht "Auf diesem Hügel" finden wir in "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" und es steht dort im "Tagebuch". Ob es sich um einen Text von Bettina oder ein Gedichtzitat handelt, ist in der Forschung umstritten. Ich nehme es als einen Text Bettina von Arnims, die selbst ein sehr modernes, gleichsam poststrukturalistisches Verhältnis zur Autorschaft hatte, das der Romantik insgesamt vertraut war. Es liegt dann nahe, "Deines Daches Zinne" in der dritten Strophe des Gedichtes auf Goethes Haus in Weimar zu beziehen. Auffallend ist auch der Bezug zu Goethes Text "Der Türmer" ("Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt") und zur Seher-Figur bei Schleiermacher. Ganz eigenständig aber und mit bestechender Gestaltungskraft entwickelt der Text daraus eine ganz und gar individuelle Auseinandersetzung mit der thematischen Spannung von Weitblick und Selbstbezug, Fernweh und Heimatverbundenheit, Sehertum und Alltag.

Die letzten beiden Zeilen könnten eine "weibliche" Begrenzung auf Heim und Herd und die Unterordnung unter das "Dach" des Mannes suggerieren. Doch es ist der - weibliche - Blick, der hier Geborgenheit in einer Eigenwelt gewährt, keineswegs wird die Perspektive des Mannes übernommen. Diese wird vielmehr in der mittleren Strophe eindeutig abgewehrt. "Nichts ist's" was in der Welt des Mannes ihren Blick fesseln könnte, nicht "Schiffe", nicht "Städte fern und nah". Der "Länder steilste Höhen" stehen ihr zwar zur Verfügung, doch sie interessieren sie nicht, die Aussicht von dort kann sie nicht reizen.

Selbst die Schau über "Paradiese" - wir können lesen: das von den männlichen Intellektuellen der Romantik versprochene Goldene Zeitalter - interessiert sie nicht. Sie sehnt sich nach den "Auen", die einige Abschnitte zuvor von ihr genannt werden ("ich sitze hier alleine und übersehe die Wege, die Du durch diese Auen geleitet hast"). Ganz unerhört ist diese Zeile: "Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt" - unerhört durch den Begriff des sich Stellens, der hier den Ausflüchten eines romantisierenden Sehertums entgegengestellt wird. Und dieser entschiedene "Blick", nicht des "Daches Zinne", umgrenzt die Welt des Ich. Diese Autorin war - wohl nicht nur in ihrer Lyrik - groß, und wo sie sich selbst kleingeredet hat (sie war immerhin schon 22 Jahre alt, als der Briefwechsel mit Goethe seinen Anfang nahm), tat sie dies gewiss auch mit einem klugen Blick auf die Bedingungen des (Bücher-)Marktes.

Lektüreempfehlung: Ulrike Growe, Das Briefleben Bettine von Arnims, Königshausen & Neumann 2003





Annette von Droste-Hülshoff
Unruhe
(1816)

Lass uns hier ein wenig ruhn am Strande,
Foibos Strahlen spielen auf dem Meere.
Siehst du dort der Wimpel weiße Heere
Reisge Schiffe ziehn zum fernen Lande?

Ach, wie ists erhebend sich zu freuen
An des Ozeans Unendlichkeit!
Kein Gedanke mehr an Maß und Räume
Ist, ein Ziel, gesteckt für unsre Träume;
Es zu wähnen dürfen wir nicht scheuen
Unermeßlich wie die Ewigkeit.

Wer hat ergründet des Meeres Grenzen,
Wie fern die schäumende Woge es treibt?
Wer seine Tiefe, wenn mutlos kehret
Des Senkbleis Schwere,
Im wilden Meere
Des Ankers Rettung vergeblich bleibt?

Möchtest du nicht mit den wagenden Seglern
Kreisen auf dem unendlichen Plan?
O, ich möchte wie ein Vogel fliehen,
Mit den hellen Wimpeln möcht ich ziehen,
Weit, o weit, wo noch kein Fußtritt schallte,
keines Menschen Stimme widerhallte,
Noch kein Schiff durchschnitt die flücht’ge Bahn.

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An ihr kommt niemand vorbei, der sich mit deutschsprachiger Lyrik beschäftigt, jeder kennt sie aus dem schulischen Deutschunterricht: Annette von Droste-Hülshoff, die große alte Dame der deutschen Lyrik. Sarah Kirsch schreibt mehr als 100 Jahre nach ihrem Tod "Der Droste würde ich gern Wasser reichen". Geboren wurde sie im Januar 1797 als Siebenmonatskind, als Tag werden der 10. (Kirchenbuch), der 12. (Familie) und der 14. (Kirchenbuch korrigiert) Januar genannt, auf Schloss Hülshoff im Münsterland. Sie starb am 24. Mai 1848 an einem Herzversagen auf der Meersburg am Bodensee, einem Besitz ihres Schwagers Joseph von Laßberg, wo sie die letzten sieben Lebensjahre überwiegend verbracht hatte.

Ihre Familie war wohlhabend durch Grundbesitz, gehörte dem alten westfälischen Adel an, etwa 100 Bauernfamilien entrichteten Abgaben, der Namensteil "Droste" verweist zudem auf das Amt des Truchseß, das einige Vorfahren der Lyrikerin innehatten. Droste-Hülshoff konnte durch ihr Schreiben zwar ab Ende der 1830er Jahre eigenes Einkommen erzielen und sich ein stückweit eine eigenständige Existenz aufbauen, blieb jedoch bis zuletzt, auch durch ihre häufigen Krankheiten, in Abhängigkeit von der Familie.

Sie selbst hielt viel von ihrer schriftstellerischen Arbeit, zumindest erwartete sie neben der zeitgenössischen Anerkennung - die sich auch in entsprechenden Honoraren niederschlug - auch ein Fortleben ihrer Literatur, wie in der Sammlung "Das geistliche Jahr" zu lesen ist:

Meine Lieder werden leben,
Wenn ich längst entschwand
Mancher wird vor ihnen beben,
Der gleich mir empfand.
Ob ein andrer sie gegeben
oder meine Hand:
Sieh, die Lieder durften leben,
Aber ich entschwand.

Ihre Werke, darunter neben Gedichten auch die 1842 veröffentlichte Novelle "Die Judenbuche", gehören zum Grundbestand der deutschsprachigen Literatur. Dazu beigetragen hat sicherlich der versöhnliche Ton, den sie auch bei schwierigen Themen - an denen ihr Werk überreich ist - anschlägt. Leserfreundlich in einem historisch inzwischen überholten Sinn ist auch ihre Neigung zu lebensvollen Bildern und dramatischen Handlungen. Die Opulenz ihrer Balladen findet heute kaum noch ein geneigtes Lesepublikum.

*

Das Gedicht "Unruhe" entstand Januar/Februar 1816, zu einer Zeit, als die Autorin erste Anerkennung im kleinen Kreis gefunden hatte, insbesondere durch den väterlichen Mentor Anton Mathias Sprickmann, aber auch durch Wilhelm Grimm, einen engen Freund ihrer älteren Schwester Jenny. Mit dem 47 Jahre älteren Sprickmann scheint sie auch eine erste Liebesschwärmerei zu verbinden, ihre Briefe aus der Zeit zeigen dies - und darüber hinaus eine Neigung zu depressiven Verstimmungen.

Veröffentlicht wurde das Gedicht zu Lebzeiten nicht, die Autorin schickte es an Sprickmann mit dem Wunsch, es "gütig" aufzunehmen und gabe es zwei Freundinnen für deren Alben. Es liegt in verschiedenen geringfügig voneinander abweichenden Varianten vor, von denen keine als "letzter Hand" gelten kann. Ich habe mich an der historisch-kritischen Ausgabe Band 2.2 orientiert. Der Text steht für die schon früh ausgeprägte Neigung der Autorin zu erzählender Lyrik, zu Balladen insbesondere. Der balladenartige Ton ist allerdings durch und durch persönlich, die Du-Anrede gleich zu Beginn ist ernst zu nehmen, auch wenn die Bilderwelt eher einer historischen Abenteuer- und Seefahrererzählung zu entstammen scheint, mit Heeren, Wimpeln, Schiffen ("reis'ge" bedeutet: zur Reise bereite), Meer und "wagenden Seglern". Auffallend ist, neben der wiederkehrenden Du-Anrede, auch die Dominanz der Fragen, vier Strophen enden mit einem Fragezeichen und von den wenigen Ausrufezeichen steht eines hinter "Stille, stille, mein törichtes Herz" und eines hinter "ach". Die persönliche Dimension wird auch im Begleitbrief an Sprickmann angesprochen, worin die Autorin angibt, das Gedicht male "den jetzigen Zustand meiner Seele vollkommen".

Strand und Meer werden zu den Ingredienzen einer Seelenlandschaft, deren bestimmendes Thema der Gedichttitel nennt. "Unruhe" steht für eine diffuse Sehnsucht nach Unbekanntem, nach Weite, nach Aufbruch, Wildheit, Entdeckung, Ferne, Veränderung. "Maß und Räume", "Raum und Zeit" werden genannt als die zu überwindenden Einschränkungen - das kennen wir aus der Literatur des Sturm und Drang, gedeutet wird es für diese Epoche als Entsprechung zum politisch-gesellschaftlichen Aufbruch der Aufklärung. Bei Annette von Droste-Hülshoff wird das ins persönliche gewendet, mit biedermeierlichen Zügen. Auch scheint ein privates Motiv auf, die Einengung durch die eigene Herkunft und Familie. "Fesseln will man uns am eignen Herde" heißt es in der letzten Strophe, woraus auch ein Protest gegen die zeitgenössische Rollenfixierung für die Frauen herausgelesen werden kann.





Heinrich Heine

Buch der Lieder - Junge Leiden - Traumbilder 3
(1827)

Im nächtgen Traum hab ich mich selbst geschaut,
In schwarzem Galafrack und seidner Weste,
Manschetten an der Hand, als gings zum Feste,
Und vor mir stand mein Liebchen, süß und traut.

Ich beugte mich und sagte: »Sind Sie Braut?
Ei! ei! so gratulier ich, meine Beste!«

Doch fast die Kehle mir zusammenpreßte

Der langgezogne, vornehm kalte Laut.

Und bittre Tränen plötzlich sich ergossen

Aus Liebchens Augen, und in Tränenwogen

Ist mir das holde Bildnis fast zerflossen.

O süße Augen, fromme Liebessterne,

Obschon ihr mir im Wachen oft gelogen,

Und auch im Traum, glaub ich euch dennoch gerne!




Heinrich Heine (1797-1856) gilt als großer Ironiker und Spötter unter den Dichtern und schrieb Kabarett-Songs, als es noch kein Kabarett gab. Die Vorläufer dieser Kunstform wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts in Paris entwickelt. Zugleich steht Heine erkennbar der romantischen Literaturströmung nahe, die Ironie noch einband in einen idealistischen Theorierahmen. Bei Heine aber wissen wir oft nicht, wie "ernst" wir das Spiel mit den romantischen Themen, insbesondere dem Liebesthema, aber auch dem Naturpreis und der Gesellschaftskritik, nehmen dürfen, müssen.

Die Kategorie "Junge Leiden", der unser Gedicht eingeordnet ist im "Buch der Lieder", erinnert an Petrarcas Einleitungssonett zum "Canzoniere", wo dieser sich gleichsam entschuldigt für das jugendliche Gejammere über seinen Liebesschmerz. Heine scheint eine eigene Liebesbeziehung hier mit noch größerer Distanz zu betrachten, in einer Traumszene, die Bilder einer Hochzeit vorspielt, aber unklar lässt, wer hier wen heiratet. Den Bezug zu Petrarca unterstreicht Heine selbst mit dem Titel "Buch der Lieder", das als Übersetzung von "Canzoniere" gelesen werden kann.

Das zweite Quartett legt nahe, dass das träumende Subjekt nur als Gast anwesend ist, dass sein "Liebchen" einen anderen heiratet, sonst wäre die Frage an die "Braut" nicht verständlich. Eine Frage, die vom Sprechenden voll Bitternis, mit "vornehm kalte(m) Laut" gesprochen wird, und die Angesprochene weinen macht. Der Träumende möchte den Tränen gerne glauben obgleich, wie er behauptet, sein "Liebchen" ihn oft belüge. Somit würde es die "Braut" also schmerzen, nicht ihn, den Träumenden, sondern einen anderen zu heiraten.

Unglückliche Liebe in einem Dreiecksbezug finden wir bei Heine als Motiv häufig gestaltet, etwa in einer "Romanze" aus den "Jungen Leiden", "Der arme Peter". Zum allgemeinen Phänomen, "es ist eine alte Geschichte", erklärt Heine die irregehende, nicht erwiderte, einen Dritten involvierende Liebe im "Lyrischen Intermezzo" mit der Nummer 39, "Ein Jüngling liebt ein Mädchen".







Eduard Mörike
Erinna an Sappho
(1863)

(Erinna, eine hochgepriesene junge Dichterin des
griechischen Altertums, um 600 v. Chr., Freundin und Schülerin Sapphos zu Mitylene auf Lesbos. Sie starb als Mädchen mit neunzehn Jahren. Ihr berühmtestes Werk war ein episches Gedicht, »Die Spindel«, von dem man jedoch nichts Näheres weiß. Überhaupt haben sich von ihren Poesien nur einige Bruchstücke von wenigen Zeilen und drei Epigramme erhalten. Es wurden ihr zwei Statuen errichtet, und die Anthologie hat mehrere Epigramme zu ihrem Ruhme von verschiedenen Verfassern.)

"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heisst ein
Altes Liedchen – "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht!" Wer, süßeste Sappho, zweifelt?
Sagt es nicht jeglicher Tag?
Doch den Lebenden haftet nur leicht im Busen
Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer von Kind auf
Hört im stumpferen Ohr der Wogen Geräusch nicht mehr.
– Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Vernimm!

Sonniger Morgenglanz im Garten,
Ergossen um der Bäume Wipfel,
Lockte die Langschläferin (denn so schaltest du jüngst Erinna!)
Früh vom schwüligen Lager hinweg.
Stille war mein Gemüt; in den Adern aber
Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.

