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 Interpretationen zu Georg Trakl

              Hartmut Schönherr



Selbstportrait 1913
 
Georg Trakl Selbstportrait 1913

  
BIOGRAPHIE, BRIEFE, WERKANALYSEN, HISTORISCHE EINORDNUNGEN, EINZELTHEMEN
 

Die Lyrik Georg Trakls gehört zum Kanon des schulischen Deutschunterrichtes und ist Gegenstand von Universitätsseminaren auf der ganzen Welt. Sie widersetzt sich jedoch der Deutung noch immer und wird häufig als "hermetisch" (also nur innerhalb eines für sich stehenden, geschlossenen semantischen Systems verständlich) bezeichnet.

Die nachfolgenden Interpretationen bieten Anregungen, Hinweise, Informationsangebote zur persönlichen, aber auch wissenschaftlich begründbaren Erschließung der Texte. Sie basieren auf gesicherten Befunden und orientieren sich an wissenschaftlichen Standards. Es geht also nicht um persönliche Eindrücke und Assoziationen, sondern um nachprüfbare Deutungsansätze in literaturhistorischen, zeitgeschichtlichen, allgemein kulturellen und biographischen Bezügen.
Gelegentlich gebe ich auch Hinweise auf weiterführende Sekundärliteratur.

Detaillierte Angaben zum Leben Georg Trakls, Erläuterungen zu seinen Briefen, allgemeine Erklärungsansätze zu seinem Werk, historische Einordnungen, etwa Trakls Position im Expressionismus, sowie zusammenfassende Darstellungen seiner Motive und Themen finden Sie auf der Essay-Seite.

Die Traklschen Texte mit den zugehörigen Interpretationen sind nachfolgend alphabetisch nach dem Gedichttitel geordnet, von "Abendgang" bis "Zu Abend mein Herz".





ABENDGANG


Ich gehe in den Abend hinein,
Der Wind läuft mit und singt:
Verzauberter du von jedem Schein,
O fühle, was mit dir ringt!

Einer Toten Stimme, die ich geliebt,
Spricht: Arm ist der Toren Herz!
Vergiß, vergiß was die Seele dir trübt!
Das Werdende sei dein Schmerz!



In der von Trakl selbst zusammengestellten Sammlung von 1909 befinden sich auffallend viele Gedichte mit zwei Strophen zu je vier Zeilen ("Ballade", "Gedicht", "Ausklang", "Vor Sonnenaufgang", "Begegnung" und "Abendgang"). Da Trakl diese Texte selbst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte und ihre Form im späteren Werk nicht mehr erscheint, dürfen wir sie als weniger bedeutsame Arbeiten des jungen Lyrikers einordnen.

"Abendgang" sei hier dennoch als ein prägnantes Beispiel dieser Gruppe näher betrachtet. Ausgezeichnet ist der Text unter anderem dadurch, dass wir hier einen wichtigen Hinweis darauf finden, wie das lyrische Du bei Trakl verstanden werden kann. Beide Strophen des Gedichtes zeigen ein charakteristisches Nebeneinander von "Ich" und "Du". Beide Male ist das "Du" der Sprechende selbst, angesprochen durch ein Drittes, in der ersten Strophe den "Wind", in der zweiten Strophe "Einer Toten Stimme". Explizit wird dies durch den jeweiligen redeeinleitenden Doppelpunkt.

Markant an diesem Text ist auch das Erscheinen einer geliebten Toten, deren Stimme das Ich vernimmt. Ein romantisches Motiv, das wir etwa von Novalis kennen, den Trakl sehr schätzte (vgl. das Gedicht "An Novalis"). Im "Heinrich von Ofterdingen" hört Heinrich als "Pilger" die Stimme der verstorbenen Mathilde. Darauf singt er ein Lied, welches endet mit dem "Traum der Schmerzen", der "weggespült" sei. Ansonsten ist die Stimme der verstorbenen Geliebten aus dem Petrarkismus bekannt. Bei Petrarca selbst finden wir das Motiv im "Canzoniere" gelegentlich als Ruf der Geliebten aus dem Jenseits, "dal ciel", mal als Mahnung, das Leben zu ertragen, mal als Versprechen auf ein Wiedersehen.

"Wie scheint doch alles Werdende so krank" heißt es in Trakls Gedicht "Heiterer Frühling". Hier in "Abendgang" ist es die Stimme einer geliebten Toten, die dem Sprechenden ("Verzauberte(n)") eine analoge Botschaft überbringt. Die hier formulierte Verbindung von "Werden" und "Schmerz" findet in der ersten Strophe eine konzeptionelle Ergänzung mit der Anrede des Windes an das Ich: "Verzauberter du von jedem Schein". Dies evoziert Bilder des Okkultismus, insbesondere der Trakl wohl vertrauten Theosophie, die Lehre vom "Schleier der Illusion" weltlicher Existenz (im Hinduismus "Maya") und die christliche Vorstellung vom "Werden" als schmerzhaftem Entwicklungsprozess (Nachfolge Christi).

Der expressionistische Lyriker August Stramm veröffentlichte 1914 ein Gedicht mit dem Titel "Abendgang". Ein Bezug zu Trakls Text ist nicht erkennbar. Trakls Stellung im Expressionismus wird hier dargestellt.





ABEND IN LANS
(2. Fassung)

Wanderschaft durch dämmernden Sommer
An Bündeln vergilbten Korns vorbei. Unter getünchten Bogen,
Wo die Schwalbe aus und ein flog, tranken wir feurigen Wein.

Schön: o Schwermut und purpurnes Lachen.
Abend und die dunklen Düfte des Grüns
Kühlen mit Schauern die glühende Stirne uns.

Silberne Wasser rinnen über die Stufen des Walds,
Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben.
Freund; die belaubten Stege ins Dorf.






Lans, das ist ein Dorf bei Innsbruck, in der Nähe der Villa Hohenburg, in der Trakl 1913 wohl mehrmals bei Rudolf von Ficker zu Gast war. Entstanden ist das Gedicht im September 1913 in Innsbruck. Eine erste Fassung trägt den Titel "Sommer".

In Lans kehrte Trakl häufig bei der "Isserwirtin" Antonia Raitmayr ein, im Gasthaus "Traube" - das noch heute (März 2014) von der Familie Raitmayr in der 15. Generation geführt wird.

Das Gedicht wurde von Trakl in die Sammlung "Sebastian im Traum" aufgenommen, gefolgt von "Am Mönchsberg" und "Kaspar Hauser Lied". Damit gibt Trakl selbst einen Hinweis darauf, wie wichtig ihm diese beiden Örtlichkeiten, Lans und der Salzburger Mönchsberg, waren. Denn das "Kaspar Hauser Lied" gilt als eines der persönlichsten Gedichte Trakls, der sich selbst in einem Brief an den Freund Erhard Buschbeck im April 1912 als "armer Kaspar Hauser" bezeichnet. Mit den vorangestellten Gedichten benennt er möglicherweise die Orte, die er als verbunden sieht mit diesem "Kaspar Hauser".

Auffallend ist, dass sowohl "Abend in Lans" als auch "Am Mönchsberg" das Motiv der Wanderschaft enthalten. Beide auch sprechen von einem "Steg" (einmal "belaubt", einmal "knöchern"), beide von Vergessenem, "Abend in Lans" in der Zeile "Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben", "Am Mönchsberg" in "Leise sagend die vergessenen Legenden des Walds". Und in beiden erscheint bewegtes Wasser ("Silberne Wasser rinnen", "Näher rauscht der blaue Quell").

"Abend in Lans" ist, wie viele Gedichte Trakls, eigentümlich zwischen erinnerter Vergangenheit ("tranken wir") und erinnernder Gegenwart ("Kühlen mit Schauern") aufgespannt. Die Bilder entstammen überwiegend dem ländlich-dörflichen Bereich, und wir dürfen konkrete Vorbilder annehmen. Allerdings sollten wir uns hüten davor, rasch Lans als überwiegenden Bildspender zu bestimmen. In "Ein Herbstabend" verwendet Trakl bereits im Dezember 1912, geschrieben in Salzburg, ähnliche Bilder und insbesondere das Bild vom "Bogen" in der Verbindung mit Zugvögeln.

Trakl ordnet die Bilder hier in der Art eines Triptychons, dessen Form das Gedicht doppelt bestimmt, in drei Strophen zu je drei Versen.






ABENDLÄNDISCHES LIED

O der Seele nächtlicher Flügelschlag:
Hirten gingen wir einst an dämmernden Wäldern hin
Und es folgte das rote Wild, die grüne Blume und der lallende Quell
Demutsvoll. O, der uralte Ton des Heimchens,
Blut blühend am Opferstein
Und der Schrei des einsamen Vogels über der grünen Stille des Teichs.

O, ihr Kreuzzüge und glühenden Martern
Des Fleisches, Fallen purpurner Früchte
Im Abendgarten, wo vor Zeiten die frommen Jünger gegangen,
Kriegsleute nun, erwachend aus Wunden und Sternenträumen.
O, das sanfte Zyanenbündel der Nacht.

O, ihr Zeiten der Stille und goldener Herbste,
Da wir friedliche Mönche die purpurne Traube gekeltert;
Und rings erglänzten Hügel und Wald.
O, ihr Jagden und Schlösser; Ruh des Abends,
Da in seiner Kammer der Mensch Gerechtes sann,
In stummem Gebet um Gottes lebendiges Haupt rang.

O, die bittere Stunde des Untergangs,
Da wir ein steinernes Antlitz in schwarzen Wassern beschaun.
Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden:
E i n  Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen
Und der süße Gesang der Auferstandenen.







Mit dem Text "Abendländisches Lied" hat Georg Trakl eines der bedeutendsten Gedichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Entstanden ist es vermutlich im Dezember 1913 in Innsbruck, erschienen ist es posthum in der noch von Trakl betreuten Sammlung "Sebastian im Traum". Sein Zeithorizont liegt zwischen den beiden Balkankriegen von 1913 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Die seit der zweiten Marokko-Krise 1911 anhaltenden politischen Spannungen in Mitteleuropa eskalierten im November 1913 mit der Marinekonvention zwischen Deutschem Reich, Österreich-Ungarn und Italien sowie der Zabern-Affäre.

Davon scheint das Gedicht auf den ersten Blick völlig unberührt. Die heute etwas überspannt wirkende mehrfache Ausrufung "O" lässt an Baudelaire denken, der in "Les Litanies de Satan" ("Les Fleurs du Mal") immerhin neunzehn mal ein "O" unterbringt, meist in der Fügung "Ô Satan". Auch sonst ist der Ton des "Abendländischen Liedes" dem - eher unpolitischen - Symbolismus näher als dem Expressionismus. Satan scheint indes bei Trakl nicht gegenwärtig. Doch einmal auf die Spur gebracht finden wir passend scheinende Bilder, "das rote Wild", "Blut blühend am Opferstein", "Kreuzzüge", "glühende Martern des Fleisches", "purpurne Früchte", "Kriegsleute", "bittere Stunde des Untergangs". Soweit die Bilder, die der gängigen christlich geprägten Vorstellung von Satan korrespondieren. Schauen wir bei Baudelaire, finden wir eine ganz andere Vorstellung zu Satan: "Ô toi, le plus savant et le plus beau des Anges,/Dieu trahi par le sort et privé de louanges,/Ô Satan, prends pitié de ma longue misère!" Satan als Engel, als Gott, als Erlöser wird hier angerufen - als zu Unrecht gefallener Engel, der für Menschen einsteht, denen auch Unrecht geschah. Und auch als solcher scheint er in Trakls Text ungenannt anwesend, in Bildern, die von der Seele als nächtlichem Flügelwesen sprechen ("der Seele nächtlicher Flügelschlag"), in Fügungen, die von der Spannung zwischen Gerechtigkeit ("Gerechtes sann") und Zerstörung ("Stunde des Untergangs") ihre Kraft beziehen.

Was könnte nun "abendländisch" bedeuten, welches Abendland ist damit gemeint? Offensichtlich doch ein in urtümlichem Sinne "christliches Abendland", darauf deuten "Kreuzzüge", der "Abendgarten, wo vor Zeiten die frommen Jünger gegangen" sowie die "friedlichen Mönche" hin. Eine Idylle der Frühzeit wird hier beschworen, das "goldene Zeitalter" des antiken Mythos klingt an, vor allem aber ein idealisiertes Mittelalter der Hirten und Mönche, der Klöster und Schlösser. Diese Zeit ging verloren durch eine Zeit von "Kreuzzügen", "Martern", "Kriegsleuten" und "die bittere Stunde des Untergangs". "Kreuzzüge" erscheinen geradezu als Sündenfall des Christentums, die Selbstzerstörung des Abendlandes. Das sich in einer bitteren Wendung des Narziss-Mythos "steinern" in "schwarzen Wassern" beschaut.

Trakls Bezug zum französischen Symbolismus wird auf der Essay-Seite näher besprochen.


   



ABENDLIED

Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn,
Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.

Wenn uns dürstet,
Trinken wir die weißen Wasser des Teichs,
Die Süße unserer traurigen Kindheit.

Erstorbene ruhen wir unterm Hollundergebüsch,
Schaun den grauen Möven zu.

Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt,
Die der Mönche edlere Zeiten schweigt.

Da ich deine schmalen Hände nahm
Schlugst du leise die runden Augen auf,
Dieses ist lange her.

Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht,
Erscheinst du Weiße in des Freundes herbstlicher Landschaft.




Ein schlichter Titel mit religiösen und/oder volksliedhaften Anklängen, dessen Grundwörter bei Trakl sehr häufig erscheinen, sowohl "Abend" wie "Lied". Auch ihre Verbindung kennen wir von anderer Stelle, aus dem Gedichttitel "Abendländisches Lied".

In der Form haben wir vier epigrammatische Zweizeiler und zwei Dreizeiler vor uns, symmetrisch angeordnet mit einem Zweizeile an Anfang und Ende des Gedichtes, ein Zweizeilerpaar in der Mitte, dazwischen je ein Dreizeiler.

Über diese formale Klarheit hinaus lässt uns das Gedicht ratlos mit einer Unbestimmtheit, die selbst im Kontext des Traklschen Werkes ungewöhnlich ist. Ein "Wir" ist angesprochen, das wir kaum auf uns als Leser beziehen dürfen, sondern im Werkzusammenhang verstehen müssen als eine intime Zweiheit, wie sie bei Trakl im Kontext von "Liebenden" oder im Verhältnis "Bruder-Schwester" und "Bruder-Bruder" begegnet.

Da die - gemeinsame oder nur ähnlich gestimmte ("traurige") - Kindheit angesprochen wird, liegt wohl eine eher geschwisterlich zu verstehende Beziehung vor. Allerdings reibt sich damit die letzte Zeile, die den einen Partner, feminin, als "du Weiße" anspricht, den anderen, maskulin, als "Freund". Nun wissen wir allerdings aus dem Gesamtwerk, dass Trakl seine Schwesterfigur häufig durch die Farbe Weiß charakterisiert.

Dieses "Wir" ist auf "dunklen Pfaden" unterwegs und begegnet dabei sich selbst oder einer Abspaltung von sich als "unsere bleichen Gestalten", die vorausgehen. Hier drängt sich auf, was Gunther Kleefeld ausgeführt hat, dass nämlich Trakl an einem"okkulten Erbe" partizipiere. Die "bleichen Gestalten" könnten Figurationen des eigenen Todes sein und auch Ablösungen von der leiblichen Gebundenheit.

"Erstorbene" sind die beiden hier im "Wir" vereinten Gestalten, in der Erinnerung lebendig und einander neu begegnend in "herbstlicher Landschaft", wenn "dunkler Wohllaut" bestimmt.

Ist es der Wohllaut vollendeter Lyrik? Ist es Erlösung im Lied, im "Abendlied"?

Lektüreempfehlung: Gunther Kleefeld, Mysterien der Verwandlung. Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung, Salzburg/Wien 2009






ABENDSPIEGEL

Ein Kind mit braunem Haar. Schwärzliche Flammen
Verscheucht ein Schritt in feuchter Abendkühle
In dunkelgoldner Sonnenblumen Rahmen;
Ein weiches Tier versinkt auf rote Pfühle.

Ein Schatten gleitet beinern übern Spiegel
Und leise taucht aus blauer Astern Schweigen
Ein roter Mund, ein rätselvolles Siegel,
Und schwarze Augen strahlen aus den Zweigen

Des Ahorns, dessen tolle Röte blendet.
Die Mauer hat ein sanfter Leib verlassen,
Ein blauer Glanz, der in der Dämmerung endet.
Der Wind klirrt leise in den leeren Gassen.

Am offenen Fenster welken still die Stunden
Des Liebenden. Der Wolken kühne Fahrten
Sind mit dem Pfad des Einsamen verbunden.
Ein Blick sinkt silbern in den braunen Garten.

Die Hände rührt des Wassers düstre Regung.
Ein frommer Geist reift ins Kristallne, Klare.
Unsäglich ist der Vögel Flug, Begegnung
Mit Sterbenden; dem folgen dunkle Jahre.




Der Text wird als 1. Fassung von "Afra" geführt. Die Rechtfertigung dafür sind die erste Zeile sowie die letzten beiden Zeilen. Ansonsten unterscheiden sich die beiden Texte sowohl in den Bildern als auch in der Form erheblich. In "Afra" wird der religiöse Bezug explizit herausgestellt und die Sonettform gibt dem Gedicht eine künstlerische Strenge, die der liedhaften Gestalt von "Abendspiegel" nicht eignet. Die Bildwelt von "Abendspiegel" korrespondiert der Liedform in ihrem reihenden Charakter. Die Folge der Strophen wirkt eher beliebig, man ist versucht, sie zu ändern, Strophen umzustellen. Und das Ende mit der fünften Strophe wirkt trotz eines eher abschließenden Gehaltes vorläufig, das Gedicht könnte auch noch weiter gehen.

Man mag darin eine künstlerische Gestaltung des Spiegelthemas sehen, sich im Unendlichen verlierende Weiter-Spiegelungen, ein Kaleidoskop vielleicht. Doch Trakl selbst scheint dieses Gedicht nicht zufrieden gestellt zu haben, er hatte es nicht zur Veröffentlichung vorgesehen.

"Abendspiegel" zeigt im eklatanten Unterschied zu "Afra" nur an einer Stelle einen religiösen Ton, in der letzten Strophe, wo von einem "frommen Geist" die Rede ist. Ansonsten begegnen Elemente, die aus anderen Texten Trakls bekannt sind, Abendbilder, Pflanzen im Herbstlicht, ein "brauner Garten", Wasser, Kristall, der Vogelflug, Sterbende, "dunkle Jahre". Das alles wirkt aufgereiht, zusammengetragen, nicht wirklich durchgearbeitet. Und doch sind Bilder gestaltet, die einzig sind, die das Traklsche Werk mit ausmachen. Der Satz von Heidegger, Trakls Werk sei ein einziges Gedicht, gewinnt an diesem Text eigentümliche Gültigkeit. "Am offenen Fenster welken still die Stunden/ Des Liebenden" - Sätze wie dieser gehören zum Bestand der Lyrik und sind mit der Angabe "Afra 1. Fassung" nicht angemessen begriffen.

Und doch müssen wir auch diesen Bezug zu "Afra" ernst nehmen. Er hilft uns, die erste Strophe beider Gedichte in gleichsam "wechselseitiger Erhellung" besser zu verstehen. Aus "dunkelgoldner Sonnenblumen Rahmen" und "rote Pfühle" wird (mit allen Einschränkungen, die einem solchen "werden" in der Lyrikanalyse zukommen müssen) in "Afra" das schwer zugängliche "Afras Lächeln rot in gelbem Rahmen". Damit korrespondieren "Afras Lächeln" und "rote Pfühle" sowie "Sonnenblumen" und "in gelbem Rahmen".

"Trakls's Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel." Rainer Maria Rilke 1915 in einem Brief an Ludwig von Ficker.






AFRA

Ein Kind mit braunem Haar. Gebet und Amen
Verdunkeln still die abendliche Kühle
Und Afras Lächeln rot in gelbem Rahmen
Von Sonnenblumen, Angst und grauer Schwüle.

Gehüllt in blauen Mantel sah vor Zeiten
Der Mönch sie fromm gemalt an Kirchenfenstern;
Das will in Schmerzen freundlich noch geleiten,
Wenn ihre Sterne durch sein Blut gespenstern.

Herbstuntergang; und des Hollunders Schweigen.
Die Stirne rührt des Wassers blaue Regung,
Ein härnes Tuch gelegt auf eine Bahre.

Verfaulte Früchte fallen von den Zweigen;
Unsäglich ist der Vögel Flug, Begegnung
Mit Sterbenden; dem folgen dunkle Jahre.



Schon der Titel des 1913 entstandenen Sonettes gibt Rätsel auf. Wer ist "Afra"? Der Hinweis auf die "Kirchenfenster" und den "blauen Mantel" deutet auf die Heilige Afra hin, die zur christlichen Gemeinde im spätantiken Augsburg gehörte und dort um 304 der Christenverfolgungen des römischen Kaisers Diokletian zum Opfer fiel. Doch die erste Zeile des Gedichtes widerspricht: "Ein Kind mit braunem Haar." Die Heilige Afra war eine erwachsenen Frau, die in der Regel mit Haube dargestellt wird. Auch die Beschreibung Afras "in gelbem Rahmen/Von Sonnenblumen" scheint nicht auf die Heilige zu verweisen.

Die Heilige wurde in der Legende dargestellt als Tempelprostituierte, die zum Christentum bekehrt wurde. "Afras Lächeln rot in gelbem Rahmen" könnte auf die Zeit der Prostitution hindeuten. Was "der Mönch" sah, ist dann die Afra nach der Bekehrung. Es ist überliefert, das Trakl sich häufig in Salzburger Bodelle begab, oft aber nur mit den Prostituierten redete oder schweigend bei ihnen saß. Diese Erfahrungen könnten in das Gedicht "Afra" eingegangen sein.

Rätselhaft ist im Sonett auch über die Figur der Afra hinaus fast alles, vor allem in den beiden Quartetten. Die Bilder stehen kaum vermittelt nebeneinander. Ob das "Kind" der ersten Strophe sich in einer Kirche befindet, können wir vermuten, wir erfahren es aber nicht deutlich. Wir erfahren nicht einmal, ob wir das Kind als leibhaftig annehmen sollen oder ob es sich um eine Abbildung handelt. Vordergründig gesehen, haben wir es in den Quartetten mit zwei Personen zu tun, dem "Kind" und "Afra", wobei wir "Afra" nur als Wahrnehmung einer Abbildung ("sah vor Zeiten" "gemalt an Kirchenfenster") gezeigt bekommen. Ob "Afras Lächeln rot" sich auf eine weitere Abbildung bezieht oder eine Imagination des lyrischen Ich darstellt, wissen wir nicht.

Etwas deutlicher sind die Bilder der beiden Terzette, die alle auf den Herbst hinweisen. Zumindest dann, wenn wir "des Hollunders Schweigen" als Herbstbild deuten, mit bereits faulenden Früchten. Dann wird der Abschluss "dem folgen dunkle Jahre" auf den Winter beziehbar. Wobei wohlgemerkt wir darin nicht konkrete Jahreszeiten gemeint sehen dürfen, sondern Metaphern, die einer weiteren Deutung offenstehen.

Dachte Trakl auch an die Verbindung zwischen Augsburg und Salzburg über Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Vater Johann Georg Leopold in Augsburg geboren wurde? Darauf gibt es im Gedicht nicht den geringsten Hinweis. Aufschlussreicher ist ein Vergleich mit dem Gedicht "Abendspiegel", der als erste Fassung des Gedichtes "Afra" verstanden werden kann, auch wenn ich persönlich darin ein eigenständiges Gedicht sehe. In diesem Gedicht ist von der Heiligen nicht die Rede. Hier dominieren Bilder aus dem Bereich der Erotik, der Körperlichkeit und der Liebe.

Die Farbenwelt Georg Trakls, die Bedeutung einzelner Farben in seinem Werk und die Stellung der Farben in einzelnen Gedichten werden auf meiner Essay-Seite detailliert dargestellt.


     



AM MÖNCHSBERG
(2. Fassung)


Wo im Schatten herbstlicher Ulmen der verfallene Pfad hinabsinkt,
Ferne den Hütten von Laub, schlafenden Hirten,
Immer folgt dem Wandrer die dunkle Gestalt der Kühle

Über knöchernen Steg, die hyazinthene Stimme des Knaben,
Leise sagend die vergessenen Legenden des Waldes,
Sanfter ein Krankes nun die wilde Klage des Bruders.

Also rührt ein spärliches Grün das Knie des Fremdlings,
Das versteinerte Haupt;
Näher rauscht der blaue Quell die Klage der Frauen.



Ein irritierendes Gedicht, entstanden September/Oktober 1913, das doch im Titel ganz deutlich scheint, ein Ort wird genannt, der konkret fasslich ist, der Mönchsberg bei Salzburg, wo Trakl sich offensichtlich öfters aufhielt. Später sollte hier Peter Handke einmal wohnen (1979-1988).

Doch gerade im Kontext dieser Konkretheit konfrontiert Trakl uns auf knappstem Raum mit einer Fülle von Enigmata, die schwerlich aufzulösen sind. Sprache wird auf das Äußerste angespannt, Bedeutungen beginnen zu schweben, wo wir differenzierender hinschauen. Nehmen wir etwa den dritten Vers der zweiten Strophe: "Sanfter ein Krankes nun die wilde Klage des Bruders". Haben wir hier eine Ellipse von "Sanfter ist ein Krankes nun ..." vor uns? Oder eine Ellipse von "Sanfter sagend ein Krankes nun ..." - mit Bezug auf das partizipische Verb der Zeile davor? Oder gar von "Sanfter folgt ein Krankes nun ..." - bezogen auf das Verb der dritten Zeile in der ersten Strophe?

Und wie weit ist es denn mit der Konkretheit im Bereich der Bilder her? Die "herbstlichen Ulmen" ebenso wie der "verfallene Pfad" könnten der Wirklichkeit am Salzburger Mönchsberg entsprechen. Aber was hat es mit den "Hütten von Laub" auf sich? Die erinnern an den Sukkot, das Laubhüttenfest als herbstliches Wallfahrtsfest im jüdischen Kultus. Oder ist doch eine konkrete Erfahrung mit Hirten angesprochen, die es im ausgehenden 19. Jahrhundert am Mönchsberg zweifelsfrei gab? Hilft uns der "knöcherne Steg" weiter? Am Mönchsberg gab es im 14. und 15. Jahrhundert einen jüdischen Friedhof. Wahrscheinlicher ist allerdings ein Bezug zum Petersfriedhof, dem in Trakls Werk eine besondere Bedeutung zukommt (etwa in "Kindheit").

Mit der "hyazinthenen Stimme des Knaben" kommen wir in einen ganz anderen Bildbereich, der etwa im Gedicht "An den Knaben Elis" angesprochen wird, Geschlechtertrennung und Androgynie. "Knabe" und "Bruder" verbinden sich mit dem Bild des mönchischen Lebens, das bei Trakl nicht nur hier mit dem Bereich "vergessener Legenden" assoziiert ist. Wie schon Elis wird auch der "Knabe" nun mit dem antiken Mythos von Hyakinthos näher bestimmt.

Endgültig verlässt das Gedicht den konkreten Raum der Salzburger Topographie, wenn in der dritten Strophe die Körperlichkeit des in der ersten Strophe genannten "Wanderers" in den Vordergrund tritt, sein "Knie" und das "versteinerte Haupt". Als "Fremdling" wird er nun bezeichnet - versuchsweise dürfen wir, mit Blick auf das Gedicht "An Novalis", hier "Dichter" mitdenken. Der "blaue Quell", den wir auch aus "An den Knaben Elis" und "Kindheit" kennen, bringt hier "die Klage der Frauen" ans Ohr des "Wanderers", des "Fremdlings". Ist es dies, was die Rätselproduktion bei Trakl antreibt, die "Klage der Frauen"? Ein alter Verdacht der biographisch orientierten Trakl-Deutung findet in diesem Text ein bemerkenswertes Zeugnis.

Trakls Biographie und seine Beziehung zu Salzburg finden Sie auf meiner Essay-Seite erörtert.





AM MOOR
(3. Fassung)

Wanderer im schwarzen Wind; leise flüstert das dürre Rohr
In der Stille des Moors. Am grauen Himmel
Ein Zug von wilden Vögeln folgt;
Quere über finsteren Wassern.

Aufruhr. In verfallener Hütte
Aufflattert mit schwarzen Flügeln die Fäulnis;
Verkrüppelte Birken seufzen im Wind.

Abend in verlassener Schenke. Den Heimweg umwittert
Die sanfte Schwermut grasender Herden,
Erscheinung der Nacht: Kröten tauchen aus silbernen Wassern.




Mit dem Gedicht "Am Moor" hat Trakl sich auffallend häufig auseinander gesetzt. Es existieren vier Fassung, die zwischen Juli 1913 und Mai 1914 entstanden sind.

Wieder begegnet der "Wanderer", ein wichtiges Motiv im Werk Georg Trakls. Er ist unterwegs "am Moor" - und dieser Bereich, das Moor, wird bildkräftig und wirklichkeitsgesättigt dargestellt mit "finsteren Wassern", "Fäulnis", "verkrüppelte(n) Birken" und "Kröten". Die "grasenden Herden" lassen vermuten, dass es sich um eines der einst zahlreichen Moore bei Salzburg handelt, die unmittelbar an landwirtschaftlich genutzte Flächen grenzten.

Dazu fügt sich, dass Trakl Mai/Juni 1913 - nach einem längeren Aufenthalt in Innsbruck und vor der zeitweisen Übersiedlung nach Wien - in Salzburg weilte und dabei intensiv an den Gedichten für seine erste Buchpublikation und an Gedichten für den "Brenner" arbeitet - unter anderem an "Im Dorf", das in der ersten Fassung von "Am Moor" anklingt. Dazu fügt sich nicht, dass die erste Fassung dieses Gedichtes wohl in Wien entstand und betitelt war mit "Dezember".

Am Ende der ersten Strophe begegnet eine seltsame Zeile, die unverändert durch alle vier Fassungen wandert: "Quere über finsteren Wassern". Die bisweilen magisch anmutende Sicherheit, mit der Georg Trakl sich real durch unbekanntes, auch gefährliches Gelände bewegte, ist überliefert (z.B. von Joseph Georg Oberkofler in "Erinnerung an Georg Trakl", 1966, S. 130ff, eine Schlittenfahrt). Diese "Quere" könnte andeuten, dass der "Wanderer" sich hier auf schwankenden Bohlen durch das Moor zu einer festen Stelle begibt, auf der eine Hütte steht.

Natürlich will uns Trakl hier in diesem Gedicht nicht von einem Abenteuer im Moor berichten. Das Gedicht thematisiert eine Grundverfassung, die wir aus anderen Werken Trakls kennen, bestimmt durch Wildnis, Verfall, Einsamkeit und eine "Erscheinung". Zugleich aber bezeugt es auch prägnanter als andere Trakl-Gedichte die unauflösliche Verbindung von realer Natur- und Welterfahrung und seelisch-mythischem Gehalt in der lyrischen Gestaltungsarbeit Georg Trakls.


 



AN DEN KNABEN ELIS

Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft,
Dieses ist dein Untergang.
Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells.

Laß, wenn deine Stirne leise blutet
Uralte Legenden
Und dunkle Deutung des Vogelflugs.

Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht,
Die voll purpurner Trauben hängt
Und du regst die Arme schöner im Blau.

Ein Dornenbusch tönt,
Wo deine mondenen Augen sind.
O, wie lange bist, Elis, du verstorben.

Dein Leib ist eine Hyazinthe,
In die ein Mönch die wächsernen Finger taucht.
Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen,

Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt
Und langsam die schweren Lider senkt.
Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau,

Das letzte Gold verfallener Sterne.




Dieser Text, zweifellos einer der schönsten Trakls, wurde vom Autor selbst für zwei Gedichtsammlungen ausgewählt, für "Gedichte" und "Sebastian im Traum" (dort folgt unmittelbar danach das Gedicht mit dem Titel "Elis"). Damit nimmt er bereits in der Selbsteinschätzung des Autors einen besonderen Platz ein. Rainer Maria Rilke bekannte 1915 in einem Brief an Ludwig von Ficker zu seiner Lektüre des Bandes "Sebastian im Traum": "man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiederbringlich einzige waren, wie die Umstände, aus denen eben ein Traum kommen mag". Dies gilt in besonderer Weise für diesen Text, der ganz einer klanglich versöhnten Traumwelt entstiegen scheint. Fast zu glatt gleiten die Worte, in sanftestem Melos werden Ungeheuerlichkeiten gesagt, der "Untergang" wird zum festlich-kultischen Akt. So schier unerbittlich dominiert Wohlklang, dass man die Frage stellen mag, ob hier nicht die Schwelle zum Kitsch überschritten sei.

Die Figur des Elis wird in der Trakl-Forschung bezogen auf die Person des Bergmanns Elis Fröbom, der im 17. Jahrhundert lebte, und dessen Geschichte von  E.T.A. Hoffmann ("Die Bergwerke zu Falun", 1818) und Hugo von Hofmannsthal ("Die Bergwerke zu Falun", 1906) literarisch verarbeitet wurde. Der junge Elis Fröbom verunglückte am Tag seiner Hochzeit tödlich, Jahrzehnte später wurde seine unversehrte Leiche gefunden. Bei Trakl verschmilzt dies mit der Figur des Hyakinthos aus der griechischen Mythologie. Auch die Figur des Endymion klingt an (vgl. auch "Abendmuse"), in den "mondenen Augen" des Elis ebenso wie im Motiv der "Höhle". Damit sind wir in einem thematischen Bereich, der in der Forschung als "Knabenmythos" bei Trakl bezeichnet wird, etwa bei Hans Esselborn, der eine erhellende Interpretation zu diesem Gedicht verfasste. Ursula Heckmann hat in einer Arbeit zu Motiven Otto Weiningers in Trakls Werk den als kosmisches Unheil verstandenen Geschlechterunterschied als wesentliche Problemstellung Trakls herausgestellt. 

Vor diesem Hintergrund wird der Text lesbar als Beschwörung einer Aufhebung dieses Unterschiedes, als ein Zurückkehren in eine mythische Welt vor dieser Unterscheidung. Dann wird auch unversehens deutlich, wie subtil die Differenz sich weiter artikuliert: in einer leise blutenden Stirn und in eintauchenden Fingern - in Wundmalen, die sich erst der genaueren Lektüre als Verweise auf ein unausgesprochenes entsetzliches Unheil zeigen. Darin verortet sind auch die homoerotischen Anklänge in diesem Gedicht und Trakls eigentümliches Verhältnis zu seiner Schwester Margarethe, die er einmal als "strahlender Jüngling" (in "Ruh und Schweigen") charakterisiert, die aber auch als "Mönchin" (in "Die Schwermut") erscheint.

Lektüreempfehlung: Ursula Heckmann, Das verfluchte Geschlecht. Motive der Philosophie Otto Weiningers im Werk Georg Trakls. Frankfurt (Main) 1992






AN DIE VERSTUMMTEN


O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.
 
Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,
Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
O, das gräßliche Lachen des Golds.
 
Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.


Großstadtlyrik gilt als eine der charakteristischen Domänen des Expressionismus. Allerdings ist das Phänomen älter, der Naturalismus hatte sich der Großstadt auch in seiner Lyrik bereits angenommen, besonders zu nennen ist der wenig bekannte Julius Hart mit seinem Text "Berlin" von 1889. Aber auch in den Gegenströmungen zum Naturalismus findet sich das Thema, so bei Hugo von Hofmannsthal in "Siehst du die Stadt?" von 1890.

Großstadtmotive im Expressionismus sind Fabriken, Lärm, elektisches Licht, Prostitution, Armut, Krankheit. Sie können wir in Trakls Text ohne Schwierigkeiten wiederfinden. Auf den ersten Blick irritiert allerdings das Bild "Läuten der Abendglocken". Ein Bild, das einem anderen Bereich anzugehören scheint. Doch es findet sich auch in Georg Heyms "Der Gott der Stadt" (1910), in der Zeile "Der Kirchenglocken ungeheure Zahl/Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer".

Bei Trakl ist das Glockenläuten "versunken" - als gehöre es einem anderen Raum, einer anderen Zeit an, zu der es noch die Nacht gab und damit auch Übergangszeiten wie den Abend mit seinen "Abendglocken". Denn die Nacht ist in Trakls Gedicht "verdrängt", von "Licht mit magnetischer Geißel". Wir dürfen hier konkret an elektrisches Licht denken. 1902 wurden in Wien die ersten sechs elektrischen Bogenlampen installiert. Entstanden ist der Text vermutlich im November 1913 in Wien, eventuell auch erst direkt anschließend in Innsbruck.

Die erste Strophe bleibt nahe an konkreten zeitgenössischen Erfahrungen des Großstadtlebens, mit aufkommender elektrischer Beleuchtung, mit dunklen Mauern und einer geschädigten Vegetation ("verkrüppelte Bäume"). Allerdings ist damit nur wenig am Gedicht erfasst. Was sollen wir anfangen mit dem zentralen Bild "Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut"? Bei Georg Heym, in "Die Dämonen der Städte", gibt es die Sentenz "Dem weißen Monde hängt/Er eine schwarze Larve vor". Aber nirgendwo bei Trakl finden wir sonst den Mond als Bild des Bösen. Auffallend ist die Assonanz von "schwarzer Mauer" und "silberner Maske" - der Geist des Bösen scheint eher verbunden mit der Mauer und den verkrüppelten Bäumen, ein verzerrtes Bild des Paradiesgartens könnte hier gemeint sein, die Stadt mit ihren Verheißungen als Betrug.

In der zweiten Strophe wird der Betrug konkret: Geburt, die Verheißung eines Neubeginns, Unschuld und Anfang sind in düstersten Farben gemalt. Die Mutter ist "Hure", das Kind ein "totes". "Gott" erscheint als "rasend", sein Gegenüber ist ein "Besessener", kein neuer heilsamer Bund nach der Vertreibung aus dem Paradiesgarten wird hier beschworen, sondern die Fortdauer von Schuld und Strafe, ein Bund der Raserei. "Seuchen" und "Hunger" werden dem "gräßlichen Lachen des Golds" konfrontiert, zerstörende Armut dem Reichtum - der auch niemanden froh macht.

"Aber" hebt die dritte Strophe an. Und ihre Gegenrede gewinnt Gewicht durch die Konzentration auf zwei knappe Zeilen mit einem unvermittelt aufgestellten Gegenbild. Hoffnung gibt eine "stummere Menschheit", die dem Lärmen der "großen Stadt" und ihrer Gesellschaft archaisierend eine "dunkle Höhle" entgegenhält. Hier wird Erlösung möglich durch ein "Haupt", das aus harten Metallen gefügt sei. Was damit gemeint sein könnte, bleibt jedoch verborgen. Die letzte Zeile hinterlässt Unbehagen. Ist mit dem "erlösenden Haupt" ein brachialer, 'metallgleicher' Menschheitsführer gemeint? Ist ein Rückzug in unaffizierbare kalte Sachlichkeit angesprochen?

Dagegen spricht die erste Zeile, die semantisch eher ein Komplement zur zweiten Zeile dieser Strophe ist, mit 'Blut' zu 'Metall', 'still/stumm' (passiv) zu 'fügt' (aktiv), 'Höhle' zu 'Haupt', 'dunkel' zu 'erlöst'. "An die Verstummten" wendet sich, so scheint es, an die "stummere Menschheit" als - wenn auch dürftiger - Hoffnungsträger gegenüber einer lärmend um das goldene Kalb (Georg Heym spricht in "Der Gott der Stadt" vom "roten Bauch" des Baal) tanzenden Menschheit eines 'Großstadt-Wahnsinns'. Denkbar ist auch ein Bezug zu Goethes Torquato Tasso, der einmal erklärte "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide".

Genauere Ausführungen zu Trakls Stellung im Expressionismus bietet meine Essay-Seite.






AN LUZIFER
(3. Fassung)


Dem Geist leih deine Flamme, glühende Schwermut;
Seufzend ragt das Haupt in die Mitternacht,
Am grünenden Frühlingshügel; wo vor Zeiten
Verblutet ein sanftes Lamm, der Schmerzen tiefsten
Erduldet; aber es folgt der Dunkle dem Schatten
Des Bösen, oder er hebt die feuchten Schwingen
Zur goldenen Scheibe der Sonne und es erschüttert
Ein Glockenton die schmerzzerrissene Brust ihm,
Wilde Hoffnung; die Finsternis flammenden Sturzes.





Der Text stammt aus dem Nachlass und hat zwei Vorstufen mit dem Titel "Bitte". Entstanden sind die drei in Umfang sowie Wort- und Bildbereich nicht wesentlich differierenden Texte Anfang 1914. Ein Vergleich der drei Fassungen kann allerdings deutlich machen, wie die Texte Trakls in der Überarbeitung an Substanz gewinnen.

Luzifer, der "Lichtbringer", ist eine Figur von besonderer Bedeutung im Werk Trakls. Teilweise auf der Ebene persönlicher Identifikation, für den literaturhistorischen Kontext relevanter auf der Ebene einer Traditionslinie, die von der Romantik kommend über den französischen Symbolismus vermittelt wurde. Referenztext hierzu ist das "Abendländische Lied". Im Vergleich damit wirkt "An Luzifer" wie Randnotizen, verworfenes Material oder Paraphrasierungen. Mit Blick auf das Entstehungsverhältnis ("An Luzifer" wurde wohl bald nach dem "Abendländischen Lied" geschrieben) auch deutbar als Versuch, das "Abendländische Lied" zu radikalisieren, verknappend fortzuschreiben. Ein Vergleich der beiden Texte unterstützt auch die Werkeinteilung, wonach Anfang 1914 Trakl zu einer neuen werklichen Entwicklungsstufe finde.

Zweimal, zu Beginn und zum Ende des Gedichtes, wird Feuer angesprochen, im Bild von "Flamme" und "flammender Sturz", beziehbar auf den Engelssturz und das Höllenfeuer. Mit "verblutete ein sanftes Lamm" wird zugleich die Christusikonographie angesprochen. Genährt werden soll durch die Flamme der "Geist" - ein Motiv, das wir Ende 1914 in "Grodek" wieder finden. Weshalb ich "An Luzifer" gleichsam als Scharnier begreife zwischen den beiden herausragenden Texten "Abendländisches Lied" und "Grodek". Ein Text, der für die innere Dynamik und Folgerichtigkeit des Traklschen Werkes einzustehen vermag.

Für Trakl selbst war der - unfertig wirkende - Text offensichtlich nicht bedeutend genug, ihn zur Veröffentlichung anzubieten. "Bitte" erschien 1939, in einer wohl von Erhard Buschbeck aus den beiden Vorlagen gefügten Kontamination, "An Luzifer" erst 1949.






AN NOVALIS


Ruhend in kristallner Erde, heiliger Fremdling
Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage,
Da er in seiner Blüte hinsank
Friedlich erstarb ihm das Saitenspiel
In der Brust,
Und es streute der Frühling seine Palmen vor ihn,
Da er mit zögernden Schritten
Schweigend das nächtige Haus verließ.





Die im Titel schon als Widmungsgedichte erscheinenden Texte Trakls sind bemerkenswert als Gruppe für sich, "An Angela", "An Johanna", "An Luzifer", "An Novalis". Dazu gesellen sich aus den "Rosenkranzliedern" das Gedicht "An die Schwester" und das selbständige Gedicht "An den Knaben Elis" sowie anonyme Anreden wie "An die Verstummten". Nehmen wir nur die aus Präposition und Eigennamen bestehenden Titel, wird deutlich, dass dieser Gedichtgruppe ein besonderer Charakter zukommt. Keiner dieser Texte (teilweise offenkundig unvollendet) war von Trakl zur Veröffentlichung vorgesehen. Keiner bezieht sich explizit auf eine existierende, lebende Person. "Angela" und "Johanna" sind Frauennamen, die bei Trakl gelegentlich auftauchen, aber nicht klar zuzuordnen sind. "Luzifer" ist eine Figur der germanischen und der christlichen Mythologie. Nur "Novalis" ist auf eine Person zu beziehen, allerdings auf eine verstorbene, den romantischen Dichter, Jurist und Bergwerksassessor Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, der 1801 im Alter von 28 Jahren starb.

Trakl schreibt diesen Text Ende 1913 oder 1914, also mit 26 oder 27 Jahren. Laut Handschrift hat Takl den Text als "Grabsteinschrift" charakterisiert. Dazu fügt sich die erste Zeile mit "Ruhend in kristallner Erde". Der da ruht, wird als "heiliger Fremdling" bezeichnet, wobei "Fremdling" oder "Fremdlingin" bei Trakl Figuren nennt, die lyrisch analog zur christlichen Erlöserfigur oder zu Engeln ausgestaltet sind. Dass dieser "heilige Fremdling" ein Dichter sei, legt die Fügung "Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage" nahe. Erinnert sei an Goethes Torquato Tasso, der bekennt "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide". Auch das "Saitenspiel" evoziert das Bild des Lyrikers in einem historisch überkommenen Sinn, als Sänger und Lyraspieler.

"Palmen" könnte sich auf den Palmsonntag beziehen, damit also erneut die Christusfigur ansprechen, die schon in "heiliger Fremdling" anklingt.

Bemerkenswert ist der Bezug zu einem Gedicht von Novalis, das "An Tieck" (den gleichfalls der Romantik zugehörenden Dichterfreund Ludwig Tieck) überschrieben ist. Dieses Gedicht beginnt mit "Ein Kind voll Wehmut und voll Treue,/Verstoßen in ein fremdes Land" - da finden wir den "Fremdling" vorgeprägt. Auch das Bild von der "kristallnen Erde" hat im Novalis-Text eine Entsprechung: "Und wie es sitzt, und liest, und schauet/In den Kristall der neuen Welt". Und bei Novalis ist die Jahreszeit, wie bei Trakl, Frühling. Doch weiter gehen die äußeren Bezüge nicht. Das "Kind" bei Novalis kehrt zurück in "seines Vaters Wohnung", während der "Fremdling" bei Trakl "Schweigend das nächtige Haus verließ".

 




BLUTSCHULD


Es dräut die Nacht am Lager unsrer Küsse.
Es flüstert wo: Wer nimmt von euch die Schuld?
Noch bebend von verruchter Wollust Süße
Wir beten: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!
 
Aus Blumenschalen steigen gierige Düfte,
Umschmeicheln unsere Stirnen bleich von Schuld.
Ermattend unterm Hauch der schwülen Lüfte
Wir träumen: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!
 
Doch lauter rauscht der Brunnen der Sirenen
Und dunkler ragt die Sphinx vor unsrer Schuld,
Daß unsre Herzen sündiger wieder tönen,
Wir schluchzen: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!



Das Gedicht "Blutschuld" schrieb Georg Trakl 1909. Trakl selbst hatte das Gedicht nicht für die Veröffentlichung in den beiden von ihm betreuten Gedichtbänden vorgesehen, es befand sich in seinem Nachlass. In seiner Gestaltung ist der Text nicht von besonderer Bedeutung, doch sein Inhalt hat das Gedicht in den Korpus der häufig besprochenen Gedichte Trakls gehoben. Schon früh wurde ja über eine inzestuöse Beziehung zwischen Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe spekuliert.

Neue Aktualität bekam das Gedicht durch den Film "Tabu" (2011) von Christoph Stark, in welchem unverblümt eine sexuelle Beziehung zwischen Georg Trakl und seiner viereinhalb Jahre jüngeren Schwester Margarethe dargestellt wird. "Die Welt" titelte zum Film gar "Die Geschwisterliebe des dichtenden Kokainisten". Die Beziehung ist allerdings nicht eindeutig belegt und verschiedene Trakl-Forscher, etwa der Leiter der "Georg Trakl Forschungs- und Gedenkstätte" in Salzburg, Hans Weichselbaum, sehen in der literarischen Darstellung des Themas durch Trakl lediglich symbolische Wunscherfüllung, eine "ins Kunstwerk transformierte Obsession" (Weichselbaum, S. 56).

Hans Weichselbaum und andere verweisen darauf, dass das Inzestthema zu einem der zentralen Themen in der Literatur um 1900 gehörte. Noch Robert Musil, der als Einzelkind ganz unverdächtig ist sich auf ein reales Ereignis zu beziehen, hat in seinem stark autobiografisch geprägten Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" das Motiv der erotischen Geschwisterliebe an seinen Protagonisten Ulrich und Agathe entfaltet.

Und Trakl? Der lässt die Schwester etwa 60 mal als "Schwester", "Jünglingin", "Fremdlingin" und "Mönchin" in seinen Texten erscheinen. Im Gedicht "Blutschuld" wird sie, sofern wir der gängigen These vom autobiografischen Bezug vertrauen, allerdings nur über die Pronomina der 1. und 2. Person Plural mitgenannt. Ob es sich um Geschwisterinzest bei dieser "Blutschuld" handelt, wird im Text selbst nicht deutlich.

Von "Schuld" wird im Text in jeder der drei Strophen ausdrücklich gesprochen. Genauer ausgeführt wird diese Schuld nur indirekt über "Lager unsrer Küsse", "verruchter Wollust Süße", "steigen gierig Düfte", "Hauch der schwülen Lüfte" und in der Formulierung "Herzen sündiger wieder tönen". Auf "Schuld" reimt Trakl dreimal "Huld", und zwar in der Formel "Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!" Bei "Maria" dürfte es sich um die religiöse Figur der Mutter Christi handeln, die im christlichen Ritus mit dieser Formel angerufen wird.

Lektüreempfehlung: Hans Weichselbaum (Hrsg.), Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900, Otto Müller Verlag Salzburg, 2005


   



CRUCIFIXUS

Er ist der Gott, vor dem die Armen knien,
Er ihrer Erdenqualen Schicksalsspiegel,
Ein bleicher Gott, geschändet, angespien,
Verendet auf der Mörderschande Hügel.

Sie knien vor seines Fleisches Folternot,
Daß ihre Demut sich mit ihm vermähle,
Und seines letzten Blickes Nacht und Tod
Ihr Herz im Eis der Todessehnsucht stähle -

Daß öffne - irdenen Gebrests Symbol -
Die Pforte zu der Armut Paradiesen
Sein todesnächtiges Dornenkapitol,
Das bleiche Engel und Verlorene grüßen.







Das Gedicht entstammt der "Sammlung 1909", von Trakl selbst zusammengestellt nach dem 2. August 1909 aus seinen frühen Texten, jedoch danach von ihm nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Trakl selbst hat diesen Text also nicht als Teil seines Werkes akzeptiert.

Wenn ich ihn dennoch hier vorstelle, so weil der Text in besonderer Weise die Genese der späteren Texte und Bilder Trakls deutlicher machen kann und er zudem eine hilfreiche Kontrastfolie abgibt für das, was an den reifen Texten Trakls zu schätzen ist.