Als ich am Putztisch jetzo die Flechten lös'te,
Dann mit nardeduftendem Kamm vor der Stirn den Haar-
Schleier teilte, – seltsam betraf mich im Spiegel Blick in Blick.
Augen, sagt ich, ihr Augen, was wollt ihr?
Du, mein Geist, heute noch sicher behaus't da drinne,
Lebendigen Sinnen traulich vermaehlt,
Wie mit fremdendem Ernst, lächelnd halb, ein Dämon,
Nickst du mich an, Tod weissagend!
– Ha, da mit eins durchzuckt' es mich
Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein tödlicher Pfeil
Streifte die Schläfe hart vorbei,
Dass ich, die Hände gedeckt aufs Antlitz, lange
Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab.

Und das eigene Todesgeschick erwog ich;
Trockenen Augs noch erst,
Bis da ich dein, o Sappho, dachte,
Und der Freundinnen all,
Und anmutiger Musenkunst,
Gleich da quollen die Tränen mir.

Und dort blinkte vom Tisch das schöne Kopfnetz, dein Geschenk,
Köstliches Byssosgeweb, von goldnen Bienlein schwärmend.
Dieses, wenn wir demnächst das blumige Fest
Feiern der herrlichen Tochter Demeters,
Möcht ich ihr weihn, für meinen Teil und deinen;
Dass sie hold uns bleibe (denn viel vermag sie),
Dass du zu früh dir nicht die braune Locke mögest
Für Erinna vom lieben Haupte trennen.



Eduard Mörike (1804-1875), oft verkannt als harmloser Biedermeier-Lyriker, setzt mit diesem Text ein deutliches Zeichen zum "Fortleben der Antike" auch noch im biedermeierlich-pragmatischen 19. Jahrhundert. Eine Grundlage dafür schuf Mörikes Arbeit als Übersetzer griechischer und römischer Gedichte. In seinem kurzen - aus einer Anthologie zitierten - Vorspann zum Gedicht gibt Mörike einige biographische Daten zu Erinna. Formal klingt in diesem Gedicht der hymnische Ton antiker Lyrik an, deren Wendung in deutsche Sprache wir schon von Hölderlin her kennen, Stiftler in Tübingen wie Mörike. Das Gedicht entstand im wesentlichen in der Zeit um 1851, nach Mörikes Angaben in einem Brief an den Freund und Unterstützer Wilhelm Hartlaub von 1863 - es wurde jedoch erst 1863 fertig gestellt.

Erinna galt lange als Schülerin und Geliebte Sapphos. Sie verstarb nach antiken Lexika mit 19 Jahren und bezeichnete als Antrieb ihres Schreibens den frühen Tod der Freundin Baukis, die gleichfalls mit 19 Jahren starb, nach einer Zwangsverheiratung. Inzwischen geht die Forschung davon aus, dass Erinna etwa zweihundertfünfzig Jahre nach Sappho lebte. Im Text Mörikes schreibt sie jedoch noch als "Freundin" Sapphos.

Das Thema wird gleich in der ersten Zeile vorgegeben, "Vielfach sind zum Hades die Pfade" mit der Fortsetzung "und einen gehst du selber,/Zweifle nicht". Dies sei ein "altes Liedchen" - das wir jedoch nicht kennen, Mörike gibt keine Hinweise dazu, welche Quelle er meint, denkbar ist auch eine Erfindung, um Authentizität zu suggerieren. Erinna berichtet, wie sie ihren Weg zum Hades gesehen habe, wie sie ihm am Morgen in ihrem Spiegelbild begegnet sei, in einer Todesahnung. Die Ahnung weicht jedoch zum Ende des Gedichtes der Hoffnung, Sappho möge nicht zu früh den Tod ihrer Geliebten beklagen müssen, sich nicht zu früh die Haare schneiden müssen, um daraus nach antiker Tradition einen Kranz für die Verstorbene zu winden. Eine Hoffnung, deren Hintergrund die erste Strophe des Gedichtes bereits mitgeteilt hat, dass die Lebenden nämlich ihre Sterblichkeit nicht wirklich gegenwärtig haben - wie der Fischer, der am Meer lebt, das Rauschen des Meeres nicht mehr hört.

Was aber hat bei Erinna die Todes-Vergessenheit aufgebrochen? Sie schreibt: "Wundersam aber erschrak mir heute das Herz." Das Erschrecken kommt bei einem ungewöhnlich frühen Erwachen am Morgen, im Sonnenlicht. Erinna ist körperlich erregt, aber zugleich im "Gemüt" still. Und dann schaut sie sich im Spiegel selbst in die Augen. Das Motiv erinnert zunächst an den Narziss-Mythos. Doch von Liebe ist zu diesem Blick nicht die Rede. Aus dem Auge schaut der eigene "Geist" und der wird appositiv verbunden mit "ein Dämon". Dieser Dämon aber weissagt den Tod. In Mörikes Gedicht "Peregrina", Nr. III, heißt es: "ein schöner, sündhafter Wahnsinn/aus dem dunkelen Auge blickte".

*

Hermann Kunisch sieht in "Erinna an Sappho" auch eine Verarbeitung der Peregrina-Erfahrung des Dichters, der Begegnung mit Maria Meyer. Maria Meyer war Schankmädchen in einem Lokal in Ludwigsburg, das Mörike 1823 mit Freunden besuchte, nach einer Visite bei Mutter und Schwester in Stuttgart. Ihre Herkunft ist ungewiss, sie sprach mit alemannischem Akzent, gab allerdings an, aus Österreich zu stammen. Der Wirt des Lokals hatte sie ohnmächtig auf einer Straße bei Ludwigsburg gefunden. Mörike verliebte sich in die geheimnisvolle Frau, die nach verschiedenen Berichten außerordentlich schön und belesen war, die Werke Goethes und Jean Pauls kannte, aber auch mit mystisch-religiösen Schriften vertraut war. Mörike und sie hatten offensichtlich eine intensive Beziehung, schrieben einander auch - doch die Korrespondenz wurde von Mörike später vernichtet. Ende 1823 brach die Frau den Kontakt zu Mörike ab und verschwand aus Ludwigsburg. 1824 wurde sie bei Heidelberg wiederum ohnmächtig aufgefunden und nach Ludwigsburg gebracht. Mörike verweigerte ein erneutes Treffen, auch unter dem Einfluss seiner Schwester Luise. Literarisch allerdings lebte die Beziehung in seiner Literatur weiter in beunruhigenden Frauenfiguren und Liebesverhältnissen. Unter anderem in der Figur der Zigeunerin Elisabeth im "Maler Nolten".

Mörike zählte bei der Begegnung mit "Peregrina" (was "Pilgerin", "Wanderin" bedeutet) 19 Jahre. Wir dürfen also eine gewisse Identifikation des Dichters mit Erinna annehmen. Beständig am Leben Mörikes waren vor allem seine Krankheiten und Todesnähe, das Erinna-Motiv, dürfte für ihn selbst eine wiederkehrende Erfahrung gewesen sein, auch sind sein Vater und seine Schwester Luise früh verstorben. In Maria Meyer begegnete ihm eine Frau, die dem Tod offensichtlich - nicht nur in ihren Ohnmachten - noch näher war als er. Und nun widmet er sich Erinna.

*

Warum aber spiegelt Mörike seine Peregrina-Erfahrung im gleichgeschlechtlichen Verhältnis zweier antiker Lyrikerinnen? In "Maler Nolten" finden wir auf der Oberfläche lediglich das Verhältnis Mann-Frau durchgespielt - bis an die Grenzen des Erträglichen gleich dreifach, in den Konstellationen Theobald (Nolten)-Elisabeth (Zigeunerin), Theobald-Agnes (Försterstocher) und Theobald-Constanze (Gräfin). In der Vorgeschichte des Romans werden allerdings weitere Frauenfiguren eingeführt, die früh verstorbene Mutter, die Schwester Adelheid, die Tante Loskine, eine Zigeunerin, und eine geheimnisvolle Cousine, die sich später als identisch mit Elisabeth erweist. Die Dominanz des Weiblichen zeigt also bereits dieser Roman. Wir finden diese Dominanz auch im Leben Mörikes, der zwei Schwestern hatte (neben zwei Brüdern, denen keine Existenzgründung gelang) und zwei Töchter. Einen Großteil seines Lebens verbrachte Mörike in Haushalten gemeinsam mit zwei Frauen, zunächst Mutter und jüngere Schwester Klara, dann Ehefrau Margarethe und jüngere Schwester. Im Roman "Maler Nolten" überleben am Ende die alten Männer, während Theobald/Maler Nolten und die Protagonistinnen allesamt jung sterben.

Was mit ihnen stirbt und welche Todesahnung sich im Blick der Erinna offenbart, bleibt Frage der Lektüre. Einen Weg zur Antwort weist die Göttin, der Erinna ein Geschenk Sapphos, ein Haarnetz aus Muschelseide mit goldenen Bienenfigürchen, weihen möchte, Demeter, Schwester des Hades. Genauer Persephone, Tochter der Demeter und des Zeus, Gemahlin des Hades (damit Schwägerin ihrer Mutter), Todes- und Fruchtbarkeitsgöttin zugleich, dem Matriarchat folgend, für das ihre Mutter steht. Komplexe Familien- und Liebesverhältnisse auch hier, in der Götterwelt, die Mörike anführt.

Es mag befremden, dass ich zu diesem Gedicht Mörikes so intensiv die Biographie Mörikes bemühe. Meines Erachtens lässt sich nur so dieses literarisch schwache Gedicht, dieser scheppernde Hymnus, angemessen würdigen. Mörike zeigt nach Hölderlin ein letztes Mal, wie der Rekurs auf antike Modelle helfen kann, Wirklichkeit zu bewältigen. Hölderlin gelang es, auch seiner Zeit damit ein Werkzeug an die Hand zu geben. Bei Mörike - und insofern gilt dann der Vorwurf des "Biedermeierlichen" - ist es nur noch die private Misere, die hier tröstliche Worte findet in einem weit her geholten Vergleich. Und dabei findet der Text doch auch zu einer Allgemeinheit, die dem Allgemeinen des politisch-restaurativen Rückschritts, der industriellen Bemächtigung von Landschaft wie Leben und dem rigiden Patriarchat des 19. Jahrhunderts etwas hilflos den Spiegel Erinnas vorhält.






Conrad Ferdinand Meyer
Zwei Segel
(1882)

Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!

Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.

Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.





Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) ist Zeitgenosse Charles Baudelaires (1821-1867), scheint aber mit dem drogenessenden Dichter politischer Zirkel und freizügiger Pariser Salons auf den ersten Blick wenig gemein zu haben. Hier der als bieder geltende Schweizer Vertreter des Realismus und Autor historischer Romane, da der Begründer des französischen Symbolismus und umstrittene Autor opiumdurchrauchter Lyrik. Der bedeutende, als Begründer einer betont immanent orientierten Forschungsrichtung auch umstrittene Germanist Emil Staiger hat sich intensiv mit Meyers Lyrik beschäftigt, die um den Motivkomplex Wasser, Boot/Schiff, Tod kreist. Und er hält es für durchaus legitim, mit Blick auf Meyer Baudelaire zu zitieren: "O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre!" - eine Zeile aus den "Fleurs du Mal".

"Zwei Segel" scheint auf den ersten Blick nicht an der Todessymbolik zu partizipieren, die ansonsten nach Staigers Erkenntnis die Lyrik Meyers durchzieht, wo von Schifffahrt die Rede ist. Es ist ein leichtes, rundes Gedicht, das in keiner Anthologie fehlt und gerne interpretiert wird. Ein Bild des harmonischen, partnerschaftlichen Lebens gebe es uns, Mann und Frau seien symbolisiert in zwei Segeln, die auf dem Ozean des Lebens ihre Spur ziehen - so die konventionelle Deutung. Staiger kommt das Verdienst zu, dieses Gedicht quer hierzu im Kontext der anderen Gedichte Meyers zu lesen, die mit der Schiffsmetaphorik arbeiten.

Dies macht uns aufmerksam auf den Unterton dieses Gedichtes, der zum Ende der ersten Strophe markiert wird mit dem Wort "Flucht". Um eine "ruhige Flucht" zwar handele es sich. Doch der Reim mit "Bucht" schafft eine Spannung, die uns nahe legt, einmal die Adjektive zu vertauschen. Dann kommen wir zu "ruhige Bucht" und "tiefblaue Flucht". Denken wir an Goethes Farbenlehre, wo ein tiefes Blau uns fortziehen möchte, in Ferne und Tiefe, erfahren wir mehr über die Botschaft dieses Gedichtes - die sich bestätigt in anderen Vokabeln, die einem solchen Deutungsansatz, der die idyllische Lesart in Frage stellt, auffallen: "erregt" und "hasten".

Diese beiden Segel, sollen sie wirklich für Partnerschaft stehen, sprechen keineswegs von doch im common sense als ausgleichend gedachter Harmonie, sondern von einem Gleichklang, der sich steigert - im Guten wie im Schlechten, müssen wir vermuten. Und diese Vermutung findet Stütze in der zentralen Strophe: Wo eines sich "wölbt und bewegt" wird auch das andere "erregt".

Und wenn eines rastet, ruht auch das andere. Womit das Gedicht zu seinem Ende in eine verhaltene Andeutung der Todessymbolik mündet. Bewundernswert ist die Souveränität, mit der dieser Text seine dunkle Grundierung in eine lichte Bildsprache und heiteres Melos transformiert.

Eine aufschlussreiche Parallele hat die Leichtigkeit dieses Gedichtes über dunklem Grund in Meyers Gedicht "Heilige Bläue". Auch dort ist die Bläue dem Wasser zugeordnet. Explizit ist dort vom "Abgrund ohne Ende" die Rede, die Todessymbolik klingt an, wird aber eingebunden in ein Bild, das eine Taufe evoziert: "Himmlisches Gelände - Seele, tauche unter ganz!"

Ganz unerwähnt soll in diesem Kontext die Biographie Meyers nicht bleiben. Ein halbes Jahr verbrachte er mit depressiver Symptomatik in einer psychiatrischen Klinik. Drei Jahre nach seiner Genesung ertränkte sich die zeitlebens psychisch leidende Mutter im Neuenburger See.