Der Titel macht schon den Bildbereich deutlich, dem das Gedicht zugehört und der auch nachfolgend in den drei vierzeiligen Strophen wirksam ist, der leidende Christus. Die Leidensfigur wird in "Crucifixus" charakterisiert als ein Angebot an die sozial Benachteiligten zur Identifikation, zur Stärkung und als Hoffnung. Dies entspricht einer christlichen Tradition. Nicht klar wird allerdings, ob Trakl diese Tradition bejaht, oder ob er dazu in einer kritischen Distanz steht. Das "Eis der Todessehnsucht" kann als pathetische Affirmation (mit einer einseitigen Deutung der christlichen Botschaft), aber auch als Kritik an solchem Pathos gelesen werden. Bei Trakl ist die Hoffnung explizit nicht auf eine Überwindung der Armut, sondern auf "der Armut Paradiese" gerichtet - was gleichfalls zweifach gedeutet werden kann.

"O, daß frömmer die Nacht käme,/Kristus" heißt es in der ersten Fassung von "Passion", Anfang 1914. Dies lässt vermuten, dass Trakl hier in "Crucifixus" die "Todessehnsucht" keineswegs in kritischer Absicht anführt. Und dass es vor allem die Direktheit, die Neigung zum Bombast sind, mit Ausdrücken wie "Mörderschande", "seines Fleisches Folternot", "Eis der Todessehnsucht" oder "todesnächtiges Dornenkapitol", was Trakl von Gedichten wie diesem sich später distanzieren ließ.

Die Bilder dieses Gedichtes kehren bei Trakl auch später wieder. Jedoch ohne den pathetischen Überschwang, wie wir ihn hier und bei vergleichbaren Texten des Expressionismus finden, etwa in Paul Zechs "Ballade von den Vogelfreien", einer Nachdichtung zu François Villon, in welcher der Dichter erscheint als "verehrt und angespien".






DÄMMERUNG
II

Im Hof, verhext von milchigem Dämmerschein,
Durch Herbstgebräuntes weiche Kranke gleiten.
Ihr wächsern-runder Blick sinnt goldner Zeiten,
Erfüllt von Träumerei und Ruh und Wein.

Ihr Siechentum schließt geisterhaft sich ein.
Die Sterne weiße Traurigkeit verbreiten.
Im Grau, erfüllt von Täuschung und Geläuten,
Sieh, wie die Schrecklichen sich wirr zerstreun.

Formlose Spottgestalten huschen, kauern
Und flattern sie auf schwarz-gekreuzten Pfaden.
O! trauervolle Schatten an den Mauern.

Die andern fliehn durch dunkelnde Arkaden;
Und nächtens stürzen sie aus roten Schauern
Des Sternenwinds, gleich rasenden Mänaden.





Geschrieben Ende September, Anfang Oktober 1912 vermutlich in Innsbruck. Trakls Erfahrungen im Garnisonsspital Innsbruck, wo er bis 30. September einen Probedienst in der Apotheke leistete, könnten hinter dem leitenden Bild der "weichen Kranken" stehen.

Dieses Bild wird weiter entfaltet in "Siechentum", "die Schrecklichen", "Formlose Spottgestalten", "trauervolle Schatten" und "gleich rasenden Mänaden". Als "Spottgestalten" huschen, kauern und flattern die Kranken (sofern die Gleichsetzung mit den Spottgestalten gültig ist) auf "Pfaden", die eine Kreuzesform nachzeichnen und deutlich das christliche Leidensbild evozieren.

Innsbruck
              Stadtturm ApothekeIn der ersten Strophe sind die Kranken gleichsam "weichgezeichnet", sie träumen von goldenen Zeiten, einer bei Trakl häufig beschworenen harmonischen Urzeit, einer als paradiesähnlich zu verstehenden glücklichen Harmonie in "Ruh und Wein". In der zweiten Strophe die Wende, der jetzige Zustand erscheint als "Siechentum" und die Betroffenen als "Schreckliche" - was hier wohl eher auf sie selbst als auf einen möglichen Effekt des Erschreckens von anderen verweist. Dies wird bestätigt dadurch, dass sie sich "wirr zerstreun" - also eher selbst Erschrockene sind.

Diese - tendenziell duale - Zerstreuung wird entfaltet in den beiden folgenden Terzetten. Im ersten huschen die "Schrecklichen" als "Spottgestalten" zwischen Mauern und durch - im Bild Trakls formuliert - Kreuzgänge. "Die andern" aber fliehen durch Arkadengänge, für die nebenbei erwähnt Innsbruck berühmt ist (die historische Ansichtskarte zeigt den Stadtturm mit Arkaden und Apotheke zu Trakls Zeiten), und werden in einer extremen Wendung gleichsam zu fallenden Engeln, die "aus roten Schauern/Des Sternenwinds" stürzen, "gleich rasenden Mänaden". Damit, aber auch erst hier, verlässt das Gedicht entschieden den Bildbereich eines Spitals.

Und erst damit gewinnt der Text seine Sprengkraft, die unsere modernen Vorstellungen von Krankheit aufs heftigste konfrontiert mit religiösen bis abergläubischen Vorstellungen von Sündenfall, Fluch und Strafe. Und darüber hinaus mit den antiken Mythen um die Doppelgesichtigkeit des Weingottes Dionysos, die von Trakl präzise gezeichnet wird in der Spannung zwischen "Träumerei und Ruh und Wein" zu Beginn und "rasenden Mänaden" am Ende des Gedichtes.





DAS DUNKLE TAL


In Föhren zerflattert ein Krähenzug
Und grüne Abendnebel steigen
Und wie im Traum ein Klang von Geigen
Und Mägde laufen zum Tanz in Krug.

Man hört Betrunkener Lachen und Schrei,
Ein Schauer geht durch alte Eiben.
An leichenfahlen Fensterscheiben
Huschen die Schatten der Tänzer vorbei.

Es riecht nach Wein und Thymian
Und durch den Wald hallt einsam Rufen.
Das Bettelvolk lauscht auf den Stufen
Und hebt sinnlos zu beten an.

Ein Wild verblutet im Haselgesträuch.
Dumpf schwanken riesige Baumarkaden,
Von eisigen Wolken überladen.
Liebende ruhn umschlungen am Teich.



Ein Gedicht aus dem Nachlass, von Trakl nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, möglicherweise bereits 1910 entstanden. Einige der Bilder finden sich in Gedichten wieder, die Trakl autorisierte. So haben wir "ein Klang von Tanz und Geigen" in "Die junge Magd"; "Schatten tanzen an Tapeten" kennen wir aus "In einem verlassenen Zimmer"; "Fremde lauschen auf den Stufen" heißt es in "Die schöne Stadt"; mit "Ein Wild verblutet sanft am Rain" beginnt die letzte Strophe von "Im Winter".

In der Form gehört der Text dem Frühwerk Trakls an, vier Vierzeiler in liedhaftem Ton, der noch unterstrichen wird durch entsprechende Bilder, den "Klang von Geigen", "Tanz", "Wein" und "Liebende" mit deren Umarmung das Gedicht endet.

Verflochten mit diesen liedhaft-freundlichen Bildern ist ein zweiter Strang, bestimmt durch einen "Krähenzug", der "zerflattert", "grüne Abendnebel", die eher gruselig anmuten, "Betrunkene", "leichenfahle Fensterscheiben", ein "Bettelvolk", das "sinnlos zu beten" anhebt, ein Wild, das "verblutet", "eisige Wolken" in unmittelbarer Nachbarschaft der "Liebenden".

Was sollen wir davon halten? Sollen wir den Text, Trakl folgend, ad acta legen? Für die Tübinger Germanistin Christine Renz "kann dieses frühe Gedicht gelesen werden als Eingang zum Gesamtwerk". Sie begründet dies mit dem Verweis darauf, dass das "Zentrum seines Dichtens" bereits in diesem Text anklinge, die Doppelheit des Todes als "bergende und ent-bergende Heimat". Wobei Renz allerdings darauf abhebt, dass es letztlich auf die Verwandlung des Genannten in Zeichen ankomme - die Welt selbst werde als sinnlos gezeigt.

Wir können dies auch lesen in der letzten Strophe, die im dreifachen Verweis auf den Tod zugleich einen Ort für die Liebenden öffnet - doch nur im Gedicht selbst, denn als realer Ort ist dieser Teich von Frost und Blut gezeichnet.

Lektürehinweis: Christine Renz, Tod als bergende und ent-bergende Heimat, in: Hans-Georg Kemper, Gedichte von Georg Trakl, Stuttgart 1999





DAS GEWITTER

Ihr wilden Gebirge, der Adler
Erhabene Trauer.
Goldnes Gewölk
Raucht über steinerner Öde.
Geduldige Stille odmen die Föhren,
Die schwarzen Lämmer am Abgrund,
Wo plötzlich die Bläue
Seltsam verstummt,
Das sanfte Summen der Hummeln.
O grüne Blume -
O Schweigen.

Traumhaft erschüttern des Wildbachs
Dunkle Geister das Herz,
Finsternis,
Die über die Schluchten hereinbricht!
Weiße Stimmen
Irrend durch schaurige Vorhöfe,
Zerrißne Terrassen,
Der Väter gewaltiger Groll, die Klage
Der Mütter,
Des Knaben goldener Kriegsschrei
Und Ungebornes
Seufzend aus blinden Augen.

O Schmerz, du flammendes Anschaun
Der großen Seele!
Schon zuckt im schwarzen Gewühl
Der Rosse und Wagen
Ein rosenschauriger Blitz
In die tönende Fichte.
Magnetische Kühle
Umschwebt dies stolze Haupt,
Glühende Schwermut
Eines zürnenden Gottes.

Angst, du giftige Schlange,
Schwarze, stirb im Gestein!
Da stürzen der Tränen
Wilde Ströme herab,
Sturm-Erbarmen,
Hallen in drohenden Donnern
Die schneeigen Gipfel rings.
Feuer
Läutert zerrissene Nacht.







Dieses Gedicht, veröffentlicht im "Brenner", Heft 20 vom 15. Juli 1914, wird von Eberhard Sauermann als Beispiel dafür genommen, wie Trakls Texte als Zeugnisse eines Prozesses gelesen werden müssen, seine "Poesie" als eine der Verwandlung und der Genese begriffen.

Der Auftakt erinnert an die Bildwelt in Nietzsches Werk "Also sprach Zarathustra", das sich auch in Trakls Bibliothek befand, insbesondere an das Lied "Nur Narr! Nur Dichter!" aus dem vierten Teil. Auch die Form findet sich in Nietzsches Lied, mit freien, überwiegend sehr kurzen Versen. Noch mehr als Nietzsches Text kann der Traklsche auch als Naturschilderung Gültigkeit beanspruchen, nicht nur als Projektion einer Innenwelt in äußere Bilder. Ein Föhngewitter im Gebirge wird hier - auch - in prägnanden Formulierungen skizziert, mit harten Umschlägen von Blau in Schwärze und von Stille in Sturm, mit unwirklich scheinenden Rottönen, die in "rosenschaurig" eine kühne Beschreibung finden.

Es ist der Trakl-Forschung bislang noch wenig wichtig gewesen, auf die außerordentliche Präzision der Naturbilder und Naturschilderungen Trakls hinzuweisen. Gerade "Das Gewitter" bietet sich für eine solche Akzentsetzung an - was zunächst einmal schon der Titel nahelegt. Während "Gebirge" und "Adler" noch dem Nietzscheschen Text geschuldet sein könnten - innerliterarisch also zu verstehen wären -, lassen spätestens "die Föhren" aufhorchen. Nietzsche nennt an vergleichbarer Stelle "schwarze Bäume". Trakl dagegen bezeichnet exakt die Baumart und markiert damit - unabhängig von der Art seines Bezuges zum Nietzscheschen Text - eine wesentliche Differenz. Dies lässt uns auch aufmerksamer sein für das verbundene Bild "Goldnes Gewölk/Raucht über steinerner Öde". Der Ausdeutungen zum Farbwort "Golden" bei Trakl finden sich viele. Doch einmal nur wörtlich und wirklich genommen können wir hier auch die prägnante Formulierung einer realen Naturerfahrung im Gebirge vor einem drohenden Gewitter erkennen.

Die zweite Hälfte des Gedichtes zeigt deutliche Anklänge an die weltanschaulichen Kapriolen der Zeit, deren Künstler und Intellektuelle gerne dem Magnetismus huldigten, sich mit theosophischen Theoriebildungen beschäftigten und spiritistische Seancen veranstalteten. Die "magnetische Kühle", die ein "stolzes Haupt" umschwebt kann ebenso diesem Kontext zugeordnet werden wie das als läuternd genannte Feuer. Wobei letzteres auch der allgemeinen Bildsprache der Zeit zugehörte, die Kriege häufig emphatisch verklärte als "läuternd" und "klärend", dabei auf die Naturbilder "Feuer" und "Gewitter" zurückgreifend, die beide in der dritten und vierten Strophe eine bestimmende Rolle spielen.

Lektüreempfehlung: Eberhard Sauermann, Verfremdung eines Naturereignisses. In: Hans-Georg Kemper (Hrsg.), Gedichte von Georg Trakl, Reclam 1999





DAS TIEFE LIED


Aus tiefer Nacht ward ich befreit.
Meine Seele staunt in Unsterblichkeit,
Meine Seele lauscht über Raum und Zeit
Der Melodie der Ewigkeit!
Nicht Tag und Lust, nicht Nacht und Leid
Ist Melodie der Ewigkeit,
Und seit ich erlauscht die Ewigkeit,
Fühl nimmermehr ich Lust und Leid!



Dieser frühe Text aus der "Sammlung 1909" ist literarisch wenig bedeutsam, doch biographisch und kulturgeschichtlich relevant, insofern er zum einen Trakls Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche, zum anderen die Bedeutung mystisch-religiöser Bekenntnisse um die Jahrtausendwende bezeugt.

Nietzsches Zarathustra kennt "Das trunkene Lied", und sowohl die Bilder als auch der sprachliche Duktus des Traklschen Textes erinnern deutlich an Nietzsches Werk über die "ewige Wiederkehr". Nicht nur der Titel, sondern gleich auch die erste Zeile von Trakls kurzem Text zitieren fast wörtlich den "Rundgesang" aus "Das trunkene Lied" im Zarathustra. Dort heißt es "Aus tiefem Traum bin ich erwacht".

Bei Nietzsche werden "Lust" und "Weh" einander gegenübergestellt, bei Trakl sind es "Lust und Leid". Doch bei Nietzsche will die Lust "Ewigkeit", während Trakl die Erfahrung der Ewigkeit - durchaus im Sinne Nietzsches weiterschreibend - jenseits von Lust und Leid ansetzt.

Dass sich die künstlerische Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv mit parapsychologischen, mystischen, theosophischen und alchimistischen Theorien und Praktiken beschäftigte, ist inzwischen hinreichend bekannt. Zu Trakl gibt es die beispielhafte Arbeit von Gunther Kleefeld 2009, "Mysterien der Verwandlung", über "Das okkulte Erbe in Georg Trakls Dichtung".

In einem Aphorismus von 1914 spricht Trakl von einem "Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Sein". Und er führt dies aus wie folgt: "Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne." Darin findet er eine reife Formulierung dessen, was in "Das tiefe Lied" bereits angesprochen ist, der Erfahrung einer "unio mystica" in einem als rein seelisch begriffenen Zustand.

Im Aphorismus von 1914 wird mit "Erwachen" die Rückkehr in die praktische Welt des Leidens benannt, im Gedicht aus der Jugendzeit erscheint das Erwachen, wenn wir die Befreiung "aus tiefer Nacht" so verstehen, gerade als Übertritt in einen entstofflichten, leidfreien Zustand.





DE PROFUNDIS


Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt.
Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht.
Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist.
Wie traurig dieser Abend.

Am Weiler vorbei
Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein.
Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung
Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.

Bei der Heimkehr
Fanden die Hirten den süßen Leib
Verwest im Dornenbusch.

Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern.
Gottes Schweigen
Trank ich aus dem Brunnen des Hains.

Auf meine Stirne tritt kaltes Metall
Spinnen suchen mein Herz.
Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.

Nachts fand ich mich auf einer Heide,
Starrend von Unrat und Staub der Sterne.
Im Haselgebüsch
Klangen wieder kristallne Engel.




Die erste Strophe mit ihrem repetitiven "Es ist" erinnert an den dritten Teil von Rimbauds Text "Enfance" aus "Les Illuminations" (1873-1875). Die ersten drei Zeilen dort lauten: 

Au bois il y a un oiseau, son chant vous arrête et vous fait rougir.
Il y a une horloge qui ne sonne pas.
Il y a une fondrière avec un nid de bêtes blanches.

Arthur Rimbaud (1854-1891) war Trakl früh vertraut und zweifellos verdankte er ihm wesentliche Einflüsse. Allerdings gibt es nur wenige direkte Übernahmen - und auch bei "De Profundis" besteht der Bezug zu "Enfance" primär in Anklängen und eher unterschwelligen Korrespondenzen. Neben der Repetition von "Es ist" können wir noch eine Entsprechung im Bild der "Waise" feststellen, die bei Rimbaud wie folgt eingeführt wird: "Cette idole, yeux noirs et crin jaune, sans parents ni cour, plus noble que la fable, mexicaine et flamande". Also "schwarze Augen" und "gelbe Haare" bei Rimbaud, bei Trakl "Ihre Augen weiden rund und goldig". Bei Rimbaud heißt es dann "C'est elle, la petite morte, derrière les rosiers" - dem korrespondiert bei Trakl "Fanden die Hirten den süßen Leib/Verwest im Dornenbusch". Wobei Trakl vermutlich nicht den Originaltext Rimbauds vorliegen hatte, sondern lediglich die Übersetzung von Karl Anton Klammer.

Mit etwas Mühe ließen sich noch weitere Vernetzungen zwischen den beiden Texten feststellen, doch helfen diese beim Verständnis des Textes nicht wesentlich weiter. Denn zweifellos ist der Text Trakls vollkommen eigenständig. Der Titel zitiert einen christlichen Kontext, den Psalm 130, der beginnt: "de profundis clamavi ad te Domine". Und das anhebende "Es ist" schafft ein bestürzendes Bild dieser "Tiefe", aus der die Klage kommt, eine Unaufhebbarkeit, Unentrinnbarkeit von abgeerntetem Feld, schwarzem Regen, einem einsamen Baum und Zischelwind. Zischeln ist das Geräusch, das Schlangenzungen zugesprochen wird. Sind wir hier im leeren Paradies, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden ("leere Hütten")?

In der zweiten Strophe erscheint ein Mensch, eine "sanfte Waise", die als Nonne charakterisiert wird: "ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams". Doch in der nächsten Strophe schon ist diese Waise tot, "verwest im Dornenbusch". Der Dornenbusch könnte, mit Blick auf Rimbaud, als Rosenstrauch verstanden werden. Doch "Dornbusch" ist auch ein Ort, an dem im Alten Testament häufig Gott sich zeigt - der in der nächsten Strophe auch genannt wird. Ist hier Gott selbst als tot angesprochen? Denn er erscheint nur indirekt, in "Gottes Schweigen", das der Klagende, der in Psalm 130 auf Gottes Wort vertrauend hofft, bei Trakl "aus dem Brunnen des Hains" trank.

Weitere Angaben zur Beziehung Trakl-Rimbaud und allgemein zu Trakls Verhältnis zum französischen Symbolismus finden Sie auf meiner Seite mit Essays zu Trakls Werk und Leben.

Lektüreempfehlung: Reinhold Grimm, Georg Trakls Verhältnis zu Rimbaud, 1959





DER HERBST DES EINSAMEN

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Geberde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.




Es wäre etwas schlicht gedacht zu vermuten, Trakl habe in diesem Gedicht eine Selbstaussage beabsichtigt. Einsamkeit war sicherlich ein Merkmal seines Weltbezuges, aber wohl kaum das bestimmende, davon zeugen seine Briefe und die Mitteilungen seines Umfeldes zur Genüge. Ein Übermaß an Empfindungen, unbestimmte und umfassende Verzweiflung, Lebensnot, Hilflosigkeit begegnen dort. Darüber hinaus gibt es keine überzeugenden Hinweise darauf, dass Trakl im Schreiben "sich" habe mitteilen wollen. Er bezeichnete sein Schreiben als harte Arbeit an Ausdruck und Bildern, in einem Aphorismus auch als "Sühne". Aber nie als Mittel zur Selbsterkenntnis oder Selbstdarstellung. "Der eigenen Stille nun ungestört nachgehen können", so benannte Trakl gegenüber Wittgenstein, seinem unbekannten Gönner (einer Spende von 20.000 Kronen, etwa 60.000 Euro), in einem Brief sein künstlerisches Anliegen.

"Herbst" und "Einsamkeit" sind Motive, die in der Literatur gehäuft gemeinsam auftreten und dabei eine conditio humana gestalten, die um das Spannungsverhältnis von Fülle und Abschluss, Todesnähe und Erfüllung unter den Bedingungen der Individualisierung weiß. In "Herbsttag" von Rainer Maria Rilke (1902 in Paris geschrieben) wurde das Motiv in diesem Sinne mustergebend gestaltet. Veröffentlicht wurde "Herbsttag" 1902 im Band "Das Buch der Bilder". Dass Trakl Rilke las, ist bekannt. Ob er "Herbsttag" kannte, nicht. Motiventsprechungen wie "Frucht", "Sommer" und "Wein" könnten sich alleine dem gemeinsamen Thema verdanken, nicht unmittelbarem Bezug. Ein zweiter, sehr wahrscheinlicher, innerliterarischer Bezug ist der zu Hölderlins Gedicht "Der Herbst", in welchem der Vogelflug als Zeichensystem ("Der Geist der Schauer findet sich am Himmel wieder") sowie der "Landmann" erscheinen. Anklingt auch Hölderlins "Wie wenn am Feiertage".

Damit ist zumindest dies gesagt: Es geht um ein allgemeineres Anliegen. Nicht um die Gestaltung einer individuellen Stimmungsaussage. Das Allgemeine hat ein gemeinsames Bild in allen drei Strophen des Gedichtes: Die Behausung. "Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle", "Ein Dach von dürrem Stroh" und "In kühlen Stuben" lauten ihre Konkretionen. Bemerkenswert ist auch, dass alle drei Strophen die Farbe Blau nennen, "Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle", "Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel/ Ein Dach" und "Engel treten leise aus den blauen/ Augen der Liebenden". Übergänge und sanfte Berührungen werden hier genannt, Metamorphosen, Verwandlungen, Wundersames. Die letzten beiden Zeilen aber bringen einen Mißklang in diese behutsame Welt "leiser Antworten": "Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,/ Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden."

Das offene Ende von Hölderlins "Wie wenn am Feiertage" klingt an mit seinem "Doch weh mir! wenn von". Hölderlin selbst hat dem widersprochen in der letzten Zeile seines Gedichtes "Der Herbst", einem der spätesten Gedichte: "Und die Vollkommenheit ist ohne Klage."






DIE HEIMKEHR

Die Kühle dunkler Jahre,
Schmerz und Hoffnung
Bewahrt zyklopisch Gestein,
Menschenleeres Gebirge,
Des Herbstes goldner Odem,
Abendwolke -
Reinheit!

Anschaut aus blauen Augen
Kristallne Kindheit;
Unter dunklen Fichten
Liebe, Hoffnung,
Daß von feurigen Lidern
Tau ins starre Gras tropft -
Unaufhaltsam!

O! dort der goldene Steg
Zerbrechend im Schnee
Des Abgrunds!
Blaue Kühle
Odmet das nächtige Tal,
Glaube, Hoffnung!
Gegrüßt du einsamer Friedhof!




In der zentralen zweiten Strophe thematisiert Trakl zum einen Kindheit, zum anderen den aus "Glaube, Liebe, Hoffnung" bekannten Zweiklang "Liebe, Hoffnung". Beides wird verbunden mit der Farbe Blau, wie wir das etwa aus den Gedichten "Kindheit" bzw. "Geistliches Lied" kennen. Doch unmittelbar auf "Liebe, Hoffnung" folgen drei Zeilen, die wie ein Widerruf anmuten, "feurige Lider" lassen weniger an Paradieseshoffnungen als an Höllenqualen denken. Auch wenn es "Tau" ist, der da tropft, denn er tropft in "starres Gras" - und dies "unaufhaltsam"! Die eher lebensbejahend gestimmte Deutung, dass der Tau das Gras doch befeuchten und beleben könne, lässt sich schwer halten. Zumal beim Blick auf die dritte Strophe.

Diese beginnt mit dem "goldenen Steg", der im Schnee zerbricht. Dazu gruppieren sich die Bilder "Abgrund" und "Friedhof". Dies lässt im Anschluss an das Ende der vorangegangenen Strophe an den Vers "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" aus "Ein deutsches Requiem" von Johannes Brahms denken. Die "Heimkehr" ist ganz offensichtlich mit Tod verbunden, dieser mit "Glaube, Hoffnung". Die Nähe Gottes im Tod wird angedeutet mit der Wendung "Blaue Kühle/ Odmet das nächtige Tal". Im Gedicht "Geistliches Lied" ist vom "blauen Odem" Gottes die Rede - damit wird deutlich, welche "Heimkehr" Trakl hier zu gestalten sucht.

Der Blick zurück zur ersten Strophe macht uns nun aufmerksam auf die zweite Zeile, die "Schmerz und Hoffnung" nennt. Daraus wird in der zweiten Strophe "Liebe, Hoffnung" und in der dritten und letzten schließlich, beschwörend mit Ausrufezeichen, "Glaube, Hoffnung!". Damit ist das bekannte "Glaube, Hoffnung, Liebe" aus 1. Korinther 13,13 erweitert um "Schmerz" und zudem wird ins Zentrum "Hoffnung" gestellt, nicht, wie im Korintherbrief, "Liebe"! Die Entwicklung innerhalb der eigenen Dynamik des Gedichtes verläuft von Schmerz über Liebe zu Glaube, von Trakl äußerst subtil gestaltet und bis in die Zeilenzählung hinein verfügt (2, 4, 6).





DIE JUNGE MAGD

                    1

Oft am Brunnen, wenn es dämmert,
Sieht man sie verzaubert stehen
Wasser schöpfen, wenn es dämmert.
Eimer auf und nieder gehen.

In den Buchen Dohlen flattern
Und sie gleichet einem Schatten.
Ihre gelben Haare flattern
Und im Hofe schrein die Ratten.

Und umschmeichelt von Verfalle
Senkt sie die entzundenen Lider.
Dürres Gras neigt im Verfalle
Sich zu ihren Füßen nieder.

                   2

(....)




"Ludwig von Ficker zugeeignet" lautet die Widmung dieses Gedichtes. Damit nimmt es bereits äußerlich einen besonderen Rang ein, denn Ludwig von Ficker war Herausgeber der in Innsbruck erscheinenden Zeitschrift "Der Brenner", die Trakl zur öffentlichen Anerkennung verhalf. Sie hatte nichts mit Alpenseligkeit zu tun, wie der Titel falsch vermuten lassen könnte. Die Zeitschrift war Forum für Literaturkritik und avantgardistische Literatur. Ihren Namen verdankte sie einer Inspiration durch die Zeitschrift "Die Fackel" von Karl Kraus, mit dem bei Innsbruck gelegenen Brennerpass als Realreferenz.

Im ersten von Trakl verantworteten Band seiner Werke steht der Text an der zweiten Position, nach dem einleitenden "Die Raben". Der Text zählt zu den balladenartigen Langgedichten Trakls. Er besteht aus sechs Szenen mit jeweils drei Strophen zu vier Zeilen. In der ersten Szene wird skizzenhaft das Bild der "jungen Magd" gezeichnet, an einem Ort, der zu ihrer Arbeit gehört, dem Brunnen, zu welchem sie offensichtlich auch eine besondere Beziehung hat, der sie "verzaubert".

Ihre Arbeit dort ist es, Wasser zu schöpfen. Was konkret sie dabei "verzaubert" bleibt unklar, es könnte das "auf und nieder" der Eimer sein, die im Brunnenschacht verschwinden, um gefüllt wiederzukehren. Es könnte aber auch die Dämmerungsstimmung sein, wobei wir nicht erfahren, ob es die Abenddämmerung oder die Morgendämmerung ist, zu der sie Wasser holen geht.

Die zweite Strophe verbindet die Figur der Magd mit zwei charakteristischen Tierarten, die bei Trakl gelegentlich erscheinen, mit Dohlen und Ratten. Die Konnotationen sind deutlich bedrohlich, die Ratten "schreien" und das Flattern der Dohlen reimt sich auf "Schatten", dem die Magd gleiche. In der dritten Strophe konkretisiert sich diese eher düstere Stimmung. Die Magd sei von Verfall "umschmeichelt", ihre Augenlider sind entzündet, das Gras zu ihren Füßen ist "dürr".





DIE JUNGE MAGD


                 2

Stille schafft sie in der Kammer
Und der Hof liegt längst verödet.
Im Hollunder vor der Kammer
Kläglich eine Amsel flötet.

Silbern schaut ihr Bild im Spiegel
Fremd sie an im Zwielichtscheine
Und verdämmert fahl im Spiegel
Und ihr graut vor seiner Reine.

Traumhaft singt ein Knecht im Dunkel
Und sie starrt von Schmerz geschüttelt.
Röte träufelt durch das Dunkel.
Jäh am Tor der Südwind rüttelt.

3

(...)





In der zweiten Szene des balladenhaften Gedichtes "Die junge Magd" ist die Tageszeit nun deutlicher, es ist Abend, vielleicht schon Nacht, der Hof liegt "längst verödet". Da es sich um keinen verlassenen Hof handelt, es gibt schließlich eine Magd und einen Knecht, sind wir berechtigt, die Bewohner, die Bauersfamilie, im Haus zu vermuten, die Tiere in den Ställen. Die Szene am Brunnen im ersten Teil der Ballade ist daher wohl in der Abenddämmerung anzusiedeln. Die junge Magd hält sich nun in ihrer Kammer auf, ihr Tagwerk für den Hof ist beendet.

Dass "Im Hollunder vor der Kammer" eine Amsel singt, verweist darauf, dass die Abenddämmerung noch nicht ganz abgeschlossen ist - denn Amseln stellen ihren Gesang nach Sonnenuntergang ein. Die Funktion des Amselgesanges im Gedicht ist deutlich, wir werden eingestimmt auf eine Klage, die mit dem Thema "Geburt" verbunden ist, denn dafür steht der Holunder bei Trakl und auch allgemein in der Volkskultur.

Die Magd ist mit der Abendtoilette beschäftigt, sie betrachtet sich im Spiegel, es herrscht Zwielicht - also gibt es wohl noch einen letzten Lichtschein von draußen und Kerzenlicht in der Stube. Ihr Spiegelbild ist der Magd fremd, es schaut sie "silbern" an - bei Trakl ein Verweis auf Todesnähe, aber auch auf die seelische Grundlage der menschlichen Existenz mit einem Versprechen auf Dauer.

Die Betrachtende erschrickt vor der "Reine" des Spiegels. HIer schwingt eine "Unreine" mit, von der wir nur indirekt etwas erfahren. Sie könnte etwas mit dem "Knecht" zu tun haben, der im Dunkel "traumhaft singt". Unmittelbar damit verbunden, nicht durch Komma oder gar Punkt getrennt, lediglich durch den Zeilenwechsel, wird ein "Schmerz" der Magd genannt. Sie verliert - träufelnd - Blut, die Umstände lassen an die Folgen einer Abtreibung denken, aber deutlich wird dazu nichts weiter gesagt. Versprechungen von Liebe und Wärme und Fruchtbarkeit werden im Bild des Südwinds, der "jäh" am Tor rüttelt, zugleich evoziert und dementiert.





DIE JUNGE MAGD

                  3

Nächtens übern kahlen Anger
Gaukelt sie in Fieberträumen.
Mürrisch greint der Wind im Anger
Und der Mond lauscht aus den Bäumen.

Balde rings die Sterne bleichen
Und ermattet von Beschwerde
Wächsern ihre Wangen bleichen.
Fäulnis wittert aus der Erde.

Traurig rauscht das Rohr im Tümpel
Und sie friert in sich gekauert.
Fern ein Hahn kräht. Übern Tümpel
Hart und grau der Morgen schauert.


                   4

(...)



Die dritte Szene gestaltet die Bedrohung weiter, die in den ersten beiden bereits angedeutet wird. Es ist Nacht, die junge Magd "gaukelt" über die kahle Weide ("Anger") - ein seltsames Bild, das an einen Hexenritt denken lässt. Allerdings handelt es sich eher um eine Fieberphantasie der Kranken. Denkbar ist allerdings auch, dass sie unruhig und schlaflos durch die Nacht irrt. Dafür spricht die detaillierte Ausgestaltung der zugehörigen Naturbilder, der "kahle Anger", doe "Fäulnis" der Erde, das "Rohr im Tümpel, bei dem sie sich frierend niederkauert. In jedem Falle ist deutlich: Sie leidet in dieser Nacht, das zentrale Adjektiv ist "bleich", bildlich unterstützt durch "Mond", "wächsern" und "grau". "Bleich" sind nicht nur die Wangen der Magd, auch die Sterne werden analog bestimmt.

Ein Hahn kräht in der dritten und letzten Strophe, er beendet eine schreckliche Nacht für die junge Frau, und auch der nun dämmernde Morgen "schauert" unerfreulich, "hart und grau". Er bringt keine Erlösung, keine positive Erwartung, kein Versprechen. Die bestimmende Farbe der dritten Strophe ist unfreundlich, auch die klangliche Ebene ist negativ gestimmt. "Traurig" rauscht das Schilfrohr und der Hahn kräht fern - die Leidende ist weit weg von der Dorfgemeinschaft oder dem Hof ihrer Dienstherrschaft, das einzige Lebewesen in dieser Szene, ein Tier, kann ihr nicht beistehen, scheint sie eher aus der Distanz zu verhöhnen. Erinnern wir uns: Der Hahn ist im biblischen Kontext verbunden mit Verrat.

Die Schlussstrophe verstärkt allerdings nur, was in den vorangegangenen Strophen bereits gestaltet ist, eine feindselige, todesnahe Grundstimmung. Doch während die junge Magd in der ersten Strophe noch aktiv ist, auch wenn sie nur "gaukelt", so "kauert" sie in der letzten Strophe nur noch. Und während sie in der ersten zumindest ein Fieber noch wärmt, friert sie nun.






DIE JUNGE MAGD


                     4

In der Schmiede dröhnt der Hammer
Und sie huscht am Tor vorüber.
Glührot schwingt der Knecht den Hammer
Und sie schaut wie tot hinüber.

Wie im Traum trifft sie ein Lachen;
Und sie taumelt in die Schmiede,
Scheu geduckt vor seinem Lachen,
Wie der Hammer hart und rüde.

Hell versprühn im Raum die Funken
Und mit hilfloser Geberde
Hascht sie nach den wilden Funken
Und sie stürzt betäubt zur Erde.


                      5

(...)



Nach einer beklemmenden Nacht voll "Beschwerden" (3. Szene, 2. Strophe) kehrt die junge Magd ins Dorf zurück, geht an der Schmiede vorbei und sieht den "Knecht", der bereits in der zweiten Szene genannt wurde. Auch wenn es für den eigentlichen Gehalt der Ballade, eine Geschichte offensichtlich von Gewalt, Sexualität, Armut, Hoffnungslosigkeit und Verfall, wenig relevant ist, darf man doch die Frage stellen, ob der "Knecht" nun Schmiedknecht ist oder Bauernknecht. Ob die Schmiede also eine selbständige dörfliche Einrichtung ist oder eine Einrichtung auf dem Bauernhof, wo die Magd arbeitet. In jedem Falle werden wir konfrontiert mit einem Bild geschlossenen Lebens, einer Gemeinschaft, die autark ist und abgeschlossen - aber auch bedrohlich und zerstörerisch für den Einzelnen, in diesem Falle die "junge Magd".

In dieser vierten Szene wird die sexuelle Thematik eindeutig, auch wenn sie sich nur in vermittelten Bildern äußert, im "Hammer" des Knechtes und den "wilden Funken", nach denen die Magd hascht, worauf sie "betäubt" zu Boden stürzt. Das Lachen des Knechtes ist "hart und rüde" wie sein Hammer, die Magd ist dem gegenüber "scheu geduckt" und "hilflos". Für sich genommen wird dieser Balladenteil zu einer Beschwörungsformel. Sechs mal erscheint die junge Magd als "sie", in jeder Strophe zwei mal, in der abstrakten dritten Person, zu der sie hier wird, ein Objekt der Handlungen des Knechtes und seines Hammers, der drei mal genannt wird.

"Hell versprühn im Raum die Funken" hebt die dritte Strophe an. Es wird Licht, doch dieses Licht, sternengleich in Funken stiebend, ist das Licht des Sündenfalls, ist luziferisch, führt zum Sturz. Damit wird das rote Licht der ersten Strophe in seiner spezifischen Konnotation als "Höllenfeuer", wie dies Gunther Kleefeld 1985 auslegt, bestätigt. Der Text "An Luzifer" aus dem Nachlass endet mit "Wilde Hoffnung; die Finsternis flammenden Sturzes".

Lektüreempfehlung: Gunther Kleefeld, Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit, Tübingen 1985





DIE JUNGE MAGD


                   5

Schmächtig hingestreckt im Bette
Wacht sie auf voll süßem Bangen
Und sie sieht ihr schmutzig Bette
Ganz von goldnem Licht verhangen,

Die Reseden dort am Fenster
Und den bläulich hellen Himmel.
Manchmal trägt der Wind ans Fenster
Einer Glocke zag Gebimmel.

Schatten gleiten übers Kissen,
Langsam schlagt die Mittagsstunde
Und sie atmet schwer im Kissen
Und ihr Mund gleicht einer Wunde.


                    6

(...)



Mit der fünften Szene verlassen wir die zeitliche Linie von der Abenddämmerung zum Morgen. Die junge Magd liegt im Bett und erwacht in "goldnem Licht". In der Logik des Berichtes gedacht müssen wir vermuten, dass man sie ins Bett gebracht habe nach der Ohnmacht in der Szene zuvor. Die zweite Strophe bringt zum Goldton der ersten noch einen freundlichen Blauton. Dazu erscheint auf der lautlichen Ebene Glockengebimmel. Andeutungen, die eine Geburt evozieren, "voll süßem Bangen". Womit deutlich wird, dass wir im "Blut" der zweiten Szene, dritte Strophe, entweder die Andeutung von Schwangerschaftskomplikationen oder die Andeutung einer misslungenen Abtreibung lesen müssen.

Dass es mit Gold und Blau nun zu keiner freudigen Wendung des Schicksals der jungen Magd kommt, wird in der dritten Strophe der fünften Szene bildlich: "Schatten gleiten übers Kissen". Diese Schatten werden unmittelbar am Körper der Magd zum Zeichen: "Und ihr Mund gleicht einer Wunde." Dieses Zeichen erscheint just zur "Mittagsstunde", dann, wenn im Christentum zur Sext gebetet wird. In klösterlichen Gebetsordnungen heißt es z.B.: "In der kleinen Gebetszeit der Sext soll das Herz, das von der Arbeit und vom gemeinsamen Leben bewegt wurde, wieder zur Ruhe kommen." (Benediktinerinnenabtei St. Hildegard Eibingen)

Religiöse Konnotationen tragen die zentralen Bilder dieser fünften Szene, beginnend mit dem Goldglanz am Bettlager der jungen Magd in der ersten über das Glockenbimmeln der zweiten bis zur Stigma-Andeutung der dritten. Doch bleiben diese Bezüge ganz diskret, zurückhaltend formuliert. Ein Zustand der Schwebe wird gestaltet, der Ausgang des Geschehens scheint offen, es ist Mittagszeit, Einkehrzeit. Ein Innehalten, als wolle der Dichter sich und uns und die jungen Magd ermächtigen einzugreifen, das Schicksal zum Guten zu wenden.







DIE JUNGE MAGD


                   6

Abends schweben blutige Linnen,
Wolken über stummen Wäldern,
Die gehüllt in schwarze Linnen.
Spatzen lärmen auf den Feldern.

Und sie liegt ganz weiß im Dunkel.
Unterm Dach verhaucht ein Girren.
Wie ein Aas in Busch und Dunkel
Fliegen ihren Mund umschwirren.

Traumhaft klingt im braunen Weiler
Nach ein Klang von Tanz und Geigen,
Schwebt ihr Antlitz durch den Weiler,
Weht ihr Haar in kahlen Zweigen.




Tod ist das Thema der sechsten Szene. "Blutige Linnen", die wir aus Großstadtzenen des Expressionismus kennen und bei Trakl aus "Winterdämmerung", markieren den Einstieg in das Thema - auch wenn es sich nur um Wolken handelt, die blutigen Linnen gleichen im Sonnenuntergang. Unvermittelt werden daraus "schwarze Linnen". Die Magd liegt nun "ganz weiß" in ihrem Bett, tot und verlassen, alleine. Keine Hebamme ist bei ihr, kein Knecht, kein Mitglied der Bauernfamilie. Fliegen umkreisen ihren Mund, machen sie einem "Aas" gleich. Entsetzlicher ist die soziale Erniedrigung nicht zu beschreiben: Der Mensch, ein Tier, krepierend im Gebüsch, ein Aas für andere.

Die Verführung der jungen Magd, in keiner der sechs Szenen explizit gemacht, wird nun zumindest angedeutet im "Klang von Tanz und Geigen", der den Weiler, in welchem sie einsam stirbt, durchzieht, "traumhaft". Auch ihr "Antlitz" geistert durch den Ort und bleibt, mit diesem Gedicht Trakls, den Feiernden gegenwärtig. In der ersten Zeile dieser Szene "schweben blutige Linnen", in der letzten "(w)eht ihr Haar in kahlen Zweigen" - Georg Heyms "Ophelia" klingt an, doch die Magd Trakls ist in stärkerem Maße sozial eingebunden, auch in ihrer Ausgrenzung.

Ist dieser Reigen aus sechs Einzeltexten sozialkritisch zu lesen? Sicherlich gehört er in die Traditionslinie der Balladen und Lieder, die sich der thematischen Verflechtung von Armut und Mutterschaft widmen. "Sabinchen war ein Frauenzimmer" oder "Mariechen saß weinend im Garten" sind als Referenzen zu nennen. Als einziger von Trakl autorisierter Text thematisiert "Die junge Magd" das Einzelschicksal eines Dritten. Dies weist ihn auch inhaltlich als besonders zu würdigen aus. Im wesentlichen Unterschied zu thematisch ähnlichen Balladen und Liedern können in Trakls Text die einzelnen Szenen für sich stehen als selbständige Gedichte. Darin liegt eine unverwechselbare Leistung Trakls.






DIE RABEN

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.




Vom schlechten Ruf der Raben scheint auch dieses Gedicht zu zehren. Die schwarzen Vögel der Hexen und des Unheils stören hier die "braune Stille".

Braun, das ist bei Trakl die Farbe eines harmonischen Urzustandes, in der zweiten Strophe verbunden mit dem Bild von Ackerfruchtbarkeit. Doch schon die Zweideutigkeit, mit der Trakl über "ein Weib, das schwere Ahnung berückt" den braunen Acker mit den schwarzen Raben verbindet, macht deutlich, dass die Raben mehr sind als störende Außenseiter, dass sie vielmehr mit Fruchtbarkeit (die "Verzückung" des Ackers und die "schwere Ahnung" der Frau) komplex verbunden sind und dessen Gegenspieler, den Verfall, das "Aas" erinnernd einschließen.

Auch wenn sie "plötzlich" nach Norden entschwinden, gehören sie dem Ort des Sprechenden an, hinterlassen dort noch im Schwinden eine Spur, die dem Acker verpflichtet bleibt, eine Spur von "Wollust", die ähnlich wie der Acker mit Aas, mit dem Bild "Leichenzug" kritisch komplementiert wird.

"Nach Nord" richten sie ihren Flug, also gerade nicht in die Richtung, die Zugvögel von unseren Regionen aus nehmen, nicht zur Wärmen, nach Süden, sondern in die Region der Kälte. Ihr Ausgangsort ist der "schwarze Winkel", der verbunden ist mit dem Bild einer "Hirschkuh". Ein Bild, das in der Trakl-Exegese gerne als "Mutterbild" gedeutet wird.

Ich weise darauf hin, dass Hirschkühe in Salzburg vermutlich zu Trakls Lebzeit im Tierpark Hellbrunn leibhaft gesehen werden konnten. Für eine derart "profane" Deutung spricht, dass Trakl im Gedicht "Landschaft" ein ursprünglich gewähltes "Rebhuhn" durch "Hirschkuh" ersetzte. Im Gedicht "Die Raben" stand statt "an der Hirschkuh vorbei" zunächst "an den Büschen vorbei". Einem Hellbrunn-Besuch hat Trakl auch explizit ein eigenes Gedicht gewidmet: "In Hellbrunn", entstanden März bis Mai 1914. In der Felswand von Hellbrunn nisten heute Dohlen - vermutlich war dies auch um 1900 der Fall.

Das Gedicht "Die Raben" wurde zwischen August 1909 und Juli 1910 geschrieben, in Salzburg. Für die Sammlung "Gedichte" stellte Trakl es an die erste Position.






DIE SCHÖNE STADT

Alte Plätze sonnig schweigen.
Tief in Blau und Gold versponnen
Traumhaft hasten sanfte Nonnen
Unter schwüler Buchen Schweigen.

Aus den braun erhellten Kirchen
Schaun des Todes reine Bilder,
Großer Fürsten schöne Schilder.
Kronen schimmern in den Kirchen.

Rösser tauchen aus dem Brunnen.
Blütenkrallen drohn aus Bäumen.
Knaben spielen wirr von Träumen
Abends leise dort am Brunnen.

Mädchen stehen an den Toren,
Schauen scheu ins farbige Leben.
Ihre feuchten Lippen beben
Und sie warten an den Toren.

Zitternd flattern Glockenklänge,
Marschtakt hallt und Wacherufen.
Fremde lauschen auf den Stufen.
Hoch im Blau sind Orgelklänge.

Helle Instrumente singen.
Durch der Gärten Blätterrahmen
Schwirrt das Lachen schöner Damen.
Leise junge Mütter singen.

Heimlich haucht an blumigen Fenstern
Duft von Weihrauch, Teer und Flieder.
Silbern flimmern müde Lider
Durch die Blumen an den Fenstern.



Ja, in der Tat, Salzburg ist eine "schöne Stadt". Das haben auch die Touristenmassen erkannt, die sich seit Jahrzehnten durch die Mozartgasse schieben. Und das wissen auch die Veranstalter und Besucher der Salzburger Festspiele. Zu Trakls Zeiten war die Schönheit der Stadt weniger von Interesse. Die zahlreichen Neusiedler, die um 1900 nach Salzburg zogen und die Bevölkerungszahlen dort explodieren ließen, kamen wegen des Versprechens auf ein Auskommen bei diversen Verwaltungen, der Kirche und der neu aufkommenden Industrie. Salzburg bietet ein interessantes Beispiel für die Geschichte der Industrialisierung des urbanen Raumes und seines Einzugsbereiches im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Traklsche Preislied auf Salzburg einen irritierenden Unterton - denn natürlich wußte der Sohn eines Eisenwarenhändlers darum, dass die Stadt nicht vom "Lachen schöner Damen" lebte. Und dass die barock-feudale Pracht Vergangenheit war, signalisiert er selbst bereits in der zweiten Strophe, in der "des Todes reine Bilder" aus Kirchen schauen und sich reimen auf "Großer Fürsten schöne Schilder". Grabmale sind es, Grabtafeln verstorbener Größe und Bedeutung, die eine Reinheit ausstrahlen, die der lebendigen Gegenwart nicht zukam.

Doch ganz betont zeigt das Gedicht auch an der Gegenwart nur die geputzten, freundlichen Seiten. Lediglich die Jungen, die Kinder scheinen etwas anderes zu ahnen. "Knaben spielen wirr von Träumen" und "Mädchen stehen an den Toren" - welche Träume es sind und was von vor den Toren kommt, bleibt angedeutet. "Marschtakt hallt" - die Annexion von Bosnien-Herzegowina Ende 1908 (ehe das Gedicht geschrieben wurde) durch Österreich-Ungarn hatte Europa an die Schwelle einer großen kriegerischen Auseinandersetzung gebracht (Abkommen Türkei mit Österreich-Ungarn Feburar 1909 schafft vorübergehend Entschärfung, mit der Behandlung Serbiens jedoch auch neues Konfliktpotential). Und dieser Marschtakt lässt die Glockenklänge flattern und Fremde "lauschen". Die Fremden könnten Touristen sein, aber auch neu Zugezogene. Und vielleicht lauschen sie auch nur den "Orgelklängen".

Das Gedicht bleibt ambivalent und kann durchaus auch als Hohelied des Eskapismus gelten, mit forciert wirkender Unschuld geschrieben, selbst als Text "Tief in Blau und Gold versponnen". Doch Vorsicht, die "sanften Nonnen" hasten unter "schwülen Buchen" gleich in der ersten Strophe, in der dritten heißt es "Blütenkrallen drohn aus Bäumen". Und in der letzten Strophe "flimmern müde Lider" hinter blumengeschmückten Fenstern. Der Duft von Weihrauch und Flieder mischt sich mit dem Duft von Teer. Auch wenn dies mit heiterer Gelassenheit geschrieben scheint, schwingt eine tiefe Anteilnahme an der Hinterseite dieser "schönen Stadt" mit.

Weitere Hinweise und Informationen zu Trakls Beziehung zu Salzburg und zu anderen Örtlichkeiten finden Sie auf meiner Seite mit Essays zu Trakls Werk und Leben.

Lektüreempfehlung: Robert Sturm, Industrialisierung einer Barockstadt. Industrie-, Gewerbe- und Verkehrsbauten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der Stadt Salzburg und Umgebung. VDM-Verlag 2009





DIE SONNE

Täglich kommt die gelbe Sonne über den Hügel.
Schön ist der Wald, das dunkle Tier,
Der Mensch; Jäger oder Hirt.

Rötlich steigt im grünen Weiher der Fisch.
Unter dem runden Himmel
Fährt der Fischer leise im blauen Kahn.

Langsam reift die Traube, das Korn.
Wenn sich stille der Tag neigt,
Ist ein Gutes und Böses bereitet.

Wenn es Nacht wird,
Hebt der Wanderer leise die schweren Lider;
Sonne aus finsterer Schlucht bricht.




Ein Gedicht, das auf den ersten Blick einen ausgesprochen versöhnlichen Ton hat. Im Stil einer Stifterschen Idylle (die gleichwohl auch ihren dunklen Untergrund hatten) werden Bilder einer harmonischen Einheit von Mensch und Natur beschworen. Eingeleitet wird dies durch das Bild der aufgehenden Sonne, deren Verlässlichkeit betont wird: "täglich".

Diese Einheit wird durch kühne Appositionen noch verstärkt. So werden in der ersten Strophe "der Wald", "das dunkle Tier" und "der Mensch" ineins geschrieben. Auch wenn formal diese Reihung lediglich als vereint durch die Zuschreibung "schön ist" begriffen werden kann, zwingt sich zumindest die Gleichsetzung in der Verbindung "das dunkle Tier, der Mensch" unmittelbar auf.

In der zweiten Strophe sind es Adjektive, die drei Sachbereiche eng zusammenschließen, Kosmos, Natur und Menschenwerk: "im grünen Weiher", "dem runden Himmel" und "im blauen Kahn". Weiher und Kahn sind als Vertreter zweier dieser Sachbereiche per se schon aufnehmend-gerundet gedacht, der Himmel wird vom Autor durch das Adjektiv explizit als "rund" vorgestellt.