Lektüreempfehlung: Emil Staiger, Das Spätboot. Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik. In: Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn, Fischer 1965, S. 245-270




Isolde Kurz

Nein, nicht vor mir im Staube knien
(1905)

Nein, nicht vor mir im Staube knien!
Nicht mir im Arm wie Rohr zerbrechen!
Ist erst der Stunde Rausch dahin,
Ich weiß, du wirst es an mir rächen.

Jetzt ist dein Aug’ von Tränen naß,
Doch manchmal blinkt’s wie Mördereisen.
In deiner Liebe grollt der Haß
Und droht mich künftig zu zerreißen.

Wo ist der Held, der frei vereint
Mit mir auf Lebenshöhen stiege?
Der tröstet, wenn das Herz mir weint,
Und mit mir lächelt, wenn ich siege?

Der nicht Gebieter ist noch Knecht,
Der fühlt wie stille Wunden brennen,
Der schonend nach dem zärtern Recht
Sich neigt in willigem Erkennen?

Wo ist der Held? Es tönt von fern
Wie Gruß von ihm an meine Ohren.
Der Held, der meines Lebens Stern,
Wird erst nach meinem Tod geboren.



Isolde Kurz war die Tochter des wenig erfolgreichen Erzählers Hermann Kurz und der demokratisch gesinnten Freiin von Brunnow. Geboren wurde sie am 21. Dezember 1853 in Stuttgart, wo sie die ersten fünf Lebensjahre verbrachte. 1859 zog die Familie nach Oberesslingen um, 1863 nach Tübingen, wo der Vater eine Stelle an der Universitätsbibliothek bekommen hatte. Unterrichtet wurde Isolde Kurz zuhause von der Mutter, sie lernte mehrere Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch), wurde mit antikem Bildungsgut und sozialistischem Denken (Proudhon, Marx, Lassalle, Bebel) vertraut gemacht. Nach dem Tod des Vaters zog sie 1874 mit ihrer Mutter nach Florenz, wo der Bruder Edgar eine Arztpraxis aufgebaut hatte (als Sozialdemokrat hatte er sich im Schwäbischen damit schwer getan). Anfang 1911 übersiedelte sie mit der Mutter nach München, in die Ainmillerstraße, wo die Mutter im Juni verstarb. Von 1911 bis 1928 lebte sie mit ihrem Jugendfreund Ernst von Mohl zusammen, überwiegend in München, wo Mohl eine Wohnung im gleichen Haus bezog. Von ihm lernte sie Latein und Griechisch. Die beiden unternahmen zahlreiche gemeinsame Reisen, unter anderem nach Griechenland und Italien. Mohl widmet sie 1928 das Werk "Ein Genie der Liebe".

1913 erhielt sie von der Universität Tübingen die Ehrendoktorwürde. Zwischen 1914 und 1916 verfasste sie patriotische Gedichte (versammelt in "Schwert aus der Scheide" 1916), die später auch im Nationalsozialismus gerne gelesen wurden. Zur Weimarer Republik stand sie distanziert, häufig polemisierte sie auch gegen den "Modernisierungswahn" im Kulturbereich. Allerdings unterzeichnete sie Aufrufe "Gegen den Antisemitismus" (1930), "Gegen die Auswüchse des Nationalismus" (1931) und "Für die Ächtung der Kriegsmittel" (1931). Mit dem Nationalsozialismus arrangierte sie sich insofern, als sie - mit fünfundachtzig Jahren - eine Eloge zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers schrieb, auf Drängen der Reichsschrifttumskammer, wie sie in ihrem Kalender notierte. Sie starb am 05. April 1944 in Tübingen im Tropengenesungsheim, nach längeren Krankenhausaufenthalten in München und Aschau/Chiemgau seit Anfang 1940.

*

Bekannt wurde Isolde Kurz als Übersetzerin und Vermittlerin italienischer Literatur, Verfasserin formal konservativer, überwiegend eher erbaulicher Gedichte mit fortschrittlichen Untertönen und durch Erzählungen. Ihr 1931 erschienener Entwicklungsroman "Vanadis. Der Schicksalsweg einer Frau" wurde als Gegenstück zu Goethes "Wilhelm Meister" gelobt und ein Bestseller. Dem Buch ist ein Goethe-Zitat aus dem West-östlichen Diwan vorangestellt, "Das Lebendge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet". Der Roman selbst beginnt dann jedoch weniger weihevoll mit dem häufig zitierten Satz "Es war in der Zeit, wo die Frauen noch lange Haare und kurzen Verstand hatten".

Frauenrechtliche Themen klingen auch in "Nein, nicht vor mir im Staube knien" an. Der Text zeigt eine Seite der Autorin, die in ihrem öffentlichen Bild, das maßgeblich durch "Schwert in der Scheide" und ihre Erzählungen bestimmt wurde, kaum erscheint. Witzig, kritisch, provokant und kämpferisch klingt es hier schon an der Wende des 19. Jahrhunderts nach "Neue Männer braucht das Land". Sie fordert einen Partner, der auf Augenhöhe mit ihr zu stehen vermag, der nicht kippt zwischen verliebter Unterwürfigkeit und auftrumpfendem männlichen Herrschaftsanspruch. Ein Partner, der zu trösten vermag in der Schwäche des anderen, aber auch die Stärke des anderen anerkennen kann.

In der Liebe zumindest möchte sie die Dialektik von Knecht und Gebieter aufgehoben sehen, die ein anderer berühmter Schwabe 100 Jahre vor ihr scharfsinnig herausgearbeitet hatte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel ("Phänomenologie des Geistes", 1807). Doch ihr scheint die Zeit noch nicht gekommen für diesen "Helden", er "(w)ird erst nach meinem Tod geboren".

Erschienen ist der Text 1925 in "Gedichte zweite Folge", zwischen "Das Bettelkind" (1905: "Das arme Kind") und "Wer hat uns das getan" aus der Sammlung "Neue Gedichte" von 1905 gestellt. War ihr - oder ihrem Herausgeber - der Text 1905 zu mutig erschienen, zu provokant? Isolde Kurz war eine geschickte Vermarkterin ihrer literarischen Arbeiten, hatte eine sichere Hand auch bei Honorarverhandlungen und klagte unerbittlich für jeden der zahllosen Nachdrucke ihres patriotischen Gedichtes "Die deutsche Mutter" von 1915 Honorar ein.

Lektüreempfehlung: "In der inneren Heimat oder nirgends. Isolde Kurz (1853-1944)", Marbacher Magazin 104, Deutsche Schillergesellschaft 2003




Else Lasker-Schüler

Ein alter Tibetteppich
(1910)

Deine Seele, die die meine liebet
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.

Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzenthron
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.




Else Lasker-Schüler ist mit ihrem Werk, aber auch mit ihrem Leben nicht wegzudenken aus der modernen Lyrik. Gottfried Benn nannte sie "die größte Lyrikerin, die Deutschland hatte". Dabei reicht ihr Leben weiter ins 19. Jahrhundert zurück, als ihre Texte ahnen lassen. Geboren wurde sie 1869 in Elberfeld, heute ein Stadtteil von Wuppertal, ihr Vater war ein wohlhabender Privatbankier, Aaron Schüler. Gestorben ist sie 1945 in Jerusalem.

Sie war befreundet mit Gottfried Benn und Georg Trakl. Mit Benn verband sie eine Liebschaft, die im Sommer 1912 begann, mit der Charakterisierung Benns als "Barbar" durch die Lyrikerin, eine Charakterisierung, die jede Erörterung der Beziehung Benns zu den Frauen bis heute bestimmt. Georg Trakl lernte Lasker-Schüler im März 1914 in Berlin kennen, im August besuchte sie ihn in Innsbruck. Wenige Tage vor seinem Tod bat er sie mit einer Postkarte, nach Krakau ins Spital zu ihm zu kommen. Sie erhielt die Karte erst nach seinem Tod. Eine ihrer Antworten auf diesen Tod ist ein Zweizeiler, der 1917 veröffentlicht wurde:

Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt.
So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.

Liebe ist das große Thema dieser Lyrikerin - doch ihre "Liebesgedichte" haben einen Ton, der die Gattung sprengt. Das wird schon deutlich im "ich hatt ihn lieb" des mit "Georg Trakl" überschriebenen Epitaphs. In "Ein alter Tibetteppich" wird die Gattung schon im Titel attackiert. Ein alter Teppich steht im Mittelpunkt, nicht Gefühle oder vertraute Liebesbilder. Wie die Fäden in einem Teppich verwoben erscheinen in geheimnisvoller Weise die liebende Seele im ersten Vers und die Seele des Geliebten. Statt verwoben steht allerdings "verwirkt", und das kann neben verwoben auch verloren, hingegeben bedeuten. Eine Zweideutigkeit, die sich auch im Subjekt-Objekt-Verhältnis findet. Es bleibt unklar, ob "Deine Seele" Subjekt oder Objekt des Liebens ist.

Auch bleibt der Ort des Verwirktseins letztlich unbestimmt. Nicht "Tibetteppich" steht da in der ersten Strophe, sondern "Teppichtibet" - die um 1900 noch mehr als heute geheimnisumwobene Herkunft des Teppichs, die Mönchsmonarchie im Himalaya wird evoziert, in einer erotisch aufgeladenen Bilderwelt: Der tibetische "Lamasohn" sitzt in der letzten Strophe auf einem "Moschuspflanzenthron", sein Mund küsst den Mund der Sprechenden.

Im Hohelied Salomos findet sich die Zeile "Du, den meine Seele liebt, sag mir ...". Bei Lasker-Schüler sind es zwei Seelen, die einander lieben, der körperliche Bezug ist zunächst fern, Licht und Farben, "Strahl in Strahl" und "Sterne", bestimmen in der zweiten Strophe den Bildbereich. In der dritten Strophe werden die Füße der Liebenden genannt, sie ruhen auf dem "Tibetteppich", wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, "Maschentausendabertausendweit" reimt sich auf "Kostbarkeit", die Kostbarkeit dieses Teppichs.

Erst in den letzten drei Zeilen werden die Liebenden greifbarer, um sich zugleich zu entziehen. Der Liebende sei ein "Lamasohn", Sohn eines buddhistischen Priesters also, ein geistiger Sohn im Sinne eines Nachfolgers oder Frucht körperlicher Liebe? Er ruhe auf einem "Moschuspflanzenthron", wir dürfen vermuten: in einem Schwebezustand vor dem Antritt seines Erbes, noch frei von monarchisch-monasterischen Verpflichtungen, frei zum Liebesdienst, der aber schon verpflichtet ist der mythischen Herkunft, den "buntgeknüpften Zeiten".




Rainer Maria Rilke
Du, Nachbar Gott
(1899)

Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, –
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn Du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds –
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bilder ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihrem Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.



Das Gedicht gehört zum Gedichtzyklus "Gebete", der zwischen 20. September und 14. Oktober 1899 in Berlin-Schmargendorf entstand, wo Rilke (1875-1926) damals wohnte. Später bekam der Zyklus den Titel "Das Buch vom mönchischen Leben" und wurde erster Teil (von drei Teilen) der Gedichtsammlung "Das Stundenbuch", erschienen 1905 im Insel-Verlag.

"Stundenbuch" ist eine Kategorie religiöser Literatur, die im 13. Jahrhundert aufkam und die Stundengebete der Klöster in die Laienwelt trug. Eine ähnliche Funktion und Entstehungsgeschichte hatte auch das "Brevier", welches im 9. Jahrhundert entstand, weshalb "Stundenbuch" und "Brevier" heute teilweise synonym behandelt werden. In Adelskreisen wurde das Stundenbuch/Livre d'heures zum reich verzierten Andachtsbuch mit herausragender Bedeutung für das religiöse und gesellschaftliche Selbstbild.

Die drei Teile der 1905 erschienenen Publikation tragen die Titel "Das Buch vom mönchischen Leben", "Das Buch von der Pilgerschaft" und "Das Buch von der Armut und vom Tode". Der ursprüngliche Bezug der Stundengebete zum Klosterleben wird im Wechsel von "Gebete" zu "Das Buch vom mönchischen Leben" vom Autor explizit gemacht. Ende April bis Ende Juni 1899 reist Rilke mit dem Ehepaar Andreas und Anfang Mai bis Ende August 1900 nur mit Lou Andreas-Salomé - der das "Stundenbuch" gewidmet ist - nach Russland und in die heutige Ukraine. Nach Otto Betz wurde dabei vor allem die Begegnung mit orthodoxer Spiritualität und mit der Frömmigkeit der einfachen Bauern zu einem nachhaltig prägenden Erlebnis. "In gewisser Weise ist das ,Stundenbuch' das sichtbare Zeugnis dieser Reisen geworden." (Betz 1999, S. 275) In einem Brief an Ilse Jahr vom 22. Februar 1923 schreibt Rilke über seine religiöse Entwicklung: "Dann aber tat sich mir Rußland auf und schenkte mir die Brüderlichkeit und das Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist. So nannte ich ihn damals auch, den über mich hereingebrochenen Gott, und lebte lange im Vorraum seines Namens, auf den Knieen".

"Du, Nachbar Gott" wendet sich vermeintlich unmittelbar an Gott, von dem Rilke im gleichen Text sowie an anderer Stelle sagt, man dürfe sich von ihm kein Bildnis machen: "Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen." Ist aber "Nachbar" nicht auch ein Name, ein Bild, das die Wand aufbaut, die zwischen Gott und Ich steht? Diese Vertraulichkeit in der Ansprache Gottes habe Rilke später verlassen, schreibt er im Brief an Ilse Jahr, "Jetzt würdest du mich ihn kaum je nennen hören".

Rilke wurde immer wieder als religiöser Dichter verstanden, was Sammlungen wie das "Stundenbuch" oder die "Duineser Elegien" mit ihrem Leitmotiv des Engels auch nahelegen. Allerdings zeigt der genaue Blick in sein Werk und auch in seine Biografie, dass er keineswegs als christlicher Dichter missverstanden werden darf. Seine Engelsfiguren entsprechen eher der Tradition des Islam, sein Gott wurde häufig und mit guten Gründen als "werdend" charakterisiert und Christus als Gott war ihm eine gänzlich fremde Vorstellung. So erklärt er im frühen Text "Christus am Kreuz" von Ende 1893: "Er war ja groß - er hatte edle Ziele/sich vorgesteckt. Doch eines macht ihn klein:/daß er im Übermaße der Gefühle
/verleugnete ein schlichter Mensch zu sein ...".