Auch die dritte Strophe beschwört Harmonie, "langsam", was hier im Kontext bedeutet: zuverlässig, reifen Weintrauben und Getreidekorn gleichermaßen, also die Grundlagen der stark kultisch-religiös aufgeladenen Lebensmittel "Brot" und "Wein". Erinnert sei an das Gedicht "Brot und Wein" von Friedrich Hölderlin, der in Trakls Werk allgegenwärtig ist.

Doch dann, unvermerkt fast, bricht ein anderer Ton ein. Von der Reife des Herbstes geht der Autor über zum Ende des Tages, der sich "still" neige. Und damit sei, ohne weitere Erklärung, "ein Gutes und Böses bereitet".

Ob dies den "Wanderer" betrifft, der dann in der nächsten und letzten Strophe "leise die schweren Lider" hebt, erfahren wir nicht. Die Sonne indes, die in der ersten Verszeile "täglich kommt", "bricht" nun "aus finsterer Schlucht".






DIE TOTE KIRCHE


Auf dunklen Bänken sitzen sie gedrängt
Und heben die erloschnen Blicke auf
Zum Kreuz. Die Lichter schimmern wie verhängt,
Und trüb und wie verhängt das Wundenhaupt.
Der Weihrauch steigt aus güldenem Gefäß
Zur Höhe auf, hinsterbender Gesang
Verhaucht, und ungewiß und süß verdämmert
Wie heimgesucht der Raum. Der Priester schreitet
Vor den Altar; doch übt mir müdem Geist er
Die frommen Bräuche - ein jämmerlicher Spieler,
Vor schlechten Betern mit erstarrten Herzen,
In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein.
Die Glocke klingt! Die Lichter flackern trüber -
Und bleicher, wie verhängt das Wundenhaupt!
Die Orgel rauscht! In toten Herzen schauert
Erinnerung auf! Ein blutend Schmerzensantlitz
Hüllt sich in Dunkelheit und die Verzweiflung
Starrt ihm aus vielen Augen nach ins Leere.
Und eine, die wie aller Stimmen klang,
Schluchzt auf - indes das Grauen wuchs im Raum,
Das Todesgrauen wuchs: Erbarme dich unser -
Herr!



Trakls frühes Gedicht "Die tote Kirche" wirkt teilweise wie eine eigenwillige Übersetzung von Rimbauds Text "Les pauvres à l'église" von 1870. Das genaue Datum der Abfassung ist nicht bekannt, aber der Text gehörte zur Sammlung seiner bis 1909 verfassten Gedichte, für die Trakl vergebens einen Verleger gesucht hatte und die er später nicht mehr für veröffentlichungswürdig hielt.

Die antiklerikale Tendenz des Rimbaudschen Textes ist offenkundig. Bei Trakl klingt diese Tendenz bereits im Titel an. Er kann gelesen werden als "Die Kirche ist tot", was bestätigt wird in der Zeile "In seelenlosem Spiel mit Brot und Wein". Eine härtere Liturgiekritik ist kaum vorstellbar. Die "Beter" haben "erstarrte Herzen", der Priester ist "ein jämmerlicher Spieler". Das Gedicht endet in "Todesgrauen" - unklar bleibt, ob Grauen vor dem individuellen Sterben, dem kollektiven Sterben oder dem Tod der Kirche.

Das Nietzschesche "Gott ist tot" klingt gleichfalls, allerdings nur sehr vage an. Das "Wundenhaupt" des Gekreuzigten scheint sich zunächst von der Leere der Liturgie abzuwenden, doch die Verzweiflung der ungetrösteten Kirchgänger "Starrt ihm aus vielen Augen nach ins Leere" - was doch bedeuten könnte, dass auch Christus in der kirchlich behaupteten Transzendenz nur Leere sieht nach Auffassung des Autors.

Dunkelheit, Verhüllung, Trübnis, Flackern, Erloschenheit sind die entscheidenden visuellen Bestimmungen des Gedichtes. Gold, die bei Trakl mit seiner eigenen Auffassung von Transzendenz verbundene Farbe, erscheint nicht selbst, sondern lediglich an einem "güldenen Gefäß", dem Weihrauchkessel, und korrespondiert mit "hinsterbendem Gesang". Zwei weitere kirchlich-liturgische Klangereignisse nennt dieser Text: "Die Glocke klingt!" und "Die Orgel rauscht!" Das Ausrufezeichen macht dies zu Beschwörungsformeln, die keiner gehaltvollen Wirklichkeit entsprechen.

Einzig relevant erscheint der Klang zum Ende: "Und eine (...) Schluchzt auf". Eine menschliche Stimme, die allen anderen Ausdruck gibt und das einzig noch Sagbare äußert, ein Schluchzen. Welch ein - über seine Liturgiekritik hinaus - bitterer Text.

Lektüreempfehlung: Thomas Anz, Grauenhaftes Spiel, In: FAZ, 11.03.2006





EINER VORÜBERGEHENDEN


Ich hab' einst im Vorübergehn
Ein schmerzenreiches Antlitz gesehn,
Das schien mir tief und heimlich verwandt,
So gottgesandt -
Und ging vorüber und entschwand.

Ich hab' einst im Vorübergehn
Ein schmerzenreiches Antlitz gesehn,
Das hat mich gebannt,
Als hätte ich eine wiedererkannt,
Die träumend ich einst Geliebte genannt
In einem Dasein, das längst entschwand.



"Einer Vorübergehenden" ist ein weniger bekanntes frühes Gedicht Georg Trakls, das von ihm für keine seiner beiden authorisierten Publikationen ("Gedichte" und "Sebastian im Traum") vorgesehen war. Es erschien 1909 im "Neuen Wiener Journal" Nr. 5744 und im "Salzburger Volksblatt" Nr. 242.

Trakl gestaltet hier das Thema der zufälligen Begegnung mit einer Person, die dann zur unerreichbaren Geliebten stilisiert wird. Anders als bei Petrarca, der dieses Thema modellgebend für die europäische Literatur in seinem Canzoniere entfaltet hat, bleibt es für Trakl bei einer Begegnung und auch einem einzigen Text, der diese Begegnung bereits abschließend einordnet durch Verbleib in der Vergangenheitsform und Relativierung im Konjunktiv ("als hätte"). Diese Einordnung wird noch semantisch verstärkt durch die Bestimmung "träumend" und die Übersteigung der einfachen Vergangenheit der Begegnung durch den Rekurs auf ein "Dasein, das längst entschwand".

Die christliche Motivik klingt an, wenn Trakl die "Vorübergehende" vorrangig charakterisiert sein lässt durch "ein schmerzensreiches Antlitz". Erinnert sei an Gretchens (Margarethes) Anrufung Mariens in Faust I: "Ach neige, Du Schmerzensreiche, Dein Antlitz gnädig meiner Not!" Als "schmerzensreiches Antlitz" wird auch Jesus im christlichen Kultus angesprochen. Der religiöse Bezug wird noch verstärkt durch die Formulierung "so gottgesandt". Doch Erlösung wird nicht geleistet, die vermeintliche Retterin "ging vorüber und entschwand".

Offenkundig greift Trakl mit diesem Text Baudelaires "A une passante" von 1860 auf. Doch außer dem Titel finden wir bei Trakl wenig von Baudelaires Gestaltung wieder. Auffallend ist die Wiederkehr von Baudelaires "douleur majestueuse" im "schmerzensreichen Antlitz" - mit einer deutlichen Sinnverschiebung von der Erhabenheit zum Unterworfensein. Bei Baudelaire hat die Erscheinung eine "main fastueuse", bei Trakl ist sie nur Antlitz und Schritt. Baudelaire wählt die Form des Sonettes und auch inhaltlich ist er (etwa mit dem zentralen Bild der Augen der Frau) Petrarcas Modell poetischer Gestaltung einer unerfüllten Beziehung deutlich verpflichtet.

Blanker Biographismus könnte darauf abheben, dass die Mutter Trakls Maria, seine Kinderfrau Marie und seine Lieblingsschwester Margarethe hieß. Gehoben wäre darauf hinzuweisen, dass Wilhelm Jensens Novelle "Gradiva", die im Juli 1902 zuerst in der "Neuen Freien Presse" Wien erschien, mit einer verwandten Thematik in Österreich wohl bekannt war - zumal nach Freuds psychoanalytischer Behandlung des Textes 1907. Und dass Freuds Essay sich über die Traumdeutung Jensens Novelle nähert und eine inzestuöse Neigung des Dichters (Jensen) zu einer Schwester (die Jensen nicht hatte, wie Freud auf Nachfrage von diesem selbst erfuhr) unterstellt. Aber kannte Trakl den Freud-Text und/oder die Novelle von Jensen? Da er ab 05. Oktober 1908 in Wien zum Studium der Pharmazie immatrikuliert war, ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit gegeben, dass er einen der Texte gelesen oder zumindest dazu informiert war (etwa über seinen Wiener Freund und Förderer Karl Kraus).


    



EIN FRÜHLINGSABEND (II)


Ein Strauch voll Larven; Abendföhn im März;
Ein toller Hund läuft durch ein ödes Feld
Durchs braune Dorf des Priesters Glocke schellt;
Ein kahler Baum krümmt sich in schwarzem Schmerz.

Im Schatten alter Dächer blutet Mais;
O Süße, die der Spatzen Hunger stillt.
Durch das vergilbte Rohr bricht scheu ein Wild.
O Einsamstehn vor Wassern still und weiß.

Unsäglich ragt des Nußbaums Traumgestalt.
Den Freund erfreut der Knaben bäurisch Spiel.
Verfallene Hütten, abgelebt’ Gefühl;
Die Wolken wandern tief und schwarz geballt.





Bemerkenswerterweise hat Trakl drei Jahreszeiten ein "Abend"-Gedicht gewidmet, mit "Ein Frühlingsabend", "Ein Herbstabend" und "Ein Winterabend". Der Sommer fehlt.

Ein erster Text mit dem Titel "Ein Frühlingsabend" entstand vermutlich kurz vor dem 23. Oktober 1911 und wurde zu Trakls Lebenszeit nicht veröffentlicht. In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 entstand ein weiteres Gedicht mit diesem Titel, das im November 1913 veröffentlicht wurde. Dieses Gedicht wird hier besprochen. Es hat mit dem Text aus dem Nachlass nur den Titel gemeinsam, ist ansonsten formal wie inhaltlich völlig verschieden.

"Ein Frühlingsabend" (II) beginnt mit einem höchst irritierenden Bild: "Ein Strauch voll Larven". Man könnte dabei an Karnevalsmasken denken, denn damit beginnt der Frühling ja, mit der Austreibung des Winters, der Fastnacht. Doch 1912 war Fastnacht am 20. Februar, der Anschluss "Abendföhn im März" würde nicht zur Deutung passen. Mit "Larven" meint Trakl hier wohl Insektenlarven und nicht, wie Seitenblicke auf die zeitgleiche expressionistische Malerei oder Texte seiner Berliner Dichterkollegen (etwa Georg Heym, "Die Dämonen der Städte", 7. Strophe) nahelegen, Masken.

In drei der vier Zeilen der ersten Strophe sind Naturbilder bestimmend. Lediglich in der dritten Zeile haben wir das "braune Dorf" und "des Priesters Glocke" als Kulturbilder vor uns. Wobei das Dorf mit der Farbnennung "braun" dezidiert naturhaft erscheint. Dass andererseits der "kahle() Baum" in der nächsten Strophe anthropomorph gezeichnet wird (er krümmt sich "in" Schmerz), warnt uns vor einer allzu schlichten Auffassung der Naturbilder. Natur und Kultur sind bei Trakl keine Gegensätze, sie verweisen aufeinander und deuten sich wechselseitig.

Auch die zweite Strophe wartet mit einem seltsamen Naturbild auf, hier "blutet Mais". Die rötlichen Fäden der weiblichen Maisblüte können kaum gemeint sein, diese erscheinen erst Juli/August. Der "Schatten alter Dächer" lässt vermuten, dass es sich um gelagerten Mais in einer Scheune handelt. Mag sein, dass im Abendlicht der gelbe Mais rötlich leuchtete. Es könnte sich aber auch um den roten Speisemais handeln, eine alte Sorte, die in Österreich verbreitet war. Dafür spricht auch, dass Trakl eigens die "Süße" erwähnt, von der die Spatzen profitieren.

Nun mag man einwenden, dass es doch völlig irrelevant für das Gedicht sei, woher Trakl sein Bild bezog. Entscheidend sei doch, dass und wie er dieses Bild einsetze. Ich halte dafür, dass beides von Relevanz für ein begründbares Verständnis des Gedichtes ist.






EIN HERBSTABEND

Das braune Dorf. Ein Dunkles zeigt im Schreiten
Sich oft an Mauern, die im Herbste stehn,
Gestalten: Mann wie Weib, Verstorbene gehn
In kühlen Stuben jener Bett bereiten.

Hier spielen Knaben. Schwere Schatten breiten
Sich über braune Jauche. Mägde gehn
Durch feuchte Bläue und bisweilen sehn
Aus Augen sie, erfüllt von Nachtgeläuten.

Für Einsames ist eine Schenke da;
Das säumt geduldig unter dunklen Bogen,
Von goldenem Tabaksgewölk umzogen.

Doch immer ist das Eigne schwarz und nah.
Der Trunkne sinnt im Schatten alter Bogen
Den wilden Vögeln nach, die ferngezogen.




Karl Röck, dem das Gedicht gewidmet ist, war Mitarbeiter der Zeitschrift "Der Brenner" in Innsbruck. Er war mit Trakl freundschaftlich, aber auch kritisch verbunden. In seinen Tagebuchnotizen vermerkte er dessen hohen Geldverbrauch für Wein und Tabak. Ferner ist dort über Trakl zu lesen: "er kannte keine Art von Gefühlen". Und in der Tat deutet einiges in Trakls Leben und Werk auf Merkmale des Autismus hin. Häufig zitiert wird auch die durch Röck vom 27.06.1012 überlieferte Traklsche Aussage "Man kann sich überhaupt nicht mitteilen". Allerdings finden sich solche Äußerungen bei vielen Intellektuellen und Künstlern. Andere Zeugnisse deuten gerade hin auf ein Übermaß an Empathie. Etwa der als "Aphorismus" überlieferte Text: "Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt, darin ist alle deine ungelöste Schuld; Dein Gedicht eine unvollkommene Sühne."

Entstanden ist das Sonett "Ein Herbstabend" Ende 1912, Anfang 1913. Seine Bilder enstammen dem Bereich des ländlichen Lebens, markiert schon durch den programmatisch klingenden Anfang des ersten Quartetts, "Das braune Dorf". Im zweiten Quartett erscheinen "braune Jauche" und "Mägde" als dörfliche Bilder. In ersten Terzett wird "eine Schenke" genannt, die denen Zuflucht bietet, die nicht zur Dorfgemeinschaft gehören oder nicht zu "Mann wie Weib". Also jenen, die einem "neutralen" Geschlecht zugehören, könnte man im Blick auf andere Texte Trakls vermuten, hier näher bestimmt als "Einsames". Aufgehoben wird das dörfliche Bild im zweiten Terzett, in einer schwer verständlichen Abstraktheit, benannt als "das Eigne".

Schlicht ließe sich sagen, dass in der letzten Strophe des Gedichtes der einsam "Trunkne" in der Schenke sitzt und als Gefährten nur - aber immerhin - das "Eigne" hat. Bei Hölderlin ("Brot und Wein") ist "ein Eigenes" Ziel der Suche, "so weit es auch ist". Geschützt durch die "Bogen" der Schenke sinnt der Trunkene bei Trakl, offensichtlich im Herbst oder Winter, den Zugvögeln nach. Allgemeiner formuliert haben wir hier ein besonders prägnantes Beispiel der von Trakl häufig gestalteten Stimmung von Endzeit, Abschied, Verfall und Tod vor uns. Wie sehr der Tod dominiert, erfahren wir im ersten Quartett, wo in einer sprachlich bis an die Grenze der Verstehbarkeit angespannten Formulierung "Verstorbene" für "Mann wie Weib" das "Bett bereiten".


    


EIN WINTERABEND
(2. Fassung)

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.




"Ein Winterabend" wurde im Dezember 1913 geschrieben, ein halbes Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der für Informierte - und dazu gehörte Georg Trakl als Angehöriger des intellektuellen Milieus und als Mitarbeiter des österreichischen Heeres - längst absehbar war. Den Text schickte Trakl in einer ersten Fassung am 13.12.1913 an Karl Kraus. Im Begleittext schreibt Trakl von "Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie", in welchen der Text entstanden sei. Es waren die Tage seines letzten Versuches, eine Anstellung zu finden, die er aushalten könnte. Um den 12. Dezember herum erhielt Trakl den ablehnenden Bescheid des Arbeitsministeriums.

Die Motive sind unmittelbar auf das Weihnachtsfest beziehbar, auch wenn der Bezug nicht explizit gemacht wird. Schnee fällt ans Fenster, eine Abendglocke läutet, der Tisch ist bereitet, das Haus wohlbestellt, der "Baum der Gnaden" blüht golden, das Motiv der Wanderschaft wird zweimal angesprochen (und kann hier zunächst bezogen werden auf das Heilige Paar), auf dem Tisch "erglänzt" das biblische "Brot und Wein". In der ersten Fassung des Gedichtes ist noch deutlicher von "Gottes Brot und Wein" die Rede. Das Bild vom "Baum der Gnaden" verbindet das Motiv des Weihnachtsbaumes mit dem Lebensbaum im Paradies. Dass der Baum aus "kühlem Saft" erblüht, verweist zum einen auf den Winter, aber darüber hinaus auch allgemein auf eine Zeit der "Kühle" im übertragenen Sinn.

Die vorweihnachtliche Herbergssuche des Heiligen Paares wird übertragen auf "manche", die "auf der Wanderschaft" sind, wird so zu einem allgemeinen Bild von Außenseitertum. Das Gedicht gilt Menschen, die "auf dunklen Pfaden" unterwegs sind - und damit verlassen wir deutlich den Bereich der christlichen Legende. Trakl nennt Karl Kraus in einem eigenen Widmungsgedicht "Hohepriester der Wahrheit", "zürnenden Magier" und "Krieger". Im Brief vom 13.12.1913 charakterisiert er ihn als Mann, der "wie keiner der Welt ein Beispiel gibt". Ob Trakl hier Kraus auch als "Wanderer" angesprochen sehen möchte, bleibt unklar. Sich selbst hat Trakl häufig mit diesem Bild genannt.





ELIS
(3. Fassung)

1

Vollkommen ist die Stille dieses goldenen Tags.
Unter alten Eichen
Erscheinst du, Elis, ein Ruhender mit runden Augen.

Ihre Bläue spiegelt den Schlummer der Liebenden.
An deinem Mund
Verstummten ihre rosigen Seufzer.

Am Abend zog der Fischer die schweren Netze ein.
Ein guter Hirt
Führt seine Herde am Waldsaum hin.
O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage.

Leise sinkt
An kahlen Mauern des Ölbaums blaue Stille,
Erstirbt eines Greisen dunkler Gesang.

Ein goldener Kahn
Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel.

2

Ein sanftes Glockenspiel tönt in Elis’ Brust
Am Abend,
Da sein Haupt ins schwarze Kissen sinkt.

Ein blaues Wild
Blutet leise im Dornengestrüpp.

Ein brauner Baum steht abgeschieden da;
Seine blauen Früchte fielen von ihm.

Zeichen und Sterne
Versinken leise im Abendweiher.

Hinter dem Hügel ist es Winter geworden.

Blaue Tauben
Trinken nachts den eisigen Schweiß,
Der von Elis’ kristallener Stirne rinnt.

Immer tönt
An schwarzen Mauern Gottes einsamer Wind.



Die Figur des Elis erscheint bei Trakl explizit in zwei Gedichten, neben dem vorliegenden auch in "An den Knaben Elis". Beide Texte hat Trakl in seine Sammlung "Sebastian im Traum" aufgenommen, die erst nach seinem Tod erschien, wobei "Elis" auf "An den Knaben Elis" folgt. Das Gedicht "An den Knaben Elis" verwendete Trakl als ersten Teil zu "Elis" in der 2. Fassung (dreiteilig). Hier vorliegend ist die zweiteilige 3. Fassung von "Elis", in der dieser erste Teil wieder gestrichen wurde.

"An den Knaben Elis" entstand im April 1913 auf der Hohenburg der Familie von Ficker. "Elis" entstand im Mai 1913 in Salzburg. "Elis" kann daher als Fortsetzung von "An den Knaben Elis" gelesen werden und umfasst in der 1. Fassung einen, in der 3. Fassung zwei Teile.

Die Figur des Elis wird in der Forschung zurückgeführt auf die Person des Bergmanns Elis Fröbom, der im 17. Jahrhundert lebte, und dessen Geschichte von  E.T.A. Hoffmann ("Die Bergwerke zu Falun", 1818) und Hugo von Hofmannsthal ("Die Bergwerke zu Falun", 1906) bereits literarisch verarbeitet wurde. Elis Fröbom wurde am Tag seiner Hochzeit bei der Arbeit verschüttet. Jahrzehnte später wurde seine unversehrte Leiche gefunden. Seine zur Greisin gewordene Braut wird mit ihm in Jünglingsgestalt konfrontiert.

Bei Trakl ist diese historische Reminiszenz allerdings kaum zu erkennen. In "Elis" finden wir lediglich den Motivkreis einer goldenen Zeit, in der es kein Sterben zu geben scheint, im ersten Teil. Bestimmungen von Rundheit und Ruhe dominieren, es scheint Herbst zu sein, "goldener Herbst" im Sinne einer konventionellen Idylle. Der zweite Teil bringt dann allerdings die Dominanz von Abend und den Einbruch des Winters. Nach der behüteten "Herde" des ersten Teils wird hier nun ein blutendes Wild ins Bild geführt. Damit wird im übrigen auch die bei Trakl oft unterstellte (und teilweise sicherlich auch skizzierte) Idealisierung eines harmonischen Urzustandes (wie etwa bei Gottfried Benn: "Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären./Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor") verwehrt und zugleich gebrochen wieder aufgerichtet: "Ein blaues Wild/Blutet leise im Dornengestrüpp." Hier ist deutlich die Christus-Ikonographie aufgerufen, das Deutungskonzept vom "Tier als Figuration der Erlösung" in der Literatur um 1900 (Wolfgang Riedel 2005 in "Endogene Bilder" zu Gottfried Benns Lyrik) bekommt einen weiteren Anwendungsbereich im ikonographischen Kontext "Lamm Gottes". Auch angesprochen wird dieser im Trakl-Text mit dem "Ölbaum" in der vierten Strophe.

Es ist durchaus zu erwägen, ob bei Trakl mit "Elis" nicht doch eine mythologische Figur im Hintergrund steht, etwa Helios.  Dafür sprechen die "runden Augen", "alle deine Tage", "ein goldener Kahn" der am Himmel schaukelt, das Versinken am Abend und die "kristallene Stirn" des nächtlichen Elis.

Lektüreempfehlung: Jost Hermand, Der Knabe Elis. Zum Problem der Existenzstufen bei Georg Trakl. 1959




ENTLANG

Geschnitten sind Korn und Traube,
Der Weiler in Herbst und Ruh.
Hammer und Amboß klingt immerzu,
Lachen in purpurner Laube.

Astern von dunklen Zäunen
Bring dem weißen Kind.
Sag wie lang wir gestorben sind;
Sonne will schwarz erscheinen.

Rotes Fischlein im Weiher;
Stirn, die sich fürchtig belauscht;
Abendwind leise ans Fenster rauscht,
Blaues Orgelgeleier.

Stern und heimlich Gefunkel
Läßt noch einmal aufschaun.
Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun;
Schwarze Reseden im Dunkel.




Geschrieben vermutlich im August 1913 in Wien, Trakl hatte sich beruflich wieder einmal in erhebliche Schwierigkeiten gebracht.

Eines der sanglichsten Gedichte Trakls, was unter anderem am melodischen Wechsel von Trochäen und Daktylen liegt. Ein Lied, das nicht gleichförmig durchläuft, sondern uns mit Synkopen dazu zwingt, stets auf der Hut zu sein und aufmerksam seinem eigenartigen Rhythmus zu folgen.

Vor allem in der jeweils zweiten Zeile der Strophen Zwei und Vier werden wir rhythmisch herausgefordert. Dort haben wir mit "Bring dem weißen Kind" und "Läßt noch einmal aufschaun" die einzigen Zeilen ohne (formalen) Daktylus - wobei wir in der vierten Strophe versucht sind, "einmal aufschaun" als Daktylus plus Hebung zu lesen. Dem folgt eine damit formal schon besonders herausgehobene Zeile: "Erscheinung der Mutter in Schmerz und Graun". Diese Zeile hätten wir natürlich auch ohne das vorangegangene metrische Signal als bedeutsam wahrgenommen. Thematisiert sie doch die Mutterfigur, die bei Trakl eine herausragende Rolle spielt und zumeist (wie auch hier) mit stark negativen Gefühlswerten belegt ist.

Der Gedichttitel suggeriert eine Bewegung, die mit der ersten Gedichtzeile als (imaginärer oder realer) Gang durch Felder - an Feldern entlang - deutbar wird. In der vierten und letzten Strophe, die von der Muttererscheinung spricht, geht der Blick vom "entlang" nach oben, zu den Sternen. Die "Mutter" wird damit dem Bereich der Sterne zugeordnet, mit dem Attribut "Schmerz" wird sie als 'Schmerzensmutter' im christlichen Sinne angedeutet.