Am 25. Januar 1921 schreibt er an den evangelischen Pfarrer Rudolf Emanuel Zimmermann, in den frühen Texten sei sein Bemühen erkennbar, "Gott aus der Gerücht-Sphäre in das Gebiet unmittelbarer und täglicher Erlebbarkeit zu versetzen". Davon sei er allerdings im späteren Leben abgerückt.

Lektüreempfehlung: Otto Betz, "Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen". Über die Religiosität Rainer Maria Rilkes, Geist & Leben, 1999, Band 72, Heft 4, S. 273-290




Rainer Maria Rilke
Archaïscher Torso Apollos
(1908)

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.




"Du musst dein Leben ändern" heißt einer der letzten Essays von Peter Sloterdijk, 2009 erschienen. Und damit ist die letzte Zeile dieses Gedichtes zitiert, das zum Grundbestand abendländisch-westlicher Kultur gehört. Wie die griechische Plastik, auf die gleich im Titel Bezug genommen wird, ein Torso, den Rilke möglicherweise auf einer seiner Paris-Reisen im Louvre gesehen hatte.Torso eines Jünglings aus dem
              Louvre

Rainer Maria Rilke (1875-1926) schafft eine eigenwillige Beschreibung dieses Torsos, von oben beginnend, wo er das Fehlen des Kopfes registriert. Dann geht es weiter zum "Bug der Brust" und über ein "leise(s) Drehen der Lenden" zur Stelle des abgeschlagenen Penis. Erwähnt werden dann noch in den beiden Terzetten der "durchsichtige() Sturz" der Schultern und die "Ränder" des Torso allgemein. Die Genauigkeit der Beobachtung ist evident. Als leises Drehen verzeichnet Rilke - gesetzt, es handelt sich um den Torso aus dem Louvre - das aus den Bruchstellen erschließbare Anheben des linken Beines, das den Beckenbereich der Figur kaum merklich nach Rechts gegen die Achse der Schultern verdreht.

Wunderbar treffend, fein ausgearbeitet sind auch die sonstigen Bilder dieses Textes. Zeigbar etwa am Vergleich des Torso mit einem Kandelaber, einem Armleuchter, wobei Rilke wohl an Gaslicht, gerade erst erfunden, dachte. Und so kann er zu "zurückgeschraubt" kommen, einer Findung, die das Zurückschrauben eines Lampendochtes einsetzt zur Deutung dessen, was der Autor an diesem Torso wahrnimmt.

Rilke kannte Nietzsches Schriften sehr gut, vermittelt über seine frühe Gefährtin Lou Andreas-Salomé. Und natürlich kannte er Nietzsches Unterscheidung in das "Apollinische" und das "Dionysische". So können wir die Erwähnung der "Augenäpfel" und des "Schauens" in der ersten Strophe als Evokation des Apollinischen lesen. In deutlichem Spannungsverhältnis zu dieser Zitation des Apollinischen steht dann das 'Glühen' des Torso ebenso wie die ausdrückliche Nennung "jener Mitte, die die Zeugung trug". Hier kommen dionysische Elemente ins Spiel. Verstärkt noch durch die "Raubtierfelle" im ersten Terzett. Das ist Apollo, wie Nietzsche ihn fasst: "Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben!" ("Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", 4). Rilkes Apollo hat das Dionysische in sich. Vielleicht gerade erst als Torso sein Dionysisches zu- und freilassend?

Und so können wir auch den Appell zum Ende dann verstehen, das "Du mußt dein Leben ändern": Lasse auch das Dionysische in dir zu, denn dies ist es, was den Torso noch immer belebt, sein Glühen, auf welches sich all die einschränkenden "sonst" beziehen. Ohne dies Glühen "stünde dieser Stein entstellt und kurz". Ob Sloterdijk auch daran dachte, als er das "Üben" als Disziplin des Menschseins zu rehabilitieren suchte?




Rainer Maria Rilke
Die Frucht
(1924)

Das stieg zu ihr aus Erde, stieg und stieg,
und war verschwiegen in dem stillen Stamme
und wurde in der klaren Blüte Flamme,
bis es sich wiederum verschwieg.

Und fruchtete durch eines Sommers Länge
in dem bei Nacht und Tag bemühten Baum,
und kannte sich als kommendes Gedränge
wider den teilnahmsvollen Raum.

Und wenn es jetzt im rundenden Ovale
mit seiner vollgewordnen Ruhe prunkt,
stürzt es, verzichtend, innen in der Schale
zurück in seinen Mittelpunkt.




Eines der beeindruckendsten Gedichte in deutscher Sprache, was die Perfektion von Rhythmus, Reim und Melos betrifft. Diese Perfektion läuft nicht leer, die formalen Gestaltungsebenen sind aufs engste mit dem Inhalt verbunden. Und der Inhalt verknüpft 2500 Jahre westlicher Naturphilosophie mit gärtnerischem Wissen, laienhaft genießender Naturbetrachtung und mystischem Erleben in ganz eigentümlicher Weise. Ein Text, so rund und vollendet (und gefährdet) wie die Frucht, der er sich widmet. "Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht." - Das schreibt Rilke in einem anderen Text, der beginnt mit der Zeile "O Herr, gib jedem seinen eignen Tod".

Die erste Zeile von "Die Frucht" gibt uns gleich zwei Rätsel, zwei Geheimnisse, zwei Leerstellen. Wie so oft bei Rilke wird eine direkte Aussage umgangen. "Das" - was ist damit gemeint? Und worauf bezieht sich das Pronomen "ihr"? Die zweite Frage scheint rasch beantwortet, der Titel verspricht Aufschluss: Die Frucht. Über Rilkes anhebendes "das" erfahren wir zunächst nur, was es tat/tut, es "stieg", es "war verschwiegen", "wurde ... Flamme", "fruchtete", "kannte sich als kommendes Gedränge", "prunkt", "stürzt ... verzichtend". Und erst am Ende des Gedichtes erfahren wir zumindest etwas über seinen Aufenthalt. Sein "Mittelpunkt" sei der Samen in der Frucht.

Damit aber wird auch unsere Anwort auf die Frage, wer das "ihr" der ersten Zeile sei, fragwürdig. Die Frucht wird ja erst, also kann unser "das" kaum zu ihr schon aufsteigen. Wer also verbirgt sich hinter "ihr", welches Femininum? Denkbar wäre "Pflanze", auch wenn der Autor uns die Pflanze nur als "Baum" nennt. Und so bleiben uns zum Ende des Gedichtes noch immer die beiden Fragen des Anfangs unbeantwortet.

Um zumindest ansatzweise zu verstehen, was "das" bedeutet, können wir an die "Samen" barocker Mystik denken, an Lichtsamen, an gestaltbildende Formen der Naturmystik. Woran Rilke dachte, wissen wir nicht. Und mit den Deutungsversuchen bricht dieses Gedicht auf, wird zweideutig, problematisch. Ganz und gar zwiespältig wird es, wenn wir ein frühes Gedicht Rilkes, "Da ward auch die zur Frucht Erweckte" von 1899, daneben stellen. Sexuelle Konnotationen klingen an und machen das Gedicht vollends ambivalent. Ist auch das "ihr" unseres Textes zu beziehen auf eine "Magd" wie in "Da ward ..."?





Gottfried Benn
Kleine Aster
(1912).

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Bauchhöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!



Das erste Gedicht aus der Sammlung "Morgue und andere Gedichte" vom März 1912 ist spektakulär und hat mit dazu beigetragen, die kleine Sammlung von 9 Texten und ihren Autor zum Skandal zu machen. "La Morgue" heißt das Leichenschauhaus in Paris, das Gottfried Benn (1886-1956) allerdings nicht persönlich kannte. Und "Morgue" waren die ersten fünf Texte des Bändchens überschrieben, die allesamt mit dem Thema "Sektion" zu tun hatten.

Benn promovierte 1912 in Medizin, arbeitete kurz als Militärarzt und ab Oktober 1912 als Assistenzarzt am Krankenhaus Charlottenburg-Westend in Berlin. Seine Haupttätigkeit dort waren Sektionen.

Ab 1910 hatte Benn bereits Gedichte und Prosatexte veröffentlicht. Er verkehrte in expressionistischen Zirkeln und lernte im Sommer 1912 die Lyrikerin Else Lasker-Schüler kennen, seine erste Partnerin, die ihn - u.a. - als "Barbar" benennt. Und barbarisch klingt, was hier von einer Sektion berichtet wird, vor allem WIE berichtet wird. Es spricht der Sezierende, direkt und drastisch. In den letzten drei Zeilen wechselt der Ton, der Text wendet sich fast zärtlich an die kleine Aster, die der Sezierende dem Ertrunkenen in den aufgeschnittenen Bauch gestopft hat, gemeinsam mit Holzwolle.

Muss man wissen und einbeziehen, dass Benn selbst seziert hat, will man den Text angemessen würdigen? Die Expressionisten haben in ihrer Mehrzahl von Dingen geschrieben, die sie auch selbst erfahren haben, auch da, wo es rau zugeht in ihren Texten. Das waren keine Kaffeehausliteraten und weltferne Ästheten, auch wenn sie in bestimmten Traditionslinien weiterschrieben und natürlich die französischen Symbolisten gut kannten. Auch für sie ist ernstzunehmen, was der Poststrukturalismus anmahnt, dass die tradierte Auffassung vom Autorsubjekt revisionsbedürftig sei, dass Subjekte (auch) eine Konstruktion von Texten sind, nicht (nur) umgekehrt. Dass die existierenden Texte neue Texte gleichsam selbsttätig mit schreiben.

*

Schauen wir also nur auf den Text und seine Subjektkonstruktion, nicht auf den Autor. Dann wird der erste Satz noch gewichtiger, als er ohnedies schon ist. Als Passivkonstruktion spart er das Subjekt aus. Etwas wurde gemacht, ein Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt, von anonymen Agenten. Auch die zweite im Text erscheinende Handlung, "hatte ihm eine dunkelhellila (so!) Aster zwischen die Zähne geklemmt", hat kein klares Subjekt, "irgendeiner" habe das getan.

Erst dann tritt ein "Ich" auf den Plan, der Sezierende und Berichtende, der in die Geschichte eintritt. Diese Ich-Sequenz endet wiederum unpersönlich, mit einem lakonischen "als man zunähte". Und dem Ich folgend kommt ein "Du", gleich zweifach, aber welch ein Du! Eine Pflanze, eine Aster, die schon in der dritten Zeile genannt wurde als Objekt. Sie ist nun als zuschreibungsfähig präsent im "dich" und "deiner" - und subjektwertig angesprochen mit zweifachem Imperativ: "Trinke ... !" und "Ruhe ... !".

Viel wurde schon geschrieben zur Aster als Herbstblume, die dem Gedicht ein jahreszeitlich-symbolisches Gepräge gebe. Das sei hier auch erwähnt. Und ein Vergleich mit der Bilderwelt des Ophelia-Kultes, der kurz nach 1900 eine Blüte erlebte, bietet sich an. Elemente des Kultes sind eine unglückliche junge Frau, Wasser, Ertrinken, fokussierte Körperteile und Blumen/Pflanzen. Shakespeare gestaltete die Figur im Hamlet als Modell, Rimbaud begründete 1870 den symbolistischen Kult mit seiner "Ophélie", diese inspirierte in der K.L. Ammerschen Übersetzung Georg Heym ("Die Tode im Wasser" und "Ophelia"), Paul Zech ("Wasserleiche"), Gottfried Benn ("Schöne Jugend", zweiter Text nach "Kleine Aster" in "Morgue") und andere Expressionisten.

Und hier nun keine junge Frau, die kommt erst im Gedicht danach, sondern ein Bierfahrer. So schreiben sich Texte in gänzlich anders erscheinenden Texten fort, so werden sie fortgeschrieben.





Georg Trakl
An die Schwester
(1912/13)

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.


Zwischen dem expressionistischen Lyriker Georg Trakl (1887-1914) und seiner Schwester Margarethe (1891-1917) gab es eine enge Beziehung mit inzestuösen Zügen. Diese Schwester ist im vorliegenden Gedicht zweifellos gemeint.

Das Gedicht entstand vermutlich in der Zeit zwischen dem 27. November 1912 und dem 15. Januar 1913. Es ist das erste der drei "Rosenkranzlieder" aus der Sammlung "Gedichte", die 1913 publiziert wurde. Das Rosenkranz-Motiv erscheint selbst lediglich im dritten Text, mit dem Titel "Amen". Dort werden "braune Perlen" genannt, die "durch die erstorbenen Finger" rinnen. Von Gebet allgemein ist auch im zweiten Text, "Nähe des Todes" die Rede: "Laß uns beten."

Was unseren Text verbindet mit den beiden anderen Texten unter dem Titel "Rosenkranz" bleibt zunächst fraglich. Spärliche Ansätze finden wir im Motiv der Kindheit, das den Schwester-Text mit "Nähe des Todes" verbindet. Eine Korrespondenz zwischen dem ersten und dem letzten Gedicht ergibt sich über die Farbe Blau, "blaues Wild" könnte über das Schwester-Motiv verbunden sein mit "eines Engels blaue Mohnaugen". Blau ist auch die Farbe der Kindheit in Trakls Werk, womit alle drei Texte verbunden wären. Die Kinderfrau der Familie Trakl stammte aus dem katholischen Elsass und litt sehr darunter, in einem protestantischen Haushalt im katholisch geprägten Salzburg angestellt zu sein. Wir dürfen davon ausgehen, dass sich unter ihren persönlichen Habseligkeiten auch ein Rosenkranz befand. In Salzburger Kirchen, viele davon einem Kloster zugeordnet, dürfte der Rosenkranz zu Trakls Zeiten alltäglich gewesen sein.

In einem Gedicht aus dem Nachlass, das die Schwester-Beziehung thematisiert, von Trakl mit "Blutschuld" betitelt, wird gleichfalls gebetet - und zwar zu Maria, der hauptsächlich Angesprochenen in Rosenkranzgebeten. Es ist also von erheblichem Gewicht, wenn Trakl seine "Rosenkranzlieder" mit einem Gedicht an die Schwester anheben lässt.

Die Bilderwelt des Textes entspricht dem Traklschen Kanon, Abend und Herbst sind die Zeitbestimmungen, der Ort ist ein "einsamer Weiher", all dies genannt gleich in der ersten Strophe. Dem Weiher, den wir uns gerundet vorstellen dürfen, korrespondieren andere Rundformen, der "Augenbogen" und der "Stirnenbogen" in den Strophen Zwei und Drei. Auch der Aufbau des Gedichtes kommuniziert Rundung, Harmonie, Ausgewogenheit.




Nelly Sachs
Du in der Nacht
(1966)

Du
in der Nacht
mit dem Verlernen der Welt Beschäftigte
von weit weit her
dein Finger die Eisgrotte bemalte
mit der singenden Landkarte eines verborgenen Meeres
das sammelte in der Muschel deines Ohres die Noten
Brücken-Bausteine
von Hier nach Dort
diese haargenaue Aufgabe
deren Lösung
den Sterbenden mitgegeben wird.




Geboren wurde Nelly Sachs als Tochter eines Berliner Gummifabrikanten jüdischen Glaubens am 10. Dezember 1891. Sie litt früh an gesundheitlichen, auch die Psyche betreffenden Problemen, die 1908 bis 1910 zum ersten Sanatoriumsaufenthalt führten. 1921 ermöglichte Stefan Zweig die Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes "Legenden und Erzählungen". Am 16. Mai 1940 entkam Nelly Sachs mit ihrer Mutter der Verfolgung ins schwedische Exil. Als sie Ende der 50er Jahre breitere öffentliche Aufmerksamkeit bekam, schrieb sie an den Germanisten Walter Berendsohn, sie wünsche sich, "daß man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen". 1966 wurde ihr der Literaturnobelpreis zugesprochen, gemeinsam mit dem israelischen Autor Samuel Josef Agnon. Sie starb am 12. Mai 1970, an diesem Tag wurde in Paris ihr junger Vertrauter Paul Celan zu Grabe getragen.

"Du in der Nacht" wurde 1966 in der Sammlung "Fahrt ins Staublose" veröffentlicht. Staub ist bei Sachs ein Phänomen, das einerseits mit der Shoa als Bild der Vernichtung verbunden ist, andererseits aber auch schöpfungsmythisch mit Gott. "Staublos" verweist damit auf eine Existenz jenseits der geschöpflichen Existenz.

Nur im "Staublosen" scheint das Individuum einen Ort zu haben und seine Zeit. Darauf bereitet es sich vor, angesprochen als "Du", bestimmt als weiblich ("Beschäftigte"), mit dem "Verlernen der Welt". Bereits als Jugendliche hatte sich Nelly Sachs intensiv mit dem Mystiker Jakob Böhme auseinandergesetzt. Dieser zitiert häufig das Wort Christi "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" und erklärt "das Principium der äußern Welt vergehet wieder". Die Prägung "Verlernen der Welt" findet sich ähnlich 1830 in einer Abhandlung über die Beziehung von Johann HeinrichVoß zu Jakob Böhme (zur geistigen Welt Jakob Böhmes, über der dieser "die wirkliche vergessen und verlernen muß").

Das Lied gehört den "Sterbenden", denen eine Aufgabe mitgegeben wird, deren Inhalt schwer zu bestimmen ist, der aber wesentlich zu tun hat mit den "Noten", die "Brücken-Bausteine" sind von der diesseitigen zur jenseitigen Welt. In einem klanglich-musikalischen Phänomen also findet sich etwas wie Erlösung. Und der Klang kommt von der "singenden Landkarte eines verborgenen Meeres". Was aber könnte "staubloser" sein als ein Meer? Ein Plan dieses Meeres. Und "staubloser" als dieser? Sein Klang.




Bertolt Brecht
Der Radwechsel
(1953)

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?




Der Text gehört zu den 21 Buckower Elegien, die Brecht im Sommer 1953 schrieb, in den Monaten Juli und August, unter dem Eindruck der Ereignisse vom 17. Juni 1953. Brecht teilte in einem Brief vom 17. Juni an Walter Ulbricht die Auffassung der DDR-Führung, dass der Aufstand von "Gestalten der Nazizeit" und "deklassierten Jugendlichen" aus dem Westen angetrieben worden sei, und begrüßte darin auch das militärische Eingreifen der Sowjetunion. Allerdings wandelte sich seine Position in der Folge. Dennoch bleibt strittig, ob der Text tatsächlich eine Distanz zum DDR-System oder seiner Führung ausdrückt, wie in der Germanistik oft behauptet, so etwa von Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht am KIT, im Dreigroschenheft 2/2020.

Formal ist das Gedicht sehr schlicht und streng aufgebaut, mit sechs Versen in einer Strophe, die klar symmetrisch in der Mitte eine Wendesituation gestaltet, den Umschlag von "wo ich herkomme" zu "wo ich hinfahre". Dieser Umschlag findet als "Radwechsel" statt, den wir daher über die konkret geschilderte Pannensituation hinaus als bedeutsam ansehen dürfen - markiert durch die exponierte Position in der formalen Ausführung des Textes. Der formale Aufbau folgt im übrigen barocker Emblematik, lässt sich als Dreigliederung in pictura, inscriptio und subscriptio mit je zwei Zeilen lesen.

Inhaltlich fällt auf, dass der Radwechsel selbst gar nicht geschildert wird. Wir erfahren, dass das "Ich" am Straßenhang sitze (nicht am "Straßenrand", wie in manchen Ausgaben zu lesen ist), also in erhöhter Position, und dass unter ihm "der Fahrer" das Rad wechsle. Ansonsten geht es um die Befindlichkeit des "Ich", seine Ungeduld beim Radwechsel und seine Ortlosigkeit. Und keineswegs um den konkreten Radwechsel.

Aus Brechts Biografie wissen wir, dass er selber sehr gerne Auto fuhr und sich auch für einen guten Fahrer hielt, trotz verschiedener Unfälle, mit einem Totalschaden und auch Personenschäden. "Ein glänzender Autofahrer, einer der schnellsten und unvorsichtigsten meiner Bekanntschaft" - so lautete das Urteil des Malers George Grosz. Das Autofahren war in Brechts Auffassung eine Metapher für das Zusammenspiel der Individuen in einer Gesellschaft, insofern ist der "Radwechsel" noch zusätzlich sinnhaft aufgeladen.

Die Frage stellt sich, warum das lyrische Ich in diesem Text nicht selber fährt, sondern einen Fahrer hat. Dies könnte auf eine mit Verpflichtungen vebundene "Dienstfahrt" verweisen, auf fehlende Autonomie des Ich, das von einem Ort, den es nicht mag, zu einem anderen Ort gefahren wird, den es nicht mag. Was doch, mit anderer Gewichtung, auf die Deutung Jan Knopfs verweist, auf ein Unbehagen Brechts in seiner Rolle als Künstler mit kommunistischer Grundhaltung in der DDR. "Weder Staatsdichter noch Dissident" - so lautet das Résumé Manfred Orlicks im Anschluss an das Buch "Brecht und die DDR" von Werner Hecht.




Günter Eich
Inventur
(1945/46)

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier ist mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,

so dient er als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
dies ist meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.




Günter Eich wurde am 01.02.1907 in Lebus an der Oder geboren und starb in Salzburg am 20.12.1972. Er wuchs in der Mark Brandenburg und in Berlin auf, studierte in Leipzig, Berlin und Paris Sinologie, Jura und Wirtschaft. Ab 1932 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. Als Bild seines eigenen Arrangements mit dem Nationalsozialismus als Rundfunk-Autor wird die Figur des Chabanais in seinem Hörspiel "Radium" von 1937 gewertet. 1939 bis 1945 war Eich Soldat, gegen Ende des Krieges geriet er in amerikanische Gefangenschaft. 1947 war er Gründungsmitglied der "Gruppe 47".

Günter Eichs Text "Inventur" wird als besonders prägnantes Beispiel der sogenannten "Trümmerliteratur" im Bereich der Lyrik gewertet. Auf den ersten Blick liefert er eine unmittelbar der reduzierten Existenz als Kriegsgefangener der amerikanischen Armee "abgeschriebene" Bestandsaufnahme. Damit wird der Text aber auch zu einer Schilderung der "Stunde Null" (so wird der Text auch heute noch überwiegend gelesen, auch wenn die Problematik der Kategorie "Stunde Null" inzwischen offenkundig ist), mit völliger Reduzierung auf die Sicherung der eigenen Existenz - nicht lediglich körperlich, sondern durchaus auch in den höheren Ansprüchen. Stift und Papier sind von gleicher Bedeutung wie Rasierzeug und Konservenbüchse.

Tritt man von der Entstehungszeit des Textes etwas zurück, zeigt sich rasch die eigentümliche Verbindung zu ähnlich strukturierten Texten aus ganz anderen Kontexten. So klingt aus historischer Nähe die Lyrik des französischen Symbolismus an, insbesondere der Text "Enfance" von Arthur Rimbaud mit seinem iterativen "Il y a" im Abschnitt III.

Aus historisch und räumlich weiter Ferne grüßt ein anderer "Ruinen-" oder "Trümmer-"Text, Francesco Petrarcas Brief an Giovanni Colonna, den Dominikanermönch. Dort schildert Petrarca einen Besuch in Rom, schildert an den Ruinen die vergangene Lebenswirklichkeit Roms, aber auch die Hoffnung, aus den Ruinen etwas Neues entstehen zu lassen - späteter sollte das "Renaissance" heißen. "Auferstanden aus Ruinen" heißt es dann, wenige Jahre nach Eichs Text, in der Hymne der DDR. Daran sei erinnert, auch wenn Iris Radisch in ihrer Laudatio zum 100. Geburtstag Eichs 2007 in der ZEIT diese Verbindung zurückweist als "Legende": "Wir wissen, dass es die berühmte »Stunde null«, den viel zitierten »Kahlschlag« in Wahrheit nie gegeben hat. In der Literatur nicht und auch sonst nirgendwo in Deutschland. Niemand kann wieder bei null beginnen. Auch Günter Eich konnte das nicht, und es ist nicht überliefert, dass er Derartiges im Sinn hatte."

Eich kannte den französischen Symbolismus und natürlich auch Petrarca. In seiner aphoristisch-essayhaften Sammlung "poetischer Prosaskizzen" mit dem Titel "Ein Tibeter in meinem Büro" von 1970 gibt es einen Text "Lauren", der sich erkennbar auf Petrarcas Laura bezieht. Eich steht - auch - in einer innerliterarischen Tradition. Und für die hat es in der Tat keine "Stunde Null" gegeben.







Christine Lavant
DIE STADT ist oben auferbaut
(1959)

DIE STADT ist oben auferbaut
voll Türmen ohne Hähne;
die Närrin hockt im Knabenkraut,
strickt von der Unglückssträhne
ein Hochzeitskleid, ein Sterbehemd
und alles schaut sie an so fremd,
als wär sie ungeboren.
Sie hat den Geist verloren,
er grast als schwarz und weißes Lamm
mit einem roten Hahnenkamm
hinauf zur hochgebauten Stadt,
weil er den harten Auftrag hat,
dort oben aufzuwachen.
Der Närrin leises Lachen
rollt abwärts durch das Knabenkraut
als Ein-Aug, das querüber schaut
teils nach dem Tod, teils nach dem Lamm,
dem schwarz und weißen Bräutigam
in feuerroter Haube.
Ihr Herz keucht innen rund herum
und biegt das Schwert des Elends krumm
und nennt es seine Taube.




Als "Racheengel in eigener Mission" und "Schmerzensfrau" wurde Christine Lavant (1915-1973) charakterisiert. Die Tochter eines Bergarbeiters, geboren als Christine Thonhauser, war bereits als Säugling ständig krank, litt als Kind dann an Skrofulose, die mit Röntgenstrahlung behandelt wurde und unter anderem am Kopf Narben hinterließ, die sie mit einem Kopftuch verbarg, das Teil ihrer persönlichen Ikonographie wurde. Ihre Schulbildung war rudimentär, sie absolvierte einige Grundschulklassen, ansonsten lernte sie autodidaktisch.

Früh begann sie zu schreiben, nahm das Pseudonym "Lavant" nach dem Fluß ihres Heimattales an, den Lebensunterhalt verdiente sie mit Strickarbeiten. Sie korrespondierte mit Nelly Sachs, Hilde Domin, Thomas Bernhard und Martin Buber. Ab den 1950er Jahren fand sie öffentliche Anerkennung, bekam Einladungen zu Lesungen und man verlieh ihr wichtige Literaturpreise - darunter den Österreichischen Staatspreis und zweimal den Georg-Trakl-Preis.

Über "DIE STADT ist oben auferbaut" schrieb sie an Hilde Domin: "Dies Gedicht ist, wie fast alle meine Gedichte, der Versuch, eine - für mich notwendige - Selbstanklage verschlüsselt auszusagen." (1969)

Oben sei die Stadt "auferbaut", auf einem Hügel, auf einem Schutthügel? Die Türme haben keine Hähne, keine Wetterfahnen, keine verräterischen Kräher - sind stumm und ohne Kommunikation. Unten sitzt die Närrin - einzige Überlebende der Katastrophe, auf deren Trümmern die Stadt "auferbaut" ist? Die Bilder sind so bestechend wie rätselhaft. Bestechend, wo aus einer "Unglückssträhne" ein "Hochzeitskleid" gestrickt wird, das ist ein ungeheures Bild, erschreckend und überzeugend zugleich. Rätselhaft, da wir keinen Schlüssel zur Deutung finden, im Dunkeln tasten. Und von diesen Bildern hat das Gedicht noch mehr zu bieten.

Ein Bindeglied gibt es in diesem Gedicht, ein Schlüsselbild, das des Lammes, "als schwarz und weißes Lamm" - verbunden über diese Nicht-Farben-Bestimmung mit "Bräutigam", was uns verweist auf die Christus-Ikonographie des Opferlammes und des 'himmlischen Bräutigams'. Diese Ikonographie wird hier jedoch weiter aufgeladen durch den verlorenen "Geist" und den "roten Hahnenkamm". Der "Geist" könnte auf den 'Heiligen Geist' verweisen, was unterstützt wird durch das Bild der Taube in der letzten Zeile. Doch dieser Geist ist zum einen verloren, zum anderen mit dem "Schwert des Elends" verbunden und als solches Produkt des Herzens.