Es wäre sicherlich verfehlt, hier von einer Marienerscheinung zu sprechen. Die Mutter erscheint "in" Schmerz, womit auch der Beschreibende, Sehende selbst dem Schmerz eingeordnet wird. Was erfahren wir über das Subjekt des Textes? Es spricht in der zweiten Strophe von einem "wir" zu einem Du in der seltsamen Aufforderung "Sag wie lang wir gestorben sind". Dazu kommt als weitere Person ein "weiße(s) Kind", dem das Du "Astern von dunklen Zäunen" bringen solle.

Damit ist eine bizarr anmutende Familienkonstellation von "Kind" und "Mutter" mit zwei weiteren Personen skizziert. Wie wir diese Konstellation deuten können, zeigt die erste Strophe, die von "Hammer und Amboß" spricht und uns damit verweist auf das Gedicht "Die junge Magd". Dort finden wir die Konstellation Knecht-Magd-Kind/Fötus - Magd und Kind sterben wohl gemeinsam noch vor der Entbindung. Wobei dies nicht eindeutig ist, aber doch nahe liegt.





ERMATTEN

Verwesung traumgeschaffner Paradiese
Umweht dies trauervolle, müde Herz,
Das Ekel nur sich trank aus aller Süße,
Und das verblutet in gemeinem Schmerz.

Nun schlägt es nach dem Takt verklungner Tänze
Zu der Verzweiflung trüben Melodien,
Indes der alten Hoffnung Sternenkränze
An längst entgöttertem Altar verblühn.

Vom Rausch der Wohlgerüche und der Weine
Blieb dir ein überwach Gefühl der Scham -
Das Gestern in verzerrtem Widerscheine -
Und dich zermalmt des Alltags grauer Gram.





Baudelaires Essay "Les Paradis artificiels" erschien 1860. Der Text beginnt mit: "Liebe Freundin, der gemeine Verstand sagt uns, dass die Dinge der Erde nur wenig Dasein haben, und dass es Wirklichkeit nur in den Träumen gibt." Die Motivverbindung "Traum" und "Paradiese" finden wir auch bei Trakl wieder. Vor dem Hintergrund, dass Baudelaire, den Trakl gut kannte, in seinem Essay die Bedeutung von Drogenerfahrungen (in einem weiteren Sinne, der auch und von besonderer Bedeutung Wein umfasst) für die Kunstproduktion erörtert, dürfen wir die "Verwesung traumgeschaffner Paradiese" durchaus auch lesen als Nachklang einer Alkohol-/Drogenerfahrung.

Trakl fand dieses Gedicht wohl nicht hinreichend qualitätsvoll. Er hat es lediglich in seine Sammlung von 1909 aufgenommen, die als Summe seiner Lehrzeit als Lyriker aufgefasst werden kann. Dass er die Thematik nicht in einem anderen, späteren Gedicht aufgreift, gebietet Zurückhaltung bei Versuchen, Trakls Lyrik in allzu engen Zusammenhang mit seinem Alkoholkonsum und sonstigen Drogengebrauch zu stellen.

Das Gedicht ist eher balladenhaft-erzählend aufgebaut, jede Strophe enthält eine in sich geschlossene Gestaltung der gleichen Grundstimmung, die etwas plakativ als "Kater" nach einer intensiven Erfahrung bezeichnet werden könnte. Vom expressionistischen Bilderstakkato, jener "heiß errungenen Manier", die Trakl im oft zitierten Brief an Erhard Buschbeck im Juli 1910 erwähnt, ist dieser Text noch weit entfernt. In einem späteren Brief an Erhard Buschbeck, vermutlich Spätherbst 1911, bekennt Trakl sein Bemühen, in der Überarbeitung von Texten "unpersönlich" zu gestalten. Auch vor diesem Qualitätskriterium vermag der Text nicht zu bestehn.

So kann der Text insbesondere als Folie dienen, vor der die Qualität späterer Texte umso prägnanter sich abhebt. Lyrisch ansprechend ist der Text zweifellos. Die Zeile "Das Ekel nur sich trank aus aller Süße" (bezogen auf "Herz" als Subjekt) wird mit Georg Trakl verbunden bleiben.

Lektüreempfehlung: Hans-Georg Kemper: Droge Trakl. Rauschträume und Poesie. 2014






FÖHN

Blinde Klage im Wind, mondene Wintertage,
Kindheit, leise verhallen die Schritte an schwarzer Hecke,
Langes Abendgeläut.
Leise kommt die weiße Nacht gezogen,

Verwandelt in purpurne Träume Schmerz und Plage
Des steinigen Lebens,
Daß nimmer der dornige Stachel ablasse vom verwesenden Leib.

Tief im Schlummer aufseufzt die bange Seele,

Tief der Wind in zerbrochenen Bäumen,
Und es schwankt die Klagegestalt
Der Mutter durch den einsamen Wald

Dieser schweigenden Trauer; Nächte,
Erfüllt von Tränen, feurigen Engeln.
Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe.



Wieder einmal werden wir mit einem konkreten Phänomen aus der unmittelbaren Lebenswirklichkeit Trakls konfrontiert, hier mit dem Naturphänomen Föhn, das in Salzburg und vor allem in Innsbruck gehäuft auftritt. Der Text ist vermutlich Anfang 1914 in Innsbruck entstanden.

Als Naturbild gehört "Föhn" in den Kontext von "Gewitter" und "Sturm". Bei Trakl ist der Föhn verbunden mit Bildern von Stille. Nur der "Wind in zerbrochenen Bäumen" deutet auf den realen naturhaften Kontext hin. Ansonsten spricht der Text von stiller Klage, Trauer, Schweigen - also von kulturell-menschlichen Gehalten.

Es ist Winter, da bedeutet Föhn konkret Tauwetter. Bemerkenswerterweise findet sich dies als Thema durchaus im Gedicht wieder, übertragen in den menschlichen Bildbereich von Klage und Schmerz. Die "weiße Nacht" verwandelt "Schmerz und Plage/ Des steinigen Lebens" in "purpurne Träume", die den "verwesenden Leib" noch Schmerzen empfinden lassen, die Versteinerung also in Empfindung lösen. Die "bange Seele" seufzt auf, vom Föhnwind erweckt. Und dies wird gestaltet in der zentralen Zeile des klar mittig-symmetrisch, zweiteilig gestalteten Gedichtes.

Sehen wir den zweiten Teil des Gedichtes, das Spiegelbild also gleichsam, als Thematisierung der Traumbilder, bekommt er einen begreiflichen Sinn. Die - nur halb erwachte - Seele sieht nun die Mutter, sieht Engel, sieht das zerschellende "kindlich Gerippe". Und damit die verborgene Seite dessen, was im ersten Teil des Gedichtes als "Kindheit" angedeutet wird.

Trotz der "blinde(n) Klage" in der ersten Strophe lässt der erste Teil des Gedichtes die Möglichkeit einer Erlösung der "Seele" vom "verwesenden Leib" offen. Im zweiten Teil wird diese Hoffnung gründlich destruiert. Die Mutter erscheint als "Klagegestalt", Engel werden mit Attributen der Hölle gezeichnet, "feurig()". Doch das Gerippe zerschellt "silbern" und es gibt die vage Möglichkeit, dass damit doch ein Freiwerden von Seelischem angedeutet wird.

Denn erinnern wir uns: Silbern ist für Trakl - in einer charakteristischen Verbindung von Farbe und Klang - wohl verbunden mit dem theosophischen Lehrgebäude. Danach ist der menschliche Leib auch als Harfe zu begreifen, die mit zwei Saitensätzen bespannt ist, einem "tierischen" aus Darm und einem spirituellen aus Silber.






FRAUENSEGEN

Schreitest unter deinen Frau'n
Und du lächelst oft beklommen:
Sind so bange Tage kommen.
Weiß verblüht der Mohn am Zaun.

Wie dein Leib so schön geschwellt
Golden reift der Wein am Hügel.
Ferne glänzt des Weihers Spiegel
Und die Sense klirrt im Feld.

In den Büschen rollt der Tau,
Rot die Blätter niederfließen.
Seine liebe Frau zu grüßen
Naht ein Mohr dir braun und rauh.




Das Sujet scheint klar, wird im Titel angedeutet und im Text ausgeführt: Schwangerschaft. Entstanden ist der Text im Juni 1910, zu Lebzeiten Trakls veröffentlicht im Band "Gedichte".

Wie zahlreiche Texte dieser Zeit ist auch "Frauensegen" volksliedhaft gestaltet, mit umarmenden Reimen in drei vierzeiligen Strophen. Inhaltlich und in der sprachlichen Gestaltung evoziert das Gedicht ein Gemälde, mit klarer Gliederung in Vordergrund und Hintergrund. Es wird zwar eine Bewegung angesprochen, doch könnten wir uns diese durchaus gemalt vorstellen. Erheblicher ist der Einwand, dass eine Iteration genannt wird mit "oft beklommen".

In der ersten Strophe wird eine Frau eingeführt und als "du" angesprochen, für die "bange Tage" gekommen seien, die wir prima vista als Tage einer fortgeschrittenen Schwangerschaft verstehen können. Die zweite Strophe zeigt einen Vergleich, den Trakl häufig anstellt, zwischen menschlicher Schwangerschaft und Reifung in der Landwirtschaft. Eine Parallelstelle gibt es etwa in "Die Raben", einem in zeitlicher Nähe entstandenen Text. Die Schwangerschaft wird dabei als naturhaft und zunächst fast idyllisch vorgestellt, mit der Formulierung "schön geschwellt" und dem Vergleich mit "golden" reifendem Wein.

Doch der Reim verweist auf eine weniger idyllische Tiefenebene des Gedichtes, denn auf "schön geschwellt" antwortet "klirrt im Feld" - und es ist eine Sense, die da "klirrt". Ein höchst ambivalentes Bild, das einerseits die Fülle der Ernte andeutet, aber auch den "Sensenmann", die Vergänglichkeit, die schon in der ersten Strophe angesprochen wird mit "Weiß verblüht der Mohn am Zaun" als möglicher Motivation der "bangen Tage". Und auch diesem weiß verblühenden Mohn dürfen wir nicht einfach trauen. Selbst wenn Mohn im Verblühen verblasst: Weiß wird er dabei nicht wirklich, sondern lediglich blassrot. Weiß dagegen ist der Milchsaft der Kapseln und sind die Rauschdrogen, die aus Schlafmohn gewonnen werden und mit denen Trakl als Apotheker sowie Drogenkonsument vertraut war.

Die dritte Strophe weckt weitere Zweifel, wie wir den im Titel angesprochenen "Segen" denn verstehen sollen. Die Frau wird nun "liebe Frau" genannt, was die Marienrhetorik anklingen lässt. Ihr naht sich "ein Mohr" und dieser korrespondiert bildlich und in der formalen Stellung im Gedicht als "braun" dem weiß verblühenden Mohn. In "Verklärung" schreibt Trakl die Zeile "Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang" - mehr Hilfe zum Verständnis dieser Stelle in "Frauensegen" bietet er uns nicht in seinem Werk. Den "Mohr" als einen der drei Sterndeuter/Könige zu deuten, die den neugeborenen Christus in Bethlehem aufsuchen, halte ich für wenig überzeugend.






FRÜHLING DER SEELE II

Aufschrei im Schlaf; durch schwarze Gassen stürzt der Wind,
Das Blau des Frühlings winkt durch brechendes Geäst,
Purpurner Nachttau und es erlöschen rings die Sterne.
Grünlich dämmert der Fluß, silbern die alten Alleen
Und die Türme der Stadt. O sanfte Trunkenheit
Im gleitenden Kahn und die dunklen Rufe der Amsel
In kindlichen Gärten. Schon lichtet sich der rosige Flor.

Feierlich rauschen die Wasser. O die feuchten Schatten der Au,
Das schreitende Tier; Grünendes, Blütengezweig
Rührt die kristallene Stirne; schimmernder Schaukelkahn.
Leise tönt die Sonne im Rosengewölk am Hügel.
Groß ist die Stille des Tannenwalds, die ernsten Schatten am Fluß.

Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes,
Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht
Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.

Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung
Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers;
Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn.
Gewaltiges Sterben und die singende Flamme im Herzen.

Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische.
Stunde der Trauer, Schweigender Anblick der Sonne;
Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden. Geistlich dämmert
Bläue über dem verhauenen Wald und es läutet
Lange eine dunkle Glocke im Dorf; friedlich Geleit.
Stille blüht die Myrthe über den weißen Lidern des Toten.

Leise tönen die Wasser im sinkenden Nachmittag
Und es grünet dunkler die Wildnis am Ufer, Freude im rosigen Wind;

Der sanfte Gesang des Bruders am Abendhügel.



Der Frühling beginnt mit einem "Aufschrei im Schlaf", im Schlaf des Winters, im Winterschlaf? Ein erster Föhnsturm jagt durch die Gassen und taut den Schnee, das Bild könnte der Wirklichkeit entnommen sein. Auch das "brechende Geäst" fügt sich dazu, die Schneelast wird feucht und schwer, zu schwer für manche Zweige und Äste.

Doch dann verschiebt sich das Bild, vom tauenden Schnee, den wir selbst imaginiert haben, kommen wir zum "Nachttau", mit einer Farbe gezeichnet, die bei Trakl häufig wiederkehrt und die mit den Bildbereichen von Verfall, Untergang und "Seuche" ("An die Verstummten") verbunden ist. "Purpur" sei der Nachttau, was sich nur mühsam mit dem "Blau des Frühlings" aus der Zeile davor verbinden lässt. Allerdings, wenn wir einmal das Experiment fortsetzen und ein konkretes Wirklichkeitsbild fortschreiben, sind Föhnstürme mit rasch wechselnden Wolken- und Lichtverhältnissen verbunden, das Bild bleibt weiterhin stimmig. Und das Erlöschen der Sterne kann mit der Morgendämmerung verbunden werden. Trakl selbst gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass wir uns nicht scheuen sollten, hier ein Wirklichkeitsbild zu lesen, wobei wir zunächst an ein Salzburger Wirklichkeitsbild denken, der Fluß (die Salzach?) wird genannt, "alte Alleen", vor allem aber "die Türme der Stadt". Und da sollen wir dann stutzen. Salzburg als eine Stadt der Türme? Gewiss, es gab und gibt in Salzburg zahlreiche Kirchtürme. Aber prägend für die Silhouette ist die wuchtige Masse des Doms, sind Kuppeln und mächtige Kirchenschiffe, weniger die Türme.

Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Textes informiert uns, dass Trakl ihn vermutlich Anfang 1914 in Innsbruck geschrieben hat. Dort ist der Föhn auch weit heftiger spürbar als in Salzburg. Von dort also könnten die Bilder der ersten Strophe stammen. Aber ist das von Bedeutung, Salzburg oder Innsbruck? Mir scheint von Bedeutung, dass wir konkrete, von Trakl erfahrene Wirklichkeit hier wiederfinden - unabhängig davon, um welche Stadt es sich "wirklich" handelt. Denn natürlich "geht es" Trakl in diesem Text um etwas anderes, der Text ist auch nicht "Innsbruck" oder "Salzburg" überschrieben, sondern "Frühling der Seele".

Die "Seele" meldet sich dann in der zweiten Strophe entschieden zu Wort, mit wertenden Adjektiven wie "feierlich", mit Ausrufen, die in der nachfolgenden Strophe fortgesetzt werden ("O", "Reinheit! Reinheit!"), mit Bildern, die nicht mehr sinnvoll auf konkrete Wirklichkeiten bezogen werden können, wie "das schreitende Tier" oder "die kristallene Stirne". Weiterhin allerdings bleibt das konkrete Bild eines Frühlingsmorgens präsent, das "Rosengewölk am Hügel" dürfte von der ersten Morgensonne gefärbt sein (in der ersten Strophe "lichtet sich der rosige Flor"). Auch der "schimmernde Schaukelkahn" sollte nicht vorschnell symbolisch überdeutet werden, es kann sich um einen der damals gebräuchlichen Innkähne handeln. Was uns allerdings nicht verbietet, die dritte Zeile der zweiten Strophe auch zu lesen als "schimmernder Schaukelkahn rührt die kristallene Stirne", trotz des trennenden Semikolons. Womit wir die konkrete Wirklichkeit unmittelbar verwandelt finden in die Wirklichkeit des Gedichtes. Die "kristallene Stirne" kennen wir auch aus dem Gedicht "Elis", eine ähnliche Bildung ist "scheeige Stirne", die Trakl im Prosatext "Offenbarung und Untergang" verwendet. In "De Profundis" finden wir "kristallene Engel" und in "An Novalis" die Wendung "ruhend in kristallner Erde". Literaturhistorisch oder intertextuell können diese Bildungen auf Rimbaud bezogen werden, der von "disques de cristal" und "un joli rire de cristal" spricht. Auch auf Baudelaire, der das "bleu cristal du matin" geprägt hat und in dessen Werk auch ansonsten das Bild "cristal" sich häufig findet.

"Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes" mutet dann an wie ein Protest gegen die versöhnlichen Wirklichkeitsbilder, mit denen das Gedicht anhebt. Als verberge die Idylle eines Frühlingsmorgens am Fluss schreckliche Wahrheiten, die das Gedicht nun anspricht. Ohne dass wir allerdings erfahren würden, wer die "friedlosen Schatten" sind oder was das "graue steinerne Schweigen" verbirgt. "Strahlender Sonnenabgrund" mag als eine großartige Erfindung erscheinen, die gegen Postkartenidyllen von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen eine andere Wahrheit reklamiert, die Wahrheit von Kriegen und Verbrechen, für gegenwärtige Zeiten auch die Wahrheit von Klimaveränderungen und Klimakatastrophen, ob menschengeschaffen oder durch Schwankungen kosmischer Natur verursacht. Es bleibt allerdings auch Ratlosigkeit angesichts dieser leuchtkräftigen Formulierung. Ist es nur Blendwerk?






GEBURT

Gebirge: Schwärze, Schweigen und Schnee.
Rot vom Wald niedersteigt die Jagd;
O, die moosigen Blicke des Wilds.

Stille der Mutter; unter schwarzen Tannen
Öffnen sich die schlafenden Hände,
Wenn verfallen der kalte Mond erscheint.

O, die Geburt des Menschen. Nächtlich rauscht
Blaues Wasser im Felsengrund;
Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel,

Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube.
Zwei Monde
Erglänzen die Augen der steinernen Greisin.

Weh, der Gebärenden Schrei. Mit schwarzem Flügel
Rührt die Knabenschläfe die Nacht,
Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt.



In einer Notiz mit dem Titel "Geburt" schreibt Trakl "Gang mit dem Vater, Gang mit der Mutter". Im Gedicht gleichen Titels finden wir in der zweiten Strophe die "Stille der Mutter". Lesen wir, davon ermutigt, die Notiz als Interpretationshilfe, so können wir die erste Strophe dem Vater zuordnen mit den Bildern "Gebirge", "Jagd" und "Wild", die zweite der Mutter mit den Bildern "Stille der Mutter", "Hände", "Mond". Der "Vater" stünde, dem tradierten Bild entsprechend, wie es etwa im "hieros gamos" gestaltet wird, oben ("Gebirge") und geht nach unten ("niedersteigt die Jagd"). Unten, "unter schwarzen Tannen", ist der Ort der "Mutter", wo "schlafende Hände" sich öffnen.

Dazu fügt sich stimmig, dass in der dritten Strophe "die Geburt des Menschen" genannt wird. Diese wird dann über drei Strophen entfaltet in Bildern, die unter einem bei Trakl wiederholt erscheinenden Leitmotiv stehen: "der gefallene Engel".

Die erste dieser drei Strophen, die dritte Strophe des Gedichts, bringt ein Bild, das aus dem Gedicht "Kindheit" bekannt ist, "blaues Wasser", das in einer Felsenumgebung rauscht. Wenn wir dies dem Geborenen zuordnen, können wir, sicherlich nur unter Vorbehalt, die nächste Strophe der Wöchnerin zuordnen, "ein Bleiches in dumpfer Stube". Rätselhaft bleibt die "steinerne Greisin". Gunther Kleefeld sieht hier durchaus auch ein Bild der Mutter, die dem Mond zugeordnet sei (Kleefeld 1985, S. 211).

In der letzten Strophe wird nochmals der Geburtsvorgang eigentümlich zusammengefasst aus vergegenwärtigender Erinnerung, die Gebährende und Geborenen (nun bestimmt als "Knabe") je charakterisiert, die Gebährende über ihren "Schrei", den Geborenen über den "schwarzen Flügel" der Nacht, der ihn zeichenhaft streift, "rührt". Die abschließende Zeile des Gedichtes deutet die Geburt Christi an. Nachdem schon konkretisiert wurde, dass ein "Knabe" geboren wurde, wird mit dem Bild fallenden Schnees die Weihnachtszeit evoziert.






GEISTLICHES LIED

Zeichen, seltne Stickerein
Malt ein flatternd Blumenbeet.
Gottes blauer Odem weht
In den Gartensaal herein,
Heiter ein.
Ragt ein Kreuz im wilden Wein.

Hör' im Dorf sich viele freun,
Gärtner an der Mauer mäht,
Leise eine Orgel geht,
Mischet Klang und goldenen Schein,
Klang und Schein.
Liebe segnet Brot und Wein.

Mädchen kommen auch herein
Und der Hahn zum letzten kräht.
Sacht ein morsches Gitter geht
Und in Rosen Kranz und Reihn,
Rosenreihn
Ruht Maria weiß und fein.

Bettler dort am alten Stein
Scheint verstorben im Gebet,
Sanft ein Hirt vom Hügel geht
Und ein Engel singt im Hain,
Nah im Hain
Kinder in den Schlaf hinein.






Der Titel "Geistliches Lied" ist hier Programm. Zahlreiche religiöse Symbole und Elemente erscheinen, "Kreuz", "Orgel", "Brot und Wein", "Rosen Kranz", "Maria", "Gebet", "Engel". Dass es indes nicht nur um konventionelle Religion geht, macht die Einstiegzeile deutlich, dort ist von "Zeichen, seltne(n) Stickerein" die Rede, die ein Blumenbeet male. Unter engen Kriterien mag dies als "heidnisch" interpretiert werden. "Gottes blauer Odem weht", monotheistisch ist dieser Text wohl angelegt, doch dieser "Gott" könnte auch aus Blumenbeeten sprechen. "Blau" wird hier als die zentrale religiös gefasst Farbe bei Trakl deutlich. Ein Vergleich mit "Die Heimkehr" bestätigt dies auch in einem sehr viel späteren Gedicht Trakls, wo wir finden "Blaue Kühle/ Odmet das nächtige Tal,/ Glaube, Hoffnung!"

Der geistlich-religiöse Rahmen schafft Raum für eine dörflich-ländliche Idylle, mit leisen Klängen, Blumen, mähenden Gärtnern. Es könnte Sonntag sein, obgleich Mäharbeiten an einem Sonntag, zumal in Kirchennähe während einer Messe, eher unwahrscheinlich sind. Aber ein normaler Werktag dürfte es auch nicht sein, denn im Dorf scheint ein Fest im Gange, das Ich des Gedichtes hört "im Dorf sich viele freun".

Müssen wir uns eine reale Situation als lyrisch beschrieben - oder doch zumindest der Beschreibung zugrunde liegend - vorstellen? Oder gestaltet Trakl eine vollkommen autonome, seiner Imagination entspringende Situation? Für beides gibt es Argumente. Unabhängig von eine Entscheidung zu dieser Frage ist auffallend, dass die Schilderung merkwürdige Bruchstellen hat, verborgene Risse. So kräht "der Hahn zum letzten" - das erinnert an den Verrat an Christus. Maria ruht in Rosen "weiß und fein", ist damit ein frisches Begräbnis gemeint? Oder die Mutter Christi, die im Rosenkranzgebet angesprochen wird? Ein Bettler "Scheint verstorben im Gebet". Bilder von Todesnähe und Ende, die fragwürdig machen, wie wir uns die heitere, ausdrücklich liebevolle Situation vorstellen sollen, die in den ersten beiden Strophen entworfen wird.

Auf formaler Ebene auffallend sind die Echo-Effekte, die Trakl in jeder Strophe in einer kurzen fünften Zwischenzeile gestaltet hat. Dies gibt dem "Lied" den Charakter eines Wechselgesanges zwischen Pfarrer und Gemeinde. Inhaltlich werden weitere musikalische Ereignisse angesprochen, das Orgelspiel in der zweiten Strophe, das Lied des Engels in der vierten und letzten.





GESANG EINER GEFANGENEN AMSEL


Dunkler Odem im grünen Gezweig.
Blaue Blümchen umschweben das Antlitz
Des Einsamen, den goldnen Schritt
Ersterbend unter dem Ölbaum.
Aufflattert mit trunkenem Flügel die Nacht.
So leise blutet Demut,
Tau, der langsam tropft vom blühenden Dorn.
Strahlender Arme Erbarmen
Umfängt ein brechendes Herz.




Der Text ist Ludwig von Ficker gewidmet, dem Herausgeber des "Brenner", der Zeitschrift, in der immer wieder Gedichte Trakls erschienen. Ficker war Freund und Förderer Georg Trakls. "Gesang einer gefangenen Amsel" entstand vermutlich in der zweiten Hälfte April 1914 in Innsbruck, wo Ficker lebte und Trakl häufig zu Gast war. Ab Ende April lebte Trakl auf der Hohenburg in der Nähe Innsbrucks bei Rudolf von Ficker, einem Bruder Ludwig von Fickers und Musikhistoriker.

Das Motiv der Amsel erscheint in vielen der Texte Trakls, darüber hinaus aber auch in der Literatur der Zeit. Robert Musils Erzählung "Die Amsel", in der er auch eine Erfahrung aus dem ersten Weltkrieg verarbeitet, sei stellvertretend genannt.

Amseln sind kulturgeschichtlich zum einen ihres ausgesprochen melodiösen Gesanges wegen bedeutsam geworden, zum anderen aber auch aufgrund ihrer extremen Gefiederfarbe, einem Schwarzblau, das sonst in unseren Breiten nur noch bei Vögeln auftaucht, die nicht mit diesem musikalischen Vermögen ausgestattet sind, und das gerade an Vögeln mit Magie, Zauberei in Verbindung gebracht wurde. Amseln wurden auch bis ins 20. Jahrhundert hinein als Hausvögel gehalten. Sie sind ursprünglich Waldbewohner und bevorzugen halbdunkle Nistplätze in immergrünem Gezweig.

Uns begegnet in diesem Gedicht wieder der "Einsame", wie in "Stunde des Grams" verbunden mit "Schritt" (eine ähnliche Motivlage auch in "Ein Herbstabend" - dort "Schreiten"). Der Schritt ist nun "golden", nicht "schwärzlich". Dazu taucht die Farbe Blau auf, womit wir im Umkreis religiöser Malerei sind, konkret der Marienikonographie. Mit dem Bild des Ölbaums verbunden wird die Leidensgeschichte Jesu evoziert, was sich auch fügt zu "Demut" und "tropft vom blühenden Dorn".

Das Bild der Amsel kehrt kaum erkennbar wieder im Bild der Nacht, die "aufflattert mit trunkenem Flügel". Das Motiv des Gesangs aus dem Gedichttitel findet sich im Gedicht selbst nicht wieder, ganz entfernt haben "Odem" und "leise blutet Demut" einen Bezug dazu. Doch Titel wie Gedicht selbst bleiben rätselhaft, auch wenn Motive und Ton vom sonstigen Schaffen Trakls her vertraut sind. Ein biographischer Anlass durch die Unterbringung bei Rudolf von Ficker, dem Musikhistoriker, ist denkbar.

Anton von Webern (1919) und Felix Wolfes (1965) haben den Text vertont.






GRODEK
(2. Fassung)


Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.


"Grodek" gehört zu den am häufigsten interpretierten Texten Georg Trakls, was unter anderem daran liegen dürfte, dass das Gedicht seine Interpretation vermeintlich schon im Titel trägt, der eine Schlacht vom Anfang des ersten Weltkrieges benennt, an der Trakl als Lazarettsoldat beteiligt war.

Grodek liegt in Ostgalizien, in der heutigen Ukraine. Die Schlacht zwischen österreichischen und russischen Truppen Anfang September 1914 in der Nähe der Stadt, Teil der Schlacht um Lemberg, endete für das österreichische Heer in einer äußerst verlustreichen Niederlage. Trakl musste dabei als Militärapotheker Schwerverwundete betreuen, ohne ausreichende Medikamente zur Narkotisierung bei Operationen.

Trakl schrieb die 2. Fassung des Textes kurz vor seinem Tod, zwischen dem 25. und dem 27. Oktober 1914 im Garnisonsspital Krakau, wohin er am 7. Oktober wegen eines Nervenzusammenbruchs und verschiedener psychischer Störungen zur Beobachtung eingewiesen worden war. Eine erste Fassung vom September 1914, die er seinem Freund und Gönner Ludwig von Ficker bei einem Spitalbesuch (24./25. Oktober) vorlas, ist nicht erhalten. Darin war das Thema der "ungebornen Enkel" laut einem Bericht Fickers "etwas breiter angelegt", um zwei bis drei Verse/Zeilen.

Das Gedicht beginnt mit zwei Bildern, die Trakl häufig an exponierter Stelle gestaltet, "Abend" und "Herbst". Ausgeführt wird dann der Übergang zur Nacht. Das Folgemotiv "Winter" klingt an in "mondne Kühle", aber auch im Motivkomplex um "Sterbende Krieger"  und "schwarze Verwesung".

Die Situation einer zerbrechenden Wirklichkeit, eines grauenvollen Leidens ohne erkennbaren Sinn, wird von Trakl in bestürzender sprachlicher Souveränität gestaltet. Das auf den ersten Blick unvermittelt anhebende "umfängt die Nacht" ist als weiterer Anschluss an "Am Abend" zu lesen. Darin eingeschlossen fügen sich "die goldenen Ebenen" zu "Am Abend tönen". Damit erzeugt Trakl den seine Lyrik auszeichnenden Reihungscharakter, der vermeintlich isolierte, unvermittelte Bruchstücke einem komplexen Zusammenhang einfügt. Eine Versfolge wie "Doch stille sammelt im Weidengrund/Das vergoßne Blut sich" wäre unsäglich. Doch mit dem eingeschobenen "Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt" wird der Satz in all seiner Entsetzlichkeit sagbar.

Das Gedicht schafft damit noch keinen einlösbaren, versöhnenden Sinn - vermittelt aber doch die Erfahrung, es könne einen Sinn geben, oder zumindest ein Weiter auch nach diesem schrecklichen Geschehen. Ein "Weiter", das ohne vorschnelles Versprechen hingestellt wird im Bild der "ungebornen Enkel". Wobei offen bleibt, ob mit dem Tod der "Krieger" nicht die Generationenfolge insgesamt unterbrochen wird, es also keine "Enkel" mehr geben kann. Was indes dauert, ist die "heiße Flamme des Geistes". Ein prekäres Dauern, wird es doch genährt von "Schmerz". Im Gedicht "An Luzifer" (den "Lichtbringer" also) heißt es in der 3. Fassung (nach dem 15. Februar 1914): "Dem Geist leih deine Flamme, glühende Schwermut".

Weitere Hinweise auf Trakls Verhältnis zum Krieg finden Sie auf meiner Seite mit Essays zu Trakls Werk und Leben.

Lektüreempfehlung: Walter Höllerer, Georg Trakl. Grodek, in: Die deutsche Lyrik, hrsg. von Benno von Wiese, Düsseldorf 1956, S. 419-424


     



HEITERER FRÜHLING
(2. Fassung)

1

Am Bach, der durch das gelbe Brachfeld fließt,
Zieht noch das dürre Rohr vom vorigen Jahr.
Durchs Graue gleiten Klänge wunderbar,
Vorüberweht ein Hauch von warmem Mist.

An Weiden baumeln Kätzchen sacht im Wind,
Sein traurig Lied singt träumend ein Soldat.
Ein Wiesenstreifen saust verweht und matt,
Ein Kind steht in Konturen weich und lind.

Die Birken dort, der schwarze Dornenstrauch,
Auch fliehn im Rauch Gestalten aufgelöst.
Hell Grünes blüht und anderes verwest
Und Kröten schliefen durch den jungen Lauch.


2

Dich lieb ich treu du derbe Wäscherin.
Noch trägt die Flut des Himmels goldene Last.
Ein Fischlein blitzt vorüber und verblaßt;
Ein wächsern Antlitz fließt durch Erlen hin.

In Gärten sinken Glocken lang und leis
Ein kleiner Vogel trällert wie verrückt.
Das sanfte Korn schwillt leise und verzückt
Und Bienen sammeln noch mit ernstem Fleiß.

Komm Liebe nun zum müden Arbeitsmann!
In seine Hütte fällt ein lauer Strahl.
Der Wald strömt durch den Abend herb und fahl
Und Knospen knistern heiter dann und wann.


3

Wie scheint doch alles Werdende so krank!
Ein Fieberhauch um einen Weiler kreist;
Doch aus Gezweigen winkt ein sanfter Geist
Und öffnet das Gemüte weit und bang.

Ein blühender Erguß verrinnt sehr sacht
Und Ungebornes pflegt der eignen Ruh.
Die Liebenden blühn ihren Sternen zu
Und süßer fließt ihr Odem durch die Nacht.

So schmerzlich gut und wahrhaft ist, was lebt;
Und leise rührt dich an ein alter Stein:
Wahrlich! Ich werde immer bei euch sein.
O Mund! der durch die Silberweide bebt.




Für mich ist das eines der schönsten Gedichte Trakls, eines auch der wahrhaftigsten - auch wenn es Gründe geben mag, es romantischer Verklärung zu bezichtigen.

Zunächst zum Vorwurf romantischer Verklärung oder biedermeierlicher Idyllisierung, den schon der Titel auf sich ziehen kann. Bei Eduard Mörike ist es ein "blaues Band", was der Frühling "flattern" lässt. Bei Trakl ist es ein "Hauch von warmem Mist". Das gelb blühende "Brachfeld" wird von einem Bach durchflossen, den dürres Schilf vom Vorjahr begleitet. Der Frühling Trakls hier ist vielschichtig, seine Heiterkeit ist gebrochen, sie verleugnet nicht im Blühen den Verfall, beklagt diesen jedoch auch nicht, sondern akzeptiert ihn als Komplement und notwendiges Gegenspiel der Blütezeit. Romantische Verklärung klingt anders! Aber auch der bei Trakl sonst dominierende düstere Ton wird hier wohltuend kontrapunktisch begleitet durch, nun eben: heitere Gelöstheit.

Diese wird auch bildlich in den ungewöhnlichen Figuren, die hier erscheinen, etwa die "derbe Wäscherin", von der wir allerdings nicht wissen, ob es sich um eine Allegorie des Regens, eines Gewitters handelt, oder konkret um ein Waschweib am Bach. Zugemutet wird uns dann zwar auch ein "wächsern Antlitz", das sich im Wasser spiegelt oder gar als ertrunken aus dem Wasser scheint. Doch ein Vogel, zwar "wie verrückt", schwellendes Korn und fleißige Bienen halten dagegen.

Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" erschien 1918. In seinem Essay "Spengler nach dem Untergang" von 1950 zitiert Theodor W. Adorno Trakls Vers "Wie scheint doch alles Werdende so krank" aus dem Gedicht "Heiterer Frühling". Und damit ein Zeugnis des Optimismus in aller Untergangsrhetorik. Bei Goethe in der "Zueignung" zum ersten Teil des "Faust", heißt es "Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,/Umfass euch mit der Liebe holden Schranken".

Trakls "Heiterer Frühling" ist eine gültige Gestaltung dessen, was "Werden" bedeutet. Ist selber beständiges Werden und Vergehen, gestaltet sich mit und in jeder Lektüre neu im Geist jener Dreizahl, die in aller abendländischen Mythologie und darüber hinaus das Werden bedeutet - in Vierzeilern, die der überlieferten Zahl der Vollendung ihren Tribut zollen.





HELIAN

In den einsamen Stunden des Geistes
Ist es schön, in der Sonne zu gehn
An den gelben Mauern des Sommers hin.
Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft
Der Sohn des Pan im grauen Marmor.

Abends auf der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein.
Rötlich glüht der Pfirsich im Laub;
Sanfte Sonate, frohes Lachen.

Schön ist die Stille der Nacht.
Auf dunklem Plan
Begegnen wir uns mit Hirten und weißen Sternen.

Wenn es Herbst geworden ist
Zeigt sich nüchterne Klarheit im Hain.
Besänftigte wandeln wir an roten Mauern hin
Und die runden Augen folgen dem Flug der Vögel.
Am Abend sinkt das weiße Wasser in Graburnen.

In kahlen Gezweigen feiert der Himmel.
In reinen Händen trägt der Landmann Brot und Wein
Und friedlich reifen die Früchte in sonniger Kammer.

O wie ernst ist das Antlitz der teueren Toten.
Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun.

(... weiter zum ganzen Text)



"Einen Abzug des Helian werde ich Dir in den nächsten Tagen schicken. Er ist mir das teuerste und schmerzlichste, was ich je geschrieben." So heißt es in einem Brief Trakls an Erhard Buschbeck aus Innsbruck vom Januar 1913.

Der Text ist von epischer Länge und darf auch als Epos, als eine moderne Variante des Heldenepos gelten. Darauf verweist schon der mythologisierende Titelname, der an Verlains "der arme Lelian" erinnert. Es klingt auch "Heliand" an, eine altdeutsche Bezeichnung für "Heiland", sowie "Helios", der griechische Sonnengott. Inhaltlich fallen Bezüge zu Hölderlin auf, der auch sonst in Trakls Werk unübersehbar präsent ist. Insbesondere zu "Wie wenn am Feiertage ..." und "Brot und Wein" bestehen starke bildliche, aber auch strukturelle Bezüge. Bei Hölderlin verschmelzen in "Brot und Wein" Christus und Dionysos, hier bei Trakl fällt es schwer, eine deutliche mythologische Kontur zu erkennen. "Der Sohn des Pan" wird genannt, auf Christus verweisen unter anderem "Hirten und weiße Sterne", "Kidron" sowie "Ersterbend neigt sich das Haupt im Dunkel des Ölbaums".

Dazu sind Figuren gesellt, die teilweise der Biographie Trakls zu entstammen scheinen, wie ein "junger Novize", "die Schwestern", der "Knabe" und "der heilige Bruder". Menschheitsgeschichtliche Themen klingen an von Kulturaufbau und Niedergang, von Kindheit, Krankheit und Tod, von Erotik und Gewalt, von archaischem Hirtentum, Landwirtschaft und diffus bleibender Zerstörung. In Abrissen erscheint Religionsgeschichte mit antiken und mittelalterlich-christlichen Themen.

Im Überblick entsteht der Eindruck, Trakl habe hier die eigene Lebensgeschichte als Mythos gestaltet, verschmolzen mit der Menschheitsgeschichte, die in Bildern aus den antiken Mythen, christlicher Heilsgeschichte und neuzeitlicher "Gottlosigkeit" entworfen wird.

Wäre von Trakls Werk nur dieser eine Text überliefert geblieben, hätten wir doch wesentliche Züge des Gesamtwerkes kennengelernt, seiner Bilder, Figuren und Szenen. Ein Trakl-Wörterbuch findet fast seinen gesamten Wortschatz hier im "Helian" versammelt. Und eine Interpretation dieses Textes wäre wohl zugleich Interpretation des Traklschen Werkes. Von Martin Heidegger stammt die Auffassung, Trakls Werk sei ein einziges Gedicht (in "Die Sprache im Gedicht", 1952).






HERBSTSEELE
(2. Fassung)

Jägerruf und Blutgebell;
Hinter Kreuz und braunem Hügel
Blindet sacht der Weiherspiegel,
Schreit der Habicht hart und hell.

Über Stoppelfeld und Pfad
Banget schon ein schwarzes Schweigen;
Reiner Himmel in den Zweigen;
Nur der Bach rinnt still und stad.

Bald entgleitet Fisch und Wild.
Blaue Seele, dunkles Wandern
Schied uns bald von Lieben, Andern.
Abend wechselt Sinn und Bild.

Rechten Lebens Brot und Wein,
Gott in deine milden Hände
Legt der Mensch das dunkle Ende,
Alle Schuld und rote Pein.




"Herbst" ist ein zentrales Bild im Traklschen Werk. "Seele" erscheint gleichfalls häufig, etwa in den Titeln "Allerseelen", "Nachtseele", "Seele des Lebens", "Frühling der Seele" und vor allem in den Texten selbst. Bemerkenswert ist, dass Trakl die beiden (neben "Abend") sein Werk prägenden Zeitbestimmungen "Nacht" und "Herbst" in Titelkomposita mit "Seele" gemeinsam einsetzt. "Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" heißt es in "Frühling der Seele" - daher wohl können Nacht und Herbst als in besonderer Weise der Seele zugehörige Zeiten gelten, Zeiten, in denen das "Fremde" für sich ist, sich zurückzieht.

"Blaue Seele (...) Schied uns bald von Lieben, Andern" heißt es in der dritten Strophe, in der einzigen Passage, die "Seele" im Gedicht selbst nennt. Es ist die als "blau" charakterisierte Seele, die das "Wir" von den Anderen scheidet, ihnen fremd macht. Die Farbe Blau steht hier für einen Zustand der Reinheit und der Absonderung, zugleich für eine Hoffnung, die in diesem Gedicht explizite artikuliert wird, der Hoffnung auf Erlösung von "Schuld und rote(r) Pein" in der Vereinigung mit Gott. Dieser Ton ist selten bei Trakl, zumindest in diesem ungebrochenen Vertrauen auf ein "rechtes Leben".

Der Text entstand August/September 1913, in einer Zeit intensiver persönlicher Kontakte Trakls, im August war er mit Karl Kraus, Adolf Loos und Bessie Bruce in Venedig, im September in Wien unter Freunden. Das war durchaus mit Ängsten verbunden, wie ein Brief vom 14. August bezeugt. Das "dunkle Wandern", aber auch Hoffnung, insbesondere verbunden mit seiner literarischen Arbeit, finden wir in einem Brief von Ende Oktober 1913 an Franz Zeis, mit dem er in Wien zusammen war: "So habe ich diese Wochen zur Arbeit genutzt und es ist einiges entstanden, mit dem ich ein wenig  zufrieden sein kann. Mein Leben wäre ohne diese Stunden des Überströmens und der Freude sonst allzu dunkel."

Und etwas von diesem "Überströmen" finden wir auch in "Herbstseele" wieder. Die letzte Strophe steht weitgehend singulär im Traklschen Werk mit ihrem versöhnlichen Preis der christlichen und zugleich auch antik-heidnisch anmutenden Symbole "Brot und Wein".





HOHENBURG
(2. Fassung)

Es ist niemand im Haus. Herbst in Zimmern;
Mondeshelle Sonate
Und das Erwachen am Saum des dämmernden Walds.

Immer denkst du das weiße Antlitz des Menschen
Ferne dem Getümmel der Zeit;
Über ein Träumendes neigt sich gerne grünes Gezweig,

Kreuz und Abend;
Umfängt den Tönenden mit purpurnen Armen sein Stern,
Der zu unbewohnten Fenstern hinaufsteigt.

Also zittert im Dunkel der Fremdling,
Da er leise die Lider über ein Menschliches aufhebt,
Das ferne ist; die Silberstimme des Windes im Hausflur.



Der Titel bezieht sich auf die Villa Hohenburg in der Nähe von Innsbruck. Sie gehörte Rudolf von Ficker - Bruder des Trakl-Freundes Ludwig von Ficker. Übernommen hatte sie dieser vom Vater der beiden, Julius von Ficker, der als Historiker zunächst in Bonn lehrte, dann einen Ruf nach Innsbruck annahm und 1885 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. In der Hohenburg, auch Schloss Hohenburg genannt, war Trakl 1913 wohl mehrmals zu Gast. Entstanden ist der Text September/Oktober 1913 in Innsbruck.

Ein autobiographischer Bezug darf angenommen werden. Es ist bekannt, dass Trakl häufiger - vor allem nach starkem Alkoholkonsum - im Freien übernachtete. So darf das "Erwachen am Saum des dämmernden Waldes" durchaus wörtlich genommen werden. Auch "Mondeshelle Sonate" kann auf den biographischen Hintergrund bezogen werden, denn Rudolf von Ficker war Musikhistoriker. Womit der Gehalt der ersten Strophe natürlich keineswegs hinreichend erfasst ist.

Die zentralen Bilder, "Herbst" und "dämmernder Wald", deuten auf bei Trakl häufige Zeitbestimmungen hin. "Es ist niemand im Haus" kennen wir aus dem Traklschen Werk auch in anderen Umschreibungen, etwa als "verlassene Zimmer" oder "einsame Zimmer". In "Psalm" heißt es "Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten".

Gänzlich den Kontext der Villa Hohenburg verlassen die Bilder der folgenden Strophen, die zu Gestaltungen finden, die unverwechselbar für das Werk Trakls stehen, wie "das weiße Antlitz des Menschen" und "Kreuz und Abend". Erst die letzte Zeile des Gedichtes führt uns zurück in den Kontext des Titels, "die Silberstimme des Windes im Hausflur" wird genannt. "Sebastian im Traum" kennt die "Silberstimme der Sterne".

Ist der Titel des Gedichtes lediglich eine Homage an einen geschätzten Gastgeber, an die für Trakl so wichtige Familie von Ficker insgesamt? Oder die Benennung eines Ortes, der ihn in besonderer Weise sein Eigenes erfahren ließ? Rilkes Aufenthalte auf dem Schloss Duino klingen an - als literaturhistorische Analogie, nicht als mögliche Referenz Trakls.





IM OSTEN

Den wilden Orgeln des Wintersturms
Gleicht des Volkes finstrer Zorn,
Die purpurne Woge der Schlacht,
Entlaubter Sterne.

Mit zerbrochnen Brauen, silbernen Armen
Winkt sterbenden Soldaten die Nacht.
Im Schatten der herbstlichen Esche
Seufzen die Geister der Erschlagenen.

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Nach Ludwig von Ficker ist das Gedicht im August 1914 entstanden, vermutlich noch in Innsbruck. Trakl reiste am 24. August mit einem Militärtransporter von Innsbruck ab zum Einsatz im Ersten Weltkrieg. Ficker veröffentlichte das Gedicht nach Trakls Tod im "Brenner", Jahrbuch 1915, erschienen im Frühjahr, unter "Georg Trakl: Die letzten Gedichte". Und dies mit der Angabe "August 1914".

Der Text legt eher nahe, dass Trakl hier bereits Erfahrungen von der Front verarbeitete. Allerdings wurde Trakl erst Anfang September mit dem Kriegsgeschehen unmittelbar konfrontiert (Grodek 06.-11.09.1914). Datierte von Ficker den Text auf "August 1914" um den Mythos von den visionären Gaben Trakls zu stützen?

Betrachen wir das Gedicht ganz abgelöst von möglichen biographischen Bezügen, fällt die Einengung des im Text genannten Kontextes "Krieg" ("Schlacht", "Soldaten") auf die geographische Bestimmung "Im Osten" durch die Titelgebung auf. Am 6. August hatte Kaiser Wilhelm der II. in Berlin seine Rede "An das deutsche Volk" von der Feindschaft "von Ost und West" gesprochen. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien hatte das Deutsche Reich zunächst Russland den Krieg erklärt. Der "Feind" wurde aus deutscher Sicht in Ost und West gleichermaßen gesehen, aus österreichischer Sicht dominierte der "Osten".

Vor diesem Hintergrund wirkt das Gedicht befremdlich allgemein, unpolitisch in seiner pathetischen Aufrufung von Naturbildern ("Wintersturm") und mythologischen Kriegsbildern ("des Volkes finstrer Zorn"). Gestalten die ersten beiden Strophen dabei ansatzweise noch konkrete Bezüge wie "Schlacht" und "Soldaten", geht die dritte und letzte Strophe über zu Bildern, die jeden historischen, sozialen und politischen Bezug verlassen. Die "Stadt" ist umgeben von "dorniger Wildnis", der "Mond" jagt "erschrockene Frauen"  und "Wilde Wölfe", nicht Soldaten brechen durchs Tor.

Die besonderen Umstände für die Entstehung des Gedichtes relativieren allerdings solche Kritik. Auch dürfte ein Bild wie "Wilde Wölfe" vor Trakls eigener kritischen Sicht auf seine Produktionen kaum bestanden haben. Doch für eine solche Sicht blieb ihm nicht mehr die Zeit.

Wir sollten an diesem Text auch den Versuch respektieren, das Unsagbare eines Krieges in Bilder zu fassen, die der Gefahr vorschnellen Verstandenwerdens entgehen. Mit welcher Kunstfertigkeit dies hier geleistet wird, zeigt etwa die Apposition "Entlaubter Sterne" zu "Schlacht" (*purpurne Woge entlaubter Sterne*), die wir zugleich verstehen müssen als Genitivattribut zu "Schlacht" (*Schlacht entlaubter Sterne*).






IM PARK


Wieder wandelnd im alten Park,
O! Stille gelb und roter Blumen.
Ihr auch trauert, ihr sanften Götter,
Und das herbstliche Gold der Ulme.
Reglos ragt am bläulichen Weiher
Das Rohr, verstummt am Abend die Drossel.
O! dann neige auch du die Stirne
Vor der Ahnen verfallenem Marmor.


Ein unscheinbarer Text, der von Trakl gleichwohl in die Sammlung "Sebastian im Traum" aufgenommen wurde - und dies als Einleitungstext der Abteilung "Der Herbst des Einsamen". Damit gewinnt der Text gleichsam programmatische Bedeutung.

Dies wird unterstrichen durch den beziehungsreich anknüpfenden Auftakt mit der Zeile "Wieder wandelnd im alten Park". Wir werden damit einbezogen in eine Gemeinschaft, die um den Sinn dieses "wieder" weiß. Und damit wird zugleich unterstellt, wir wüssten auch, um welchen Park es sich handelt. Als Leser, der mit Trakls Werk vertraut ist, können wir zu letzterem zumindest begründete Vermutungen äußern. Es handelt sich vielleicht um den Mirabell-Park, denn im Text "Musik im Mirabell" heißt es "der Ahnen Marmor ist ergraut". Allerdings passt das Bild des Weihers nicht so recht dazu. Das Gedicht "In Hellbrunn" nennt allerdings gleich zweimal einen Weiher, so dass wir hier vermutlich am genannten Ort sind. Doch ist dies erheblich? Ich meine, nein. Erheblich ist jedoch, dass wir vom Autor einbezogen werden. Und dies gibt ihm auch die Legitimation, in diesem Text sich so kurz zu fassen.

Bemerkenswerterweise wird dann in der dritten Zeile eine ganz andere Gemeinschaft beschworen als die zwischen Autor und Leser. Da werden die "sanften Götter" als 3. Person Plural unmittelbar angesprochen. Und wir müssen uns fragen, ob wir als "gewöhnliche" Leser nicht vielmehr ausgeschlossen sind, gar nicht gemeint als Mitwissende - sondern die "Götter"? Es sind trauernde Götter, die Trakl hier nennt, und mit ihnen trauert "das herbstliche Gold der Ulme". Und wieder sehen wir uns als Leser eher ausgeschlossen, nicht mitgemeint auch bei dieser Verbundenheit mit einer sprechenden Natur, die gerade am abendlichen Verstummen ist, stellvertretend im Bild der Drossel vorgestellt.