Im "Herz" schließt dieser höchst brüchige Trinitätsentwurf dem Bereich von "feuerroter Haube" und "rote(m) Hahnenkamm" an, der uns eher dem christlichen Bildbereich der 'gefallenen Engel' zuführt. Die Stadt, das 'himmlische Jerusalem' (?) ist "oben auferbaut", und unten darbt die Närrin im Höllenfeuer ihres Herzens? Ist dies die "Selbstanklage" dieses Gedichtes?




Paul Celan
Psalm
(1963)

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,

niemand bespricht unsern Staub.

Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.

Dir zulieb wollen

wir blühn.

Dir

entgegen.

Ein Nichts

waren wir, sind wir, werden

wir bleiben, blühend:

die Nichts-, die

Niemandsrose.

Mit

dem Griffel seelenhell,

dem Staubfaden himmelswüst,

der Krone rot

vom Purpurwort, das wir sangen

über, o über

dem Dorn.




Paul Celan wurde am 23. November 1920 als Paul Antschel in Czernowitz/Bukowina, damals zu Rumänien gehörig, heute zur Ukraine, in eine deutsch-jüdische Familie geboren. Im Rumänischen wurde aus seinem Familiennamen Ancel, daraus bildete er später das Anagramm "Celan". 1942 deportierten die deutschen Besatzer die Juden aus Czernowitz. Celan selbst entkam der Deportation durch einen Zufall, seine Mutter wurde in einem Lager durch Genickschuss ermordet, sein Vater starb in einem Lager an Typhus.

Nach 1945 lebte Celan in Wien, wo er auf dem Arbeitsamt die Aushilfskraft Ingeborg Bachmann kennenlernte. Ihre Liebesbeziehung ist dokumentiert im Briefwechsel 1948 bis 1967, 2008 veröffentlicht. 1949 lernte Celan in Paris Yvan Goll kennen, der bald darauf starb und Celan zum literarischen Nachlassverwalter bestimmte. Später bezichtigte Golls Witwe Celan des Plagiats. Celan unterhielt zunächst Kontakte zur Gruppe 47, die für seine Art zu schreiben kein Verständnis aufbrachte, sie unzeitgemäß fand. Walter Jens (der später Celan gegen die Plagiatsvorwürfe verteidigte) fühlte sich gar an Goebbels erinnert, als Celan 1952 die "Todesfuge" bei einem Treffen der Gruppe vorlas. 1952 heiratete Celan die französische Malerin Gisèle Léstrange, mit der er danach in Paris zusammenlebte. Er pflegte jedoch weiter seine Kontakte nach Deutschland, korrespondierte auch mit Ernst Jünger und Martin Heidegger, zwei der geistigen Nähe zum Nationalsozialismus beschuldigte Autoren. "Epochal" nennt der Germanist Gerhart Baumann die Begegnung von Heidegger und Celan 1967 in Freiburg. 1970 nahm sich Paul Celan in Paris, in der Seine das Leben.

Seine religiös-mystisch aufgeladene, hermetisch bilderreiche Sprache wurde häufig kopiert und seine Texte fanden zahllose Kontrafakturen. Es wurde ab den 60er Jahren von deutschsprachigen Lyrikern nicht mehr nur "getraklt, gebennt und gegollt" (Kurt Pinthus, Menschheitsdämmerung, 1959, S. 15), sondern auch "celant".

*

Der hier vorliegende Text stammt aus dem Gedichteband "Die Niemandsrose", 1963. Er ist ein prägnantes Beispiel für die Gedichtform der "Freien Rhythmen", die Celan in besonderer Weise kultivierte und salonfähig machte. Häufig begegnen bei ihm als Grenzphänomen der freien Rhythmen Gedichtzeilen, die lediglich ein Wort enthalten. Nehmen wir die Einzelwortzeilen in diesem Gedicht, so haben wir "Niemand", "Dir", "entgegen", "Niemandsrose" und "Mit".

Diese Einzelworte stehen deutlich keineswegs alleine, sondern werden in ihrem Umfeld mehrmals genannt oder zumindest konnotiert. So erscheint "Niemand" noch dreimal in der unmittelbaren Nachbarschaft der Einzelwortzeile "Niemand". "Dir" erscheint kasusgleich zwar nur einmal, und zwar vor der Einzelwortzeile, wird aber mit einem "du" angedeutet und durch ein einfach zwischengeschaltetes und dann unmittelbar folgendes mehrfaches "Wir" eingebettet. Die "Niemandsrose" steht gleichfalls nicht isoliert, sondern wird vorbereitet durch "blühend" und "Nichts-", bildstark ausgeführt dann im Gefolge mit "Griffel", "Staubfaden", "Krone", "Purpurwort" und "Dorn". Lediglich "Mit" fällt heraus, was nicht erstaunt, ist es doch selbst ein Maßwort für die Vermittlung, Verbindung. Warum sollte es sich durch sich selbst oder Verwandte noch sättigen. "Mit" verbindet hier die "Niemandsrose" mit ihrer lyrischen Entfaltung in der letzten Strophe des Gedichtes.

Im Gedicht, das sich als "Psalm" ausweist, wird Gott angerufen. Doch er heißt hier "Niemand", ist der abwesende Gott, der Unnennbare, der Eigenschaftslose, der Gott der Kabbala und der negativen Theologie. Diesem "Niemand" als "Du" korrespondiert eine nichtige Schöpfung, sein Geschöpf als "Wir", das "Nichts" war, ist und sein wird. Doch kein durch und durch nichtiges Nichts, sondern eine "Nicht-", eine "Niemandsrose". Ausgezeichnet durch das "Purpurwort", Christus, das Leiden, die Dornenkrone. Unfruchtbar durch und durch, denn der "Staubfaden" geht "himmelswüst" - oder doch fruchtbar in einem mystisch überhöhten Sinne, "seelenhell"?




Elisabeth Borchers
immer ein anderes
(1965)

und du willst auferstehen lebenslang
und der vogel beschattet das haus noch
im tode und der wind pflanzt sich fort
in den tag in die nacht und schüttelt
dein aug aber es ist leer und die
papierkörbe sind leer und die leere
ist eingeschlafen und weckt dich nicht mehr

weh dir die luft ist leer sie nimmt dich
nicht der baum ist leer und er nimmt dich
nicht kein vogel bist du vogel mehr kein
stein der weint um dich mein stein und
auch die sonne nicht und nicht der mond

und du willst auferstehen lebenslang
und fragst und fragst die nächste stadt
die andre stadt und klopfst und fragst
ist dies die nächste stadt das nächste
haus das haus ist leer die kerzen die
da brennen brennen nicht so lösch sie
aus es weckt dich niemand niemals mehr




Elisabeth Borchers wurde am 27. Februar 1926 in Homberg/Niederrhein geboren, gestorben ist sie am 25. September 2013 in Frankfurt/Main.

Sie war Lyrikerin und Herausgeberin von Kinderbüchern, arbeitete als Übersetzerin aus dem Französischen und als Lektorin zunächst bei Luchterhand, dem Literaturverlag, dann bei Suhrkamp. Dort war sie lange Jahre die rechte Hand von Siegfried Unseld.

Lyrikerin und Cheflektorin bei Suhrkamp - geht das zusammen? Sie betreute Autoren wie Peter Handke und Thomas Bernhard. Weiß die Autorin nicht zu viel von Literatur um noch frei von Hinter- und Quergedanken schreiben zu können? Doch vergessen wir nicht, auch die meisten "freien" Autoren, die Unbestrittenen von Hölderlin bis Rilke, waren hochgebildete Intellektuelle, kannten die Literatur, arbeiteten oft - allerdings in der Regel ohne Festanstellung wie Borchers - als Übersetzer und/oder Herausgeber. Es gibt also keinen Grund zum Misstrauen, zumal die Autorin als Lyrikern allgemein anerkannt ist.

Im ersten Lesen klingt der Text einfach nur perfekt, etwas zu glatt und modisch in seiner Kleinschrift und dem endlos assoziativ reihenden Wortfluss. Klingen so nicht Texte aus dem Creative Writing Seminar? Mit allen Ingredienzen versehen, die in den Sechzigern anspruchsvoll zu haben waren, Paul Celan und Samuel Beckett scheinen Pate gestanden zu haben. Und doch. Der Ton ist eigen, der Text verrät sich nicht an die Beliebigkeit.

Das zeigt schon die ersten Zeile mit ihrem "auferstehen lebenslang". Das könnte sein ein säkular gewordenes Christentum amalgamiert mit der permanenten Revolution, die bei Jean-Paul Sartre als "conversion permanente" bereits 1942 auftaucht, aus dem maoistischen China dann 1967 nach Deutschland kam, mit den ersten Mao-Bibeln. Und das ist eine schier unerträgliche Paradoxie, denn wer auferstehen will, muss ja zunächst gestorben sein - und das fortdauernd, "lebenslang", gleichsam verurteilt zu lebenslänglich? In unheilvollen Paradoxien geht es weiter, wie im Titel schon versprochen. Der "vogel beschattet das haus noch im tode". Bringt der Schatten des Vogels Trost oder Drohung? Ist der Vogel tot oder der Tod im Haus?

Es ließe sich so fortfahren, doch genügt das bereits Gesagte zum Nachweis, dass hier "ohne Punkt und Komma" vom Leben die Rede ist, besonders - aber nicht nur - vom Leben in den 60ern, der Krieg vorbei und noch andauernd in den Herzen und Köpfen, der Existentialismus ein Angebot zum Überleben im Trotzdem, Wohlstand sich ausbreitend wie ein Tuch des Vergessens. Dieses Leben beginnt mit dem Willen zum "auferstehen lebenslang" und endet mit "es weckt dich niemand niemals mehr". Bei Sartre in "Huis clos" gilt: "L'Enfer c'est les autres", Borchers hält dem "immer ein anderes" entgegen. Ein "Du" hält dieses Gedicht am Laufen, das Du selbst aber will nicht mehr laufen und ist doch in der dritten Strophe unermüdlich unterwegs, von Stadt zu Stadt, klopfend und fragend. Das strengt an, doch dem Gedicht gelingt es, diese Anstrengung aufzuheben.

Elisabeth Borchers hat selbst eine Interpretation zu ihrem Gedicht geschrieben, 1969 von Hilde Domin veröffentlicht in "Doppelinterpretationen". In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen von 2001 schreibt Borchers: "Jedes Gedicht ist ein Wagnis." Dies muss auch jeder Leser, jede Leserin eingehen, gerade bei Texten wie diesem.





Ingeborg Bachmann
Die gestundete Zeit
(1953)


Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
 
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
 
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
 
Es kommen härtere Tage.




Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt/Kärnten geboren. Die Familie der Mutter besaß eine Strickwarenproduktion, ihr Vater Mat(t)hias kam aus einer Bauernfamilie, war Lehrer, dann Direktor an einer Hauptschule und trat früh der NSDAP bei. 1946-1953 studierte Bachmann in Wien Philosophie und Rechtswissenschaften. Sie promovierte mit einer kritischen Arbeit über Heidegger, dem sie "Verführung" zum "deutschen Irrationaldenken" vorwarf. Mehr als Heidegger galt ihr Ludwig Wittgenstein, mit dessen Werk sie sich  zeitlebens beschäftigte. In Wien arbeitete sie von 1951-1953 beim amerikanischen Sender RWR, im Script Department, unter anderem an der Hörfunksendung "Die Radiofamilie" (15 von 351 Folgen). Auch später bestritt sie ihren Lebensunterhalt teilweise mit Mauskripten für Radiosendungen. Von einem Kollegen beim RWR wurde sie als "kettenrauchende Meerfrau mit Engelhaar, die mehr flüsterte als sprach" (Peter Weiser) bezeichnet.

1953 erhielt sie den Lyrik-Preis der Gruppe 47. Im gleichen Jahr erschien ihr Lyrikband "Die gestundete Zeit", der ihr im Folgejahr auch einen Spiegel-Titel eintrug. Trotz ihres frühen Erfolges blieb ihre Existenz finanziell bis zum Tod ungesichert, zumal sie keinen haushaltenden Lebensstil pflegte. 1964 wurde ihr der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. In den 60er Jahren geriet sie in Tabletten- und Alkoholabhängigkeit. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 entstand in ihrer Wohnung in Rom ein begrenzter Brand. Auslöser war eine brennende Zigarette. Ingeborg Bachmann erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades und starb im Krankenhaus am 17. Oktober 1973. Der befreundete Komponist Hans Werner Henze initiierte eine Anzeige gegen Unbekannt wegen Mordes. Das Ermittlungsverfahren wurde im Sommer 1974 eingestellt mit dem Ergebnis, dass ein Fremdverschulden nicht nachgewiesen werden könne, dass vielmehr der Medikamenten- und Alkoholmissbrauch der Autorin für das Unglück mit verursachend war.

Ihre wichtigsten Männerbeziehungen - neben der höchst ambivalenten zu ihrem Vater - waren die mit Hans Weigel (1947/48), Paul Celan (1948-1951, 1957/58), Hans Werner Henze (1952-1956) und Max Frisch (1958-1962). In einem extremen Zusammenbruch November 1962 endete für sie die Beziehung mit Max Frisch, der sich in eine 28 Jahre jüngere Frau verliebt hatte, die er später in zweiter Ehe heiratete, Marianne Oellers. Spekuliert wird in der Forschung darüber, ob Bachmann in dieser Zeit von Frisch schwanger gewesen sei. Sie erwähnte in einem Brief an Henze vom 04. Januar 1963 eine auch "physische" Operation, vermutet wird eine Abtreibung. An Paul Celan schrieb sie in einem Brief 1951: "Ich liebe Dich und will Dich nicht lieben, es ist zuviel und zu schwer". Nach Celans Freitod 1970 in der Seine in Paris formulierte sie in ihrem Roman "Malina" (Henze: "Mahlers Elfte") eine Sequenz, die in der Forschung als Nachruf auf Celan gewertet wird: "Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken, er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben." Zwei Jahre danach starb ihr Vater, kurz darauf sie selbst.

*

Das Gedicht "Die gestundete Zeit" gab dem ersten Lyrikband Bachmanns den Titel. Der Band erschien 1953 in der Frankfurter Verlagsanstalt, herausgegeben von Alfred Andersch, und machte die Autorin berühmt. Im gleichen Jahr erhielt sie den Lyrik-Preis der Gruppe 47 und im Jahr darauf kam sie im "Spiegel" auf die Titelseite. 1954 verlegte Piper eine um einen Text veränderte Neuausgabe von "Die gestundete Zeit".

Der Text, der ihrem ersten Gedichtband den Titel gab, irritiert heute mehr denn je. Acht Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges spricht hier jemand von "gestundeter Zeit". Das mag persönlich-privat gemeint sein, liest sich aber wie ein Angriff auf das öffentliche Bewußtsein, das Selbstgefühl des Wiederaufbaus: Achtung, alles was ihr gerade treibt geschieht auf Kredit, alles auf Widerruf, auf Rückruf, alles gestundet, selbst die Zeit! Und dann die Warnung: "Es kommen härtere Tage". Wie bitte? Waren nicht gerade die härtesten Tage der jüngeren Menschheitsgeschichte vergangen? Hat die Autorin Auschwitz und Hiroshima vergessen im Kaffeehaus-Getriebe?

Sicherlich hat sie das nicht, sie war gerade mit Paul Celan zusammen gewesen, der sie jeden Tag daran erinnerte. Und doch klingt der Text eskapistisch. Keinen Eskapismus ins Wohlbefinden bietet er an, aber mit Blick auf die Zeitumstände muss die Frage erlaubt sein, ob er es sich nicht zu gemütlich einrichtet in homöopathisch dosierter Katastrophen-Beschwörung. Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen, das scheint sein Prinzip. Und die ersten Reaktionen auf den Lyrikband bescheinigten ihm auch eine gleichsam heilende Wirkung, sahen einen Gegenentwurf zum schmerzhaften Realismus der sonstigen Gegenwartsliteratur, sprachen von Metaphysik und neuer Mythologie, lobten die unerhörten Bilder.

Lassen wir uns jedoch nicht von den Bildern verführen. Hören wir nur die ersten drei Zeilen. Und nehmen wir sie wörtlich als Botschaft der Nachkriegszeit. Dann steht da schlicht: Aufgepasst, das Grauen ist noch nicht vorbei. Es wird uns begleiten und prägen. Und das hat es, bis hinein ins 21. Jahrhundert.

Lektüreempfehlung: Andrea Stoll, Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit, Bertelsmann 2013




Ingeborg Bachmann
Erklär mir, Liebe
(1956)

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube schlägt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.


... weiter ...




"Erklär mir, Liebe" ist einer der bemerkenswert hoch gestimmten Texte, die während Bachmanns Zusammenleben mit dem homosexuellen Komponisten Hans Werner Henze in Italien entstanden. Die Autorin war bisweilen, ihre Briefzeugnisse künden davon, glücklich in Italien, bei Henze und ohne ihn, auf Ischia, in Rom, in Neapel. Im September 1953 hatte sie an Paul Celan, mit dem sie eine tief problematische Liebesgeschichte verband, aus Forio/Ischia geschrieben: "Manchmal wünsche ich mir, nie mehr zurück zu müssen nach ›Europa‹". Erschienen ist der Text "Erklär mir, Liebe" zum ersten Mal in der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 19. Juli 1956.

Und hier nun fragt die Autorin nach "Liebe" - wobei zunächst in der Schwebe bleibt, ob sie mit Ihrem Imperativ ("erklär") von einem bestimmten menschlichen Du ("Dein Hut") eine Erklärung zur Liebe möchte oder die Liebe selbst anspricht um Erklärung. In den Strophen Fünf und Sechs wird klar: Die Liebe selbst wird angefragt, Gott Amor, den Francesco Petrarca, immer wieder Referenz Bachmanns, in seinem Modell aller europäischen Liebeslyrik, dem "Canzoniere", noch direkt angeredet hat. Das Du dagegen bekommt zu hören: "Erklär mir nichts". Dass es um - auch - sexuelle Liebe geht, wird an den gewählten Bildern aus dem Tier- und Pflanzenreich deutlich. Formal muten diese an wie altväterlicher Aufklärungsunterricht mit Blüte und Biene. Doch zauberhaft leicht kommen sie daher, "Der Käfer riecht die Herrlichste von weit" - schöner ist die Wirkung von Pheromonen sicherlich nie beschrieben worden.

Doch dieser Text will nicht nur "schön" sein. Er spricht im Konjunktiv davon, die "Flügel" fühlen zu können, die unter eines Käfers "Panzer" "schimmern". Beschönigt wird hier nicht, nur Schönes wahrgenommen, aus der schmerzlichen Distanz des "gehst an dir zugrund". Mit "lachst" und "weinst" der Grundakkord des Textes, angeschlagen am Ende der ersten Strophe. Und dieses "zugrund" ist nicht mit Heidegger gemeint, dessen Irrationalismen die Autorin in ihrer Dissertation bereits entschieden kritisierte. Paul Celan schreibt in "Von Dunkel zu Dunkel" 1954: "Du schlugst die Augen auf - ich seh mein Dunkel leben./ Ich seh ihm auf den Grund:/ auch da ists mein und lebt." Mit ihm schreibt Bachmann hier.

Liebe bei den Tieren, bei den Pflanzen, ja gar beim Unbelebten, "die Welle nimmt die Welle an der Hand" und "Ein Stein weiß einen andern zu erweichen". Nur, und da öffnet dieses Gedicht seinen Abgrund, nur unter Menschen, bestimmten Menschen scheint es dies nicht zu geben, da wird in banger Erklärungsnot gefragt "sollt ich die kurze schauerliche Zeit/ nur mit Gedanken Umgang haben". Das Du weiß darauf keine Antwort, sein "es zählt ein andrer Geist auf ihn" wird barsch zurückgewiesen: "Erklär mir nichts". Nur ein Tier kann hier zum Vergleich noch dienen: Der Salamander, der "durch jedes Feuer" geht.

Den Zyklus "Lieder auf der Flucht", veröffentlicht in der Sammlung "Anrufung des Großen Bären" stellte Ingeborg Bachmann unter ein Zitat aus den "Trionfi" Francesco Petrarcas, genauer: aus dem "Trionfo d'Amore" III/148ff.

Dura legge d'Amor! ma, benchè obliqua,
servar convensi, però ch'ella aggiunge
di cielo in terra, universale, antiqua.

Das "harte Gesetz" der Liebe, es prägt auch diesen Text.

Lektüreempfehlungen:
Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft, Piper 2004

Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit. Briefwechsel. Suhrkamp 2008



Sarah Kirsch
Datum
(1976)


Der kam am 28. Februar, stellte
Sich mir vors Fenster in einem Bärenfell sagte
O wie mir schwindelt. An diese Höhe
Könnte ich dich gewöhnen, Schöner
Lerne mich tragen und ich
Mache mich leicht. Auch soll dir dafür
Manches Wunder passieren: mein Haar
Wird dir durch die Finger wachsen dein Mund
Der Abdruck des meinen du hörst mich fortan
Wenn ich nicht da bin. Sprichst meinen Namen
Hin in die Winde: alles gelingt.
Herzschöner wollen wir Julia und Romeo sein?
Der Umstand
Ist günstig, wir wohnen
Wohl in der gleichen Stadt, aber die Staaten
Unsere eingetragenen Staaten gebärden sich, meiner
Hält mich und hält mich er hängt so an mir wir
Könnten sehr unglücklich sein auch du sprachest
Eben noch mit mir




Geboren wurde Sarah Kirsch am 16. April 1935 als Ingrid Hella Irmelinde Bernstein im Pfarrhaus von Limlingerode (Hohenstein), getauft wurde sie von ihrem Großvater Paul Bernstein in der zugehörigen Kirche. 1954-58 studiert sie Biologie in Halle. 1960 heiratet sie den Lyriker Rainer Kirsch, von dem sie sich 1968 trennt. Später erscheint er in ihrer Literatur als "Prinz Herzlos". 1963-1965 studiert sie am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. 1969 bekommt sie einen Sohn, dessen Vater der Schriftsteller Karl Mickel ist. Mit diesem Sohn, Moritz, lebt sie in Berlin in der Nähe der Mauer, im Wohngebiet Fischerinsel, im 17. Stock eines Hochhausblocks. 1973-1976 ist sie Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes. 1974 lernt sie den westdeutschen Schriftstellerkollegen und Maler Christoph Meckel kennen, mit dem sie 1976 eine Frankreichreise unternimmt. 1976 gehört Sarah Kirsch auch zu den Erstunterzeichnerinnen des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann.

1977 verlässt sie nach fortgesetzten Schikanen im Gefolge dieser Unterzeichnung die DDR, man lässt sie problemlos ausreisen, in einem persönlichen Brief an Honecker droht sie gar indirekt mit Selbstmord, falls man sie nicht ziehen ließe. Sie lässt sich mit ihrem Sohn in West-Berlin nieder, zieht aber schon 1978 für ein Jahr in die Villa Massimo in Rom, wo sie den achtzehn Jahre jüngeren Komponisten Wolfgang von Schweinitz kennen lernt. Am 05. Mai 1983 bezieht sie mit ihrem Sohn das alte Schulhaus in Tielenhemme im Kreis Dithmarschen/Schleswig-Holstein, einem Weilerverbund mit nicht einmal 200 Einwohnern. In den ersten Jahren lebt auch Wolfgang von Schweinitz mit ihnen zusammen. "Gottlob ist diese Gegend so menschenscheu", schreibt Kirsch einmal über ihre Wahlheimat. 1996 erhält sie den Georg-Büchner-Preis. Am 05. Mai 2013 stirbt sie im Krankenhaus Heide/Holstein.

*

Das Gedicht "Datum" wurde erstmals in Sarah Kirschs Lyrikband "Rückenwind" 1976 veröffentlicht. Was Sarah Kirsch hier mit dem 28. Februar verbindet, bleibt offen. Der hier "kam" könnte ihr westdeutscher Schriftstellerkollege Christoph Meckel sein, mit dem sie 1974-1976 in engerer Beziehung stand. Der 1. März war in der DDR der Tag der Nationalen Volksarmee, es wird allerdings nicht deutlich, ob dies hier von Bedeutung ist. Die Szene scheint an der Berliner Mauer zu spielen, die Rede ist von zwei "eingetragenen Staaten" in einer gemeinsamen Stadt. Auch muss der "Schöne" drüben, im Westen (Christoph Meckel?), hoch hinaus, um das Ich auf Fensterhöhe - über die Mauer hinweg - anzusprechen. Im Gedicht "Trennung" von 1977 heißt es: "Wenn ich in einem Haus bin, das keine Tür hat/Geh ich aus dem Fenster."

Die Literaturwissenschaft geht von "märchenhaften Elementen" in diesem Gedicht aus, möchte auch das "Bärenfell" so deuten. Aber bleiben wir doch einmal dabei, dem Datum folgend, Konkretes hinter diesen Bildern anzunehmen. Sarah Kirsch lebte vor ihrem Wegzug 1977 nach West-Berlin im Ostberliner Wohngebiet Fischerinsel mit ihrem Sohn Moritz im 17. Stock eines zwanzigstöckigen Hochhauses. Also in der Tat in schwindelnder Höhe. Und die Mauer befand sich in Sichtweite. Schwierig wird es allerdings damit, sich einen Mann im Bärenfell vor dem Fenster dieser Wohnung vorzustellen. Das Bärenfell selbst kann allerdings durchaus wieder konkret genommen werden, als Faschingskostüm. Am 01. März 1976 war Rosenmontag. Oder stammt das Fell aus dem Umkreis der Übersetzungsarbeit Kirschs am altrussischen Igorlied in den 70er Jahren?

Der Dialog zwischen Mann (Du) und Frau (Ich) verlässt dann allerdings schnurstracks die von der Datumsangabe suggerierte Konkretheit. Und es wird dem Mann auch "manches Wunder" versprochen. Beim genauen Hinsehen sind diese allerdings gar nicht so wunderbar, wenn wir etwa "durch die Finger" als "zwischen den Fingern durch" verstehen. Der Name der Frau sei ein Zauberwort, nun gut. Aber gleich wird das zurückgenommen im schon ironisch klingenden Vergleich mit "Julia und Romeo". Und nach diesen eher wunderlichen als wundersamen Liebesversprechen kommt dann ja auch gleich die Bremse des Ganzen, ein quälendes Stocken auch im Rhythmus des Gedichtes mit "die Staaten/Unsere eingetragenen Staaten" - wie die verfeindeten Familien in "Romeo und Julia" sich gebärdend. Und diese sind das "Datum", das "Gegebene".

Der Literaturwissenschaft Helmut Fuhrmann erklärt in "Vorausgeworfene Schatten", dieses Gedicht sei auch ein Reflex auf die Beziehung Sarah Kirschs mit dem westdeutschen Dichterkollegen Christoph Meckel.




Elke Erb
Wolken darüber. ich weiß nur das eine
(1997)

Ich gehe neben dem Rad.
Der Wagen ist höher als ich.
Er fährt eine hohe Fracht.

Dahinter die Giebel stehn
zart mit der Luft.

Sie schließen die Dächer.

So steigt es rechts von mir weiter.
Dann endet es, aber rechts vorn
ragt der Kastanienbaum.

Ein Landweg, im Dorf, eine
Dorfstraße, unsere.

Die Fuhre fährt hinaus.
Der Fuhrmann auf seinem Kutschbock?
Blickt lustig. Die Ochsen blicken wie Ochsen.

Ich blicke ernst.
Wer entgegen kommt, sieht es.

Ich bin eine Achtjährige.
Der Fuhrmann - im Alter des Fuhrmanns.
Die Ochsen sind ihr Teil Ochsen.

Neben meiner Schläfe rechts
das Trapez der hölzernen Wagenwand.

Links - nichts, der Garten; entfernt,
wo er endet, das Elternhaus.

Ich gehe mit der Fracht.
Der Fuhrmann blickt verschmitzt.
Unter dem Mützenschirm

die ewigen Lachfältchen.

Ich bleibe neben dem Rad,
als sei ich es, die ab und zu
achtsam die Zügel bewegt.

Unter den Schwingen, was ist.
Ein sachter Flug.