Ein "Du" gibt es gleichwohl, doch es ist wohl die Person gemeint, die da "(w)ieder wandelt im alten Park". Und damit sind wir bei einem Selbstgespräch Zeuge, und die Legitimation für die Kürze ist ganz anderer Art.






IM ROTEN LAUBWERK VOLL GUITARREN ...

Im roten Laubwerk voll Guitarren
Der Mädchen gelbe Haare wehen
Am Zaun, wo Sonnenblumen stehen.
Durch Wolken fährt ein goldner Karren.

In brauner Schatten Ruh verstummen
Die Alten, die sich blöd umschlingen.
Die Waisen süß zur Vesper singen.
In gelben Dünsten Fliegen summen.

Am Bache waschen noch die Frauen.
Die aufgehängten Linnen wallen.
Die Kleine, die mir lang gefallen,
Kommt wieder durch das Abendgrauen.

Vom lauen Himmel Spatzen stürzen
In grüne Löcher voll Verwesung.
Dem Hungrigen täuscht vor Genesung
Ein Duft von Brot und herben Würzen.




Wie häufig bei Trakl nennt dieser Text sogleich ein wesentliches historisches Programm von Lyrik: Von der Lyra begleiteter Gesang zu sein. Keine Lyra klingt hier, doch - moderner - "Guitarren". Volkstümlich könnten wir an den Himmel der Verliebten denken, der bekanntlich voller Geigen hängt. Bei Trakl hängen die Gitarren "(i)m roten Laubwerk". Das Laub dürfte in Herbsfärbung sein, auch von Sonnenblumen ist die Rede, die bis in den Oktober hinein blühen.

Vier Bilder werden in der ersten Strophe zusammengefügt nach der von Trakl so benannten "heiß errungene(n) Manier" (Brief an Erhard Buschbeck vom Juli 1910): Das rote Laubwerk mit Gitarren, die gelben Haare der Mädchen, ein Zaun mit Sonnenblumen, ein goldener Karren in Wolken. Markant ist, dass alle vier Bilder stark farblich bestimmt sind, rot und gelb/golden. In der zweiten Strophe ist der Farbakzent deutlich geschwächt, wird weniger genannt und hat sich zu gelb-braun verschoben. Die dritte Strophe ist gleichsam "entfärbt" zu einem "Abendgrauen". Und die vierte Strophe nennt "grüne Löcher voll Verwesung". Die Farbigkeit wird also drastisch zurückgenommen und verschiebt sich vom lichten Bereich zum Dunklen.

Was auf der Ebene der Farben geschieht, hat eine deutliche Entsprechung im Personal des Bildbereiches. In der ersten Strophe treten "Mädchen" auf. In der zweiten Strophe erscheinen gemeinsam "Alte" und "Waisen" - denen korresponieren in der dritten Strophe "Frauen" und "die Kleine". Die vierte Strophe nennt einen "Hungrigen", den wir als Gegenbild zu den "Mädchen" der ersten Strophe lesen dürfen, insofern das Gedicht in seinem Strophengefüge deutlich spiegelbildlich gestaltet ist.

Die Spiegelbildlichkeit zeigt sich etwa darin, dass die erste und die vierte Strophe den Blick nach oben heben, zu Himmel, Luft, Duft, Luftbewegung. Die beiden Strophen dazwischen sind am Boden angesiedelt, im Schatten, am Bach, in Dünsten. Zugleich aber gibt es auch eine Verschränkung der Strophen, die Eins und Drei miteinander verbinden über Wehen-Wallen, sowie Zwei und Vier über Dünste-Duft.






IM SCHNEE


Der Wahrheit nachsinnen -
Viel Schmerz!
Endlich Begeisterung
Bis zum Tod.
Winternacht
Du reine Mönchin!




Der Text gilt bei Walther Killy als eine Vorstufe, als die erste Fassung des 1915 im "Brenner" veröffentlichten Gedichtes "Nachtergebung". Auch wenn das einzige erhalten gebliebene Bild die "Mönchin" ist, die mit Kühle verbunden wird.

Ohne die beiden letzten Zeilen hätte der Text sicherlich eine andere Einordnung gefunden, nämlich als Aphorismus. Ein Aphorismus mit eher schlichten Aussagegehalten: Der Wahrheit nachzusinnen bringt Schmerzen. Wer lange genug nachsinnt, wird belohnt durch eine Begeisterung, geistige Bereicherung, die ihn bis zum Tod begleitet.

Die abschließende Doppelzeile konnotiert die davor genannte "Begeisterung" mit einem religiösen Gehalt, der einen Gnadenakt in den Horizont möglicher Deutungen rückt. Das "bis zum Tod" wird dann auch zwiespältig lesbar als - wiederum schmerzhafte - Einschränkung, insofern daran erinnert wird, dass diese Begeisterung ein Ende findet durch einen unausweichlichen Tod. Gemeint könnte allerdings auch das Gegenteil sein, nämlich ein Versprechen darauf, dass der Tod nur ein leiblicher sei, die "Begeisterung" aber anhielte im Übergang zu einer nach-leiblichen Seinsform.

Bezogen auf die Verbindung des Bildes "Mönchin" mit Trakls geliebter Schwester Margarethe  wäre noch eine weitere Deutung möglich, nämlich die einer Verbindung mit dieser Schwester nach dem Tod. Eine Vorstellung, die Trakls Schwester selbst in einem Gedicht nach Trakls Tod anspricht. Als Apposition gelesen wird allerdings die "Winternacht" selbst zur "reinen Mönchin". Kühle hat bei Trakl häufig eine positive Konnotation, die von Beruhigung, von Stillung des Schmerzes. Tod, Winternacht und mönchische Existenz gehen hier zusammen im Bild einer gestillten Existenz.

Als Gedicht gewinnt der Text eine Bedeutung insofern, als er auf eine meist übersehene Dimension des Traklschen Werkes hinweist: Den Subtext aphoristischer Gehalte.






IM WEINLAND

Die Sonne malt herbstlich Hof und Mauern,
Das Obst, zu Haufen rings geschichtet,
Davor armselige Kinder kauern.
Ein Windstoß alte Linden lichtet.

Durchs Tor ein goldener Schauer regnet
Und müde ruhn auf morschen Bänken
Die Frauen, deren Leib gesegnet.
Betrunkne Glas und Krüge schwenken.

Ein Strolch läßt seine Fidel klingen
Und geil im Tanz sich Kittel blähen.
Hart braune Leiber sich umschlingen.
Aus Fenstern leere Augen sehen.

Gestank steigt aus dem Brunnenspiegel.
Und schwarz, verfallen, abgeschieden
Verdämmern rings die Rebenhügel.
Ein Vogelzug streicht rasch gen Süden.





Der Text ist ungewiss datiert, wurde vermutlich 1910 geschrieben. Er hat einen deutlich gesellschaftskritisch markierten Ton und darf durchaus auch als Beschreibung sozialer Verhältnisse Gültigkeit beanspruchen. Kategorial gehört der Text mit seiner Zuwendung zu sozialem Elend und in der Gestaltung sicherlich zur expressionistischen Lyrik der Zeit, "morsche Bänke" und "Gestank" geben die Kulisse, vor der "armselige Kinder" und die "geil im Tanz" sich bauschende "Kittel" der Unterschichtmänner auftreten.

Doch während expressionistische Lyrik ihre Themen zumeist in der Großstadt entfaltet, wählt Trakl den ländlichen Raum, einen Raum, den er genauer bestimmt sein lässt durch Weinbau. Wir dürfen "Im Weinland" durchaus wörtlich nehmen, darauf deuten die "Rebenhügel" hin. Die Zeit ist Herbst, also Erntezeit. Die Sonne scheint, es wird gefeiert, doch die Stimmung ist trübe, von Betrunkenen ist die Rede, von brutaler Sinnlichkeit. Die Augen sind "leer", die "Rebenhügel" sind "verfallen". Wobei unklar bleibt, ob die Reben nur abgeerntet oder aufgegeben sind. Sie "verdämmern" - kein versöhnliches Bild für den Übergang in die Winterzeit.

Trakl hatte den Text selbst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Ich persönlich finde den Text jedoch insofern interessant und erörterungswürdig, als er ein prägnantes Beispiel dafür zeigt, wie expressionistische Themen und Gestaltungsweisen sich des ländlichen Lebensbereiches annehmen, nicht nur, wie typologisch mit der Epoche verbunden, der Großstadt. Verbindend ist die Zuwendung zu Armut und Elend, zur Unterschicht. Verbindend sind auch die grelle Thematisierung von Alkohol, Sexualität, Schwangerschaft, Schmutz und Musik/Tanz.

Der Bilderfundus ist vertraut aus dem Traklschen Gesamtwerk. Insbesondere die Verbindung von Herbst, Verfall und Vogelzug kennen wir aus zahlreichen anderen Texten des Lyrikers, etwa "Verfall", "Musik im Mirabell", "Melancholie des Abends".  "Im Weinland" nennt jedoch als einziger Text mit diesem Bildkomplex explizit den "Süden" als Ziel des Vogelzuges.






IM WINTER

Der Acker leuchtet weiß und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.

Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.



Hans-Georg Kemper interpretierte den Text unter strukturalistischer Perspektive als Dekonstruktionsarbeit an tradierten Lyrikformen und als Entwicklung einer "poetischen Malerei im Reihungsstil".

Der Text gilt in der Forschung als charakteristisches Beispiel für das, was Trakl in einem Brief an den Jugendfreund Erhard Buschbeck im Juli 1910 als seine "heiß errungene Manier" beschreibt, "die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet" - wobei Trakl sich in diesem Brief auf sein Gedicht "Der Gewitterabend" bezieht. Trakl reklamiert diese Erfindung für sich gegen einen von ihm vermuteten Plagiator (Ludwig Ullmann). Doch gilt seine "Manier" unter der Kategorie "Reihungsstil" als Eigentümlichkeit expressionistischer Lyrik und findet sich zeitgleich etwa bei Jakob van Hoddis ("Weltende", 1911 veröffentlicht) und Alfred Lichtenstein ("Die Dämmerung", 1911 veröffentlicht).

Kemper verbindet den expressionistischen Reihungsstil mit der "Entichung" (ein Begriff von Oskar Walzel, 1916) in der Lyrik des Jahrhundertanfangs. Trakl selbst hob an seiner lyrischen Arbeit in einem Brief vom Herbst 1911 hervor, ihre Resultate seien "unpersönlich". Er bezeichnet dies ausdrücklich als Resultat einer Bemühung, vom Persönlichen wegzukommen. Es ist unübersehbar, dass dabei Naturbildern eine Schlüsselfunktion zukommt.

Der vorliegende Text erzeugt eine vom Subjekt materialiter losgelöste Objektivität, wie sie in den neuen Kommunikations- und Dokumentationsmedien der Zeit, Tageszeitung, Fotografie und Film (bemerkenswert etwa "Eine Fahrt durch Wien" von 1906) entworfen wurde. Dabei spielen bildorientierte Kompositionsprinzipien eine prägende Rolle. Kemper verweist auf einen aufschlussreichen Bezug, der auch in verschiedenen Interpretationen des Gedichtes "Im Winter" genannt wird, nämlich zu Pieter Bruegels d.Ä. Gemälde "Heimkehr der Jäger" von 1565, das Trakl im Kunsthistorischen Museum Wien zugänglich war.

Lektüreempfehlung: Hans-Georg Kemper: Form-(De-)Konstruktion: Poetische Malerei im Reihungsstil. In: Ders. (Hrsg.): Gedichte von Georg Trakl, Stuttgart: Reclam 1999, S. 43-59





IN DEN NACHMITTAG GEFLÜSTERT

Sonne, herbstlich dünn und zag,
Und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
Einen langen Nachmittag.

Sterbeklänge von Metall;
Und ein weißes Tier bricht nieder.
Brauner Mädchen rauhe Lieder
Sind verweht im Blätterfall.

Stirne Gottes Farben träumt,
Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.
Schatten drehen sich am Hügel
Von Verwesung schwarz umsäumt.

Dämmerung voll Ruh und Wein;
Traurige Guitarren rinnen.
Und zur milden Lampe drinnen
Kehrst du wie im Traume ein.




Die vier Strophen dieses Gedichtes haben jeweils vier Zeilen, jede Zeile hat sieben oder acht Hebungen, das Reimschema der Strophen ist abba. Gleichmaß herrscht und Ruhe im Formalen. Auch auf der Ebene der Bilder dominieren Harmonie und Stille. Die für Trakl charakteristischen Bruchstellen sind mehr noch als in anderen Texten eingebunden, gleichsam versteckt. Ein "weißes Tier" stirbt offensichtlich, es "bricht nieder", von "Metall" dahingestreckt, wir erfahren nicht, ob es sich um eine Schlachtung handelt oder um eine Jagdszene. Und die "Stirne" spürt "Wahnsinn", es gibt "Verwesung" - aber das Gedicht nimmt dies schlicht und gefasst zur Kenntnis, das lyrische Ich kehrt "wie im Traume" am Ende in einen Raum ein, der durch eine "milde Lampe" bestimmt ist, durch "Ruh und Wein". Und damit schließt sich der Kreis zur ersten Strophe, in der es heißt "Stille wohnt in blauen Räumen".

Der Nachmittag als Zeit zwischen der Tagesmitte mit dem Sonnenhöchststand und dem Abend mit Dunkelheit ist Thema und Bildgeber dieses Gedichtes, wobei er auch verstanden werden kann als Herbst, Jahreszeit zwischen Sommer und Winter, die gleichfalls Bilder für den Text bereitstellt, etwa "Obst fällt von den Bäumen".

Auffallend ist der Einsatz von Farben, anhebend mit den "blauen Räumen", dann fortschreitend in der zweiten Strophe mit einem "weißen Tier" und "braunen Mädchen". In der dritten Strophe erfolgt eine Steigerung zu "Gottes Farben", kippend in "schwarz umsäumt". Worauf die abschließende Strophe in "Dämmerung" und dem Licht einer "milden Lampe" ausklingt in einem farblich nicht bestimmten Traumbild. Meines Erachtens zeigt sich die Bedeutung der Farben in diesem Gedicht - und darüber hinaus für das Gesamtwerk Trakls - in der Gegenüberstellung von "Gottes Farben", in/von denen die "Stirne" träume, und den "Schatten", die sich "Von Verwesung schwarz umsäumt" zeigen. Verwesung führt den Farbenkreis der Schöpfung zurück in schwarzes Nichts. Doch das träumende Subjekt, sich selbst als "Du" ansprechend, könnte diese Farben bewahren, wie es die dritte Strophe andeutet, hinter/auf seiner "Stirne".

Weiß und Braun sind die Farben, die schon vordeuten auf die Verwesung, das weiße Tier stirbt, die braunen Mädchen werden assoziiert mit dem herbstlichen Laubfall. Die Farbe Blau dagegen steht in einer engen Verbindung mit "Gottes Farben", insofern sie den "Räumen" zugeordnet ist, in denen das Subjekt des Gedichtes sich vor der Verwesung draußen träumend zurückzuziehen scheint, flüsternd.

Der antike locus amoenus, der "liebliche Ort", noch bis in die Anakreontik lyrisch stilbildend, wird bei Trakl nach innen gewendet, während der Außenraum von Verfall, Herbst und Sterben umwittert ist, sich dem "locus terribilis" annähert. Doch auch der Innenraum ist in seiner "Milde" affiziert von Traurigkeit und den "sanften Flügeln" des Wahnsinns.

Karlheinz Deschner, der erbarmungslose Stilkritiker, umstrittener Autor der "Kriminalgeschichte des Christentums" und Hesse-Verachter, schreibt in "Kitsch, Konvention und Kunst" 1957 über dieses Gedicht, es sei ein"außerordentlich sanftes und einfaches Gedicht, dessen Größe man aber nicht verkennen kann". Er erkennt seine Größe bereits daran, wie in den ersten Zeilen "die Kulisse der Welt mit ein paar Strichen plastisch und voll Atmosphäre vor uns hingestellt" werde.

 




IN EIN ALTES STAMMBUCH

Immer wieder kehrst du Melancholie,
O Sanftmut der einsamen Seele.
Zu Ende glüht ein goldener Tag.

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige
Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.
Siehe! es dämmert schon.

Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches
Und es leidet ein anderes mit.

Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.




Wie in einigen weiteren Texten Trakls steht im Mittelpunkt von "In ein altes Stammbuch" die Melancholie, die "Sanftmut der einsamen Seele", wie Trakl sie hier bestimmt. Zwei Dreizeiler gestalten die erste Hälfte des Gedichtes, zwei Zweizeiler die zweite. Wir haben in der Form eine deutliche Reverenz vor den aphoristischen Schreibweisen, die für Stammbucheintragungen üblich waren.

Ob wir an das Freundschaftsbuch eines Melancholikers denken sollen, in welches Trakl diese seine "Eintragung" macht oder eher an das Stammbuch der Melancholie selbst, in welches ihre "Freunde", darunter nun Trakl, sich eintragen, bleibt offen. Der Kontext des Briefes an Ludwig von Ficker, welchen Trakl diesem Gedicht beifügte, legt einen Bezug zu seinem "Bruder" (so von Trakl an verschiedenen Stellen genannt) Karl Borromaeus Heinrich nahe, dem "Brenner"-Mitarbeiter. Auf dessen Selbstmordversuch rekurriert Trakl im Brief mit dem Satz: "Es bleibt nichts mehr übrig als ein Gefühl wilder Verzweiflung und des Grauens über dieses chaotische Dasein". Das Gedicht war allerdings schon vor der Nachricht über diesen Selbstmordversuch weitgehend abgeschlossen.

"Wiederkehr" ist prägendes Motiv dieses Gedichtes, die Melancholie und die Nacht sind es, die auch explizit wiederkehren. Das Motiv des Jahreskreislaufes mit seiner steten Wiederkehr der Jahreszeiten, hier des Herbstes, wird genannt in der letzten Strophe. Eine "ewige Wiederkehr" im Sinne Nietzsches scheint allerdings wohl nicht gemeint, denn es "Neigt sich jährlich tiefer das Haupt", was als Alterungs- und/oder Erschöpfungsprozess gelesen werden könnte.

Genannt wird allerdings auch ein "Ende", in der Zeile "Zu Ende glüht ein goldener Tag". Doch dieses bleibt eingebunden in den allgemeinen Prozess, ist lediglich ein relatives Ende, das Ende dieses einen Tages, dessen Abenddämmerung in der folgenden Strophe genannt wird und dessen Nacht in der wiederum folgenden Strophe erscheint - als Teil eines größeren Rhythmus der Abfolge von Tag und Nacht.

Die "Sanftmut", die in der ersten Strophe genannt wird, konkretisiert sich als geduldiges Ertragen (von Schmerz und Leid) in den folgenden Strophen. Damit verbunden ist der ruhige Farbwert Gold, sind wohllautende Klänge. Auch die Klage in der dritten Strophe ist verhalten, mündet in stilles Mitleiden.






IN EINEM ALTEN GARTEN

Resedaduft entschwebt im braunen Grün,
Geflimmer schauert auf den schönen Weiher,
Die Weiden stehn gehüllt in weiße Schleier
Darinnen Falter irre Kreise ziehn.

Verlassen sonnt sich die Terrasse dort,
Goldfische glitzern tief im Wasserspiegel,
Bisweilen schwimmen Wolken übern Hügel,
Und langsam gehn die Fremden wieder fort.

Die Lauben scheinen hell, da junge Frau'n
Am frühen Morgen hier vorbeigegangen,
Ihr Lachen blieb an kleinen Blättern hangen,
In goldenen Dünsten tanzt ein trunkener Faun.




Der Text löst durchaus ein, was im Titel angekündigt wird, ein alter Garten wird geschildert, mit Reseden, Weiher, Goldfischen, Weiden, Schmetterlingen/Faltern, einer Terrasse, Lauben, Besuchern, der Skulptur eines Fauns - nicht der elterliche Garten in der Pfeifergasse offensichtlich, sondern ein öffentlicher Garten. Dieser Garten ist aus dem Traklschen Oeuvre bekannt, es handelt sich um den Mirabellgarten bei Salzburg, der auch in "Musik im Mirabell" erscheint und wauch dort "alter Garten" genannt wird.

Wieder begegnet uns hier der Duft von Reseden, der bei Trakl eine besondere Rolle spielt, verbunden mit "Garten" (wie hier) oder "Weiblichem (in "Verwandlung"). Und es ist dieser Duft, der das Gedicht von einer bloßen, nett beschreibenden Gebrauchsdichtung gleich in der ersten Zeile entfernt. Impressionistische Malerei ist eine unmittelbare Referenz, die sich aufdrängt. Allerdings zeigt schon ein erster Blick etwa auf die Seerosenbilder Monets die Differenz - stilistisch, aber auch dem Medium geschuldet.

Für Trakl hat dieser Garten Bedeutung als Ort menschlicher Begegnungen und Bewegungen. Es gibt eine "Handlung", auch wenn dies primär durch die Ortsangabe "in einem alten Garten" angedeutet wird. "Und langsam gehn die Fremden wieder fort" gewinnt in dieser Handlungsaskese ein besonderes Gewicht. "Am frühen Morgen" seien junge Frauen hier gewesen, nun "Fremde", die sich entfernen. Zwei Andeutungen, die auf ein Drama verweisen könnten, aber auch als schlichte Faktennennung verstehbar sind - der Unterschied schwindet hier.

Schon die erste Strophe kennt diese eigentümliche Spannung zwischen vermeintlich harmloser Faktizität und der Andeutung eines Dramas. Das Grün ist "braun", "Geflimmer schauert", Weiden sind "in weiße Schleier" gehüllt, Falter ziehen "irre Kreise". Ein Parkwächter könnte in dieser Kulisse erscheinen, aber auch ein Dämon.






IN EINEM VERLASSENEN ZIMMER

Fenster, bunte Blumenbeeten,
Eine Orgel spielt herein.
Schatten tanzen an Tapeten,
Wunderlich ein toller Reihn.

Lichterloh die Büsche wehen
Und ein Schwarm von Mücken schwingt.
Fern im Acker Sensen mähen
Und ein altes Wasser singt.

Wessen Atem kommt mich kosen?
Schwalben irre Zeichen ziehn.
Leise fließt im Grenzenlosen
Dort das goldne Waldland hin.

Flammen flackern in den Beeten.
Wirr verzückt der tolle Reihn
An den gelblichen Tapeten.
Jemand schaut zur Tür herein.

Weihrauch duftet süß und Birne
Und es dämmern Glas und Truh.
Langsam beugt die heiße Stirne
Sich den weißen Sternen zu.





Der Text "In einem verlassenen Zimmer" sollte gemeinsam gelesen werden mit dem in der Sammlung "Gedichte" unmittelbar vorausgehenden Text "Die schöne Stadt". Mehrere Motive wiederholen sich, insbesondere in der ersten Strophe, mit den Bildern von Orgelklängen und Blumenfenstern.

Bemerkenswert ist zunächst, dass gerade im Zimmer sich dann, mit der zweiten Strophe, der Blick weitet auf die umgebende Landschaft, das ländliche Leben um die Stadt: "Fern im Acker Sensen mähen". Die Verbindung zwischen Innen und Außen stellen die "Schatten" her, die in der ersten Strophe genannt werden. Das Platonsche Höhlengleichnis klingt hier an.

Waren Klänge und Bewegungen im Gedicht "Die schöne Stadt" kulturell bestimmt, von Menschen geprägt, so kommen hier Naturphänomene in den Blick und ins Ohr. "Und ein Schwarm von Mücken schwingt", "Schwalben irre Zeichen ziehen", "Flammen flackern in den Beeten", "Und ein altes Wasser singt".

Die Strophen Zwei bis Vier thematisieren den Außenraum, der vom Innenraum her erlebt wird, sich dort nochmals in der vierten Strophe in einem grandios gestalteten Bild spiegelt, das den "tollen Reihn" aus der ersten Strophe aufgreift.

Die letzte Strophe kann als ausdrückliche Wende nach innen gelesen werden, eingeleitet durch das "Jemand schaut zur Tür herein" am Ende der vierten Strophe. "Weihrauch", "Glas" und "Truh" sind kulturelle Produkte, die den Innenraum markieren. Ihnen korrespondiert die "heiße Stirne" des Subjektes, der Körper als Kulturprodukt. Diese Stirne wendet sich dann in der letzten Zeile des Gedichtes nochmals nach außen, den Sternen zu, dem Fernsten.

In einer irritierenden Spannung von Innen und Außen entfaltet dieses Gedicht das Thema des "verlassenen Zimmers" als Thema der Weltbeziehung des Subjektes, eines körperlich nur durch die "heiße Stirn" gezeichneten Subjektes.

Seine ganze Qualität zeigt der Text im Vergleich mit dem Salzburg-Gedicht, das einen eher unverbindlichen Bilderreigen bietet, der die Dramatik des Innen-Außen-Verhältnisses nur spielerisch andeutet.





IN VENEDIG

Stille in nächtigem Zimmer
Silbern flackert der Leuchter
Vor dem singenden Odem
Des Einsamen;
Zaubrisches Rosengewölk.

Schwärzlicher Fliegenschwarm
Verdunkelt den steinernen Raum
Und es starrt von der Qual
Des goldenen Tags das Haupt
Des Heimatlosen.

Reglos nachtet das Meer.
Stern und schwärzliche Fahrt
Entschwand am Kanal.
Kind, dein kränkliches Lächeln
Folgte mir leise im Schlaf.




Im August 1913 (16. August bis Ende August) besuchte Trakl gemeinsam mit Karl Kraus, Peter Altenberg, Adolf Loos und dessen Lebensgefährtin Bessie Bruce Venedig. Auch sein Freund und Förderer