Elke Erb wurde am 18. Februar 1928 in Scherbach, einer kleinen Siedlung bei Merzbach/Rheinbach in der Eifel geboren. Ihre Eltern waren bekennende Linke, die in einem alten Bauernhaus in Scherbach Zuflucht vor dem Nationalsozialismus gesucht hatten. 1949 zieht die Familie nach Halle an der Saale, da der Vater Ewald Erb Arbeit als Literaturwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg gefunden hatte. 1966 wechselt Elke Erb als ausgebildete Slawistin nach Berlin, wo sie von Übersetzungen und literaturkritischen Arbeiten lebte. Anfang der 1970er Jahre begründete sie mit Adolf Endler, mit dem sie 1967 bis 1978 verheiratet war, die kleine Künstlerkolonie im sorbischen Dorf Wuischke, 220 Kilometer entfernt von Berlin.

2012 wurde Elke Erb der Trakl-Preis zugesprochen und am 31. Oktober 2020 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis für ihr Lebenswerk. Allerdings hat dies ihre Bekanntheit nicht wesentlich erhöht. Zu spröde ist ihre Lyrik, die sich allen Kategorisierungen entzieht, zu sehr geprägt von den Erfahrungen der DDR und der Wiedervereinigung, zu nahe an Brecht (also "unzeitgemäß") und zu unfasslich zwischen politischer Lyrik und Naturlyrik changierend, als dass eine Leserschaft ihr gewogen sein könnte, die ohnedies nur noch selten zu Lyrikbänden greift, auch unter Corona-Bedingungen.

"Wolken darüber" erinnert sich. Erinnert sich und uns an die Kindheit einer Achtjährigen in einer fernen Zeit, als es noch Ochsenkarren gab. Und spricht dabei in der Ich-Form. Und zwingt uns, zu fragen, was das für eine Zeit war, als die Autorin selbst acht Jahre alt war. Es war das Jahr 1936. Olympische Spiele in Berlin. Triumphe des Nationalsozialismus. Davon weiß das Gedicht nichts. Es verwickelt uns, so scheint es, in ein "Gespräch über Bäume", das "ein Schweigen über so viele Untaten einschließt" (Brecht, An die Nachgeborenen). Doch was weiß eine Achtjährige von diesen Untaten?

Die zurückblickt, weiß. Und sie entwirft uns keine Kindheitsidylle, sondern hält sich an das, was der Fall ist. Wo Wertungen kommen, werden sie markiert, einmal als Frage: "Der Fuhrmann auf seinem Kutschbock?" - "Blickt lustig." Einmal durch das Zeugnis anderer: "Ich blicke ernst./Wer entgegenkommt, sieht es." Ansonsten sind die Ochsen Ochsen, die Giebel Giebel, der Fuhrmann ist "im Alter des Fuhrmanns" und der Kastanienbaum "ragt".

Das Kind selbst ist "eine Achtjährige", ist klein und nennt vor allem das, was größer ist: Der Wagen mit seiner unbekannten Fracht, die Giebel, der Kastanienbaum. Und in dieser Welt, die der Fall ist, öffnen sich immer wieder kleine poetische Fenster. Das beginnt mit dem Titel, der uns das Höchste nennt, was diese kleine Welt kennt: "Wolken darüber." Um diese gleich dem Überschaubaren einzuordnen: "ich weiß nur das". "ich" kleingeschrieben. Eingeordnet in eine Welt, die das dichterische Wort nur braucht, um sichtbar zu werden, nicht als Existenzbedingung. Die Giebel stehen "zart mit der Luft" und "schließen die Dächer". Mehr braucht es nicht. Das Unheil bleibt draußen, gebannt.





Volker Braun
Letzter Aufenthalt auf Erden
(für Pablo Neruda)
(1974)

An seinen laubigen Zaun, in der Dunkelheit
Klammern sich Kraken, fallend aus Tanks
Auf seinen Treppen hocken, schwitzend vor Dummheit
Die geheimen Schaben der öffentlichen Ordnung
An den Telefonkabeln wie wuchernder Rotz
Die Ohrmuscheln der Miliz, unter seinen Bäumen
Die Gewehre im Anschlag, warten Kadaver
Unsterblich in ihrer Schande, in spanischer Angst:
Aber in seinem umzingelten Zimmer der Dichter
Sagt, das ist sicher wie nie sein verbrennendes
Leben mehr, die tödliche Wahrheit.




Volker Brauns Biographie ist Teil der intellektuellen Biographie Deutschlands seit 1945. Geboren wurde er 1939 in Dresden. Als Dramatiker arbeitete er 1965 bis 1990 am Berliner Ensemble zunächst mit Helene Weigel, dann mit Manfred Wekwerth zusammen. Er war bis zur Wende Hausautor des Berliner Ensembles, in den 80er Jahren gab es vier Uraufführungen von Braun-Stücken, "Großer Frieden", "Tinka", "Simplex Deutsch" und "Lenins Tod". Im Jahr 2000 erhielt Braun den Büchnerpreis. Im gleichen Jahr veröffentlichte der "Spiegel" Einblicke in die Stasi-Unterlagen zum "Operativ-Vorgang Erbe", der zum Ziel hatte, Braun im Sinne der Stasi zu beeinflussen, unter anderem über Manfred Wekwerth. Braun waren diese Akten schon seit 1993 bekannt, dem "Spiegel" gegenüber negierte er eine tatsächliche Beeinflussung, eher hätten ihn weitergehende Maßnahmen der Stasi verhärtet und zu "immer schlimmeren Stücken" geführt. Volker Braun gehört zu den wenigen kritischen Intellektuellen der DDR, die auch nach der Wende eine klare Verbundenheit mit ihrem Herkunftsland bekundeten. Berühmt geworden ist der Satz "mein Land geht in den Westen" aus dem Gedicht "Das Eigentum" von 1990 - welches endet mit der Frage "Wann sag ich wieder mein und meine alle".

Die 1960er und -70er Jahre waren eine Zeit politischer Lyrik, nicht nur in den beiden deutschen Staaten. Pablo Neruda war in diesem Kontext eine bedeutsame Identifikationsfigur als Politiker und Schriftsteller in einem.

"Residencia en la tierra" ("Aufenthalt auf Erden") nannte Pablo Neruda (1904-1973) drei zwischen 1925 und 1945 entstandene Gedichtzyklen, deren erster 1933 veröffentlicht wurde. Darin entwickelt Neruda in für nachkommende Dichtergenerationen beispielgebender Weise eine Lyrik, die in teilweise angespanntester Sprache politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen suchte. 1945 trat er der Kommunistischen Partei Chile bei, 1971 erhielt er den Literaturnobelpreis. In der DDR wurde er auch von offizieller Seite hoch geschätzt. Mit seinem Gedichttitel schließt Braun an das zugleich politische wie ästhetische Schaffen Nerudas an.

Die Bilder Brauns sprechen von politischer Verfolgung, Bespitzelung und Unterdrückung, der ein "Dichter" in seinem "umzingelten Zimmer" ausgesetzt sei. Das lässt sich unmittelbar auf Neruda beziehen, der unter Gonzáles Videla politisch verfolgt wurde und 1949 bis 1952 im Exil lebte, dann kurz nach dem Putsch unter Augusto Pinochet im September 1971 ermordet wurde. Deutlich ist aber auch der Bezug zur Dichter-Wirklichkeit Brauns in der DDR, etwa mit den "Schaben der öffentlichen Ordnung" und den "Ohrmuscheln der Miliz".





Wolf Wondratschek
In den Autos
(1976)

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.

Einige schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit,
um uns zu endgültigen Entschlüssen aufzufordern.

Einige saßen auf dem Berg,
um sie Sonne auch nachts zu sehen.

Einige verliebten sich,
wo doch feststeht, daß ein Leben
keine Privatsache darstellt.

Einige träumten von einem Erwachen,
das radikaler sein sollte als jede Revolution.

Einige saßen da wie tote Filmstars
und warteten auf den richtigen Augenblick,
um zu leben.

Einige starben,
ohne für ihre Sache gestorben zu sein.

Wir waren ruhig,
hockten in den alten Autos,
drehten am Radio
und suchten die Straße
nach Süden.






Zu seiner Biographie schreibt Wolf Wondratschek selbst: "Wenn es nach mir ginge, stünde da nur: Geboren 1943 in Rudolstadt/Thüringen, lebt in Wien. Schließlich gibt es ja - ab dem Jahr 1969 - die viel interessantere Biographie meiner Bücher (siehe Bibliographie)." Nun, dem möchte ich nur hinzufügen: Aufgewachsen in Karlsruhe, hört während des Studiums in Heidelberg bei Gadamer und Löwith, in Frankfurt bei Adorno, für mich der bedeutendste Lyriker der so genannten 68-er Generation, also der in den 1940er Jahren Geborenen.

Der Titel ist schon ein Teil des Programms seiner Zeit. Road-Movies prägten die Filmkulisse, allen voran "Easy Rider", mit Motorrad, aber gleicher Botschaft. Das Auto als Symbol des Wirtschaftswunders ist für diese Generation bereits selbstverständlicher Teil der Welterfahrung, wird als Rostlaube und/oder mit Hippie-Anmalung vom Spießer-Image befreit und zum Symbol ungebundener Lebensführung, als VW-Bus gar zum mobilen Lebensmittelpunkt, unterwegs nach Indien oder Marrakesch - oder zu den Genossen in Italien. Auch Holger Meins hatte einen abgewrackten VW-Bus, 1968 fuhr damit eine Gruppe Linker aus Berlin zum Filmfestival in Pesaro (Erinnerung von Johannes Beringer).

Die Protagonisten des Gedichtes sitzen "in den alten Autos", drehen, bereits lässige erste Medien-Generation, am Radio auf der Suche nach AFN oder anderen geilen Sendern und suchen "die Straße nach Süden". Wie nicht ganz zweihundert Jahre zuvor Aufklärer, Stürmer und Dränger, Utopisten und Revolutionäre die Sehnsucht nach dem Süden entdeckten, das Land "wo die Zitronen blühn" an die Wände ihrer Träume malten, so verbinden nun auch Teile der Hippie- und Studentenbewegung politische Aufbruchsideen mit dem Bedürfnis nach einem "südlichen" Lebensstil und Lebensort.

Peter Schneider, 1940 geboren, schrieb 1973 den Entwicklungsroman "Lenz" und verordnet dort seinem Helden eine Reise nach Italien, wo sein zerrissenen Bürgerherz im antibürgerlichen Milieu genesen soll. Schneider war auch Autor der "Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller", veröffentlicht im Kursbogen zum Kursbuch 16/1968. Darin forderte er eine "propagandistische Kunst". Diese "propagandistische Kunst" wird in Wondratscheks Gedicht gleichsam protokollarisch abgehandelt.

*

Die erste Strophe von "In den Autos" gilt der Verortung und schafft eine Kulisse, die in einem Filmstudio liegen könnte. Die Autos müssen nicht notwendig fahren, die Protagonisten hocken drin und im Hintergrund läuft die Landschaft vorbei, vom Projektor.

In den nachfolgenden Strophen paradieren die Tagträume, die politischen Parolen, die Brüche von Theorie und Praxis im Horizont der 68er. Die "endgültigen Entschlüsse", die politische "Sonne"-Metapher ("Brüder, zur Sonne, zur Freiheit"), dass ein Leben "keine Privatsache" sei, radikales "Erwachen", der "richtige Augenblick" (Kairos), das Sterben "für ihre Sache": Sie alle werden lakonisch Zug um Zug abgefeiert.

In einer biographischen Notiz für seinen Hausverlag dtv-Hanser schreibt Wondratschek "ich habe erlebt, was es heißt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein". Die Idee des Kairos, eine Hintergrundidee der 68er-Bewegung, grundiert auch diesen Text. Und wie es scheint, haben alle Protagonisten ihr Kairos verfehlt. Wohlgemerkt im schon skeptischen Rückblick 1976 geschrieben, im Passato remoto. Unterstrichen durch die letzte Strophe, die die erste wiederholt und den resignativen Stillstand besiegelt.

Marcel Reich-Ranicki, der wesentlich dazu beigetragen hat, Wondratschek mit seinem Erstling, "Früher begann der Tag mit einer Schußwunde", 1969 über Nacht berühmt zu machen, nahm keinen Wondratschek-Text in seine Sammlung "Die besten deutschen Gedichte" auf. Für Reich-Ranicki war Wondratschek primär Prosaist, auch wenn er dessen Gedichtband "Die Einsamkeit der Männer" "(b)einahe schon ein Klassiker der jungen deutschen Lyrik" nennt. Und ganz kann man sich diesem Urteil nicht verschließen. Zumal Lyriker und 68-er Generation nur schwer zusammen geht. Reich-Ranicki hat sich für Wondratscheks Generationsgefährten Rolf Dieter Brinkmann ("Trauer auf dem Wäschedraht im Januar") entschieden, der sicherlich als Lyriker gewichtiger ist.

Mir persönlich scheint Wondratschek richtiger im historischen Durchgang, den ich mit ihm beende. Und gewiss nicht weniger relevant als Reich-Ranickis 1946 geborene Muse Ulla Hahn, die gleich 6x in seiner Sammlung vertreten ist.








Wandmalerei
              beim Markgrafengymnasium Durlach EichhörnchenFischerboot mit Stahltrossentrommel im Hafen von
              Douala


Flora Nahjela Langsi
Herbstspaziergang
(2015)


Ein Windchen weht, einsam gehe ich durch den Park.
Kinder spielen mit ihren Drachen oder bewerfen sich mit Blättern.
Voller Hast schaut ein Eichhörnchen das andere an, es hat ihm
                                                                  die Nuss geklaut.

Der Wind wird stärker, Blätter fliegen durch die Luft.
Alte Leute sitzen auf der Bank und blicken verträumt in
den Himmel. Alle Drachen grinsen mich an, ich grinse zurück.
Ich gehe weiter zu den Feldern, gelb schimmernde Stoppel
leuchten heraus. Aber ich geh noch lange nicht nach Haus.

Vogelgesang, Rehgeraschel. Ich merke der Sommer ist vorbei.
Der Herbst fängt an,
Der Wind sagt zur Hitze: "Jetzt bin ich aber dran."
Ich geh nach Hause und siehe da, der Ofen ist an.

Hurra!


Flora Nahjela Langsi starb am 20.11.2015, mit elf Jahren, durch die Hand ihres Vaters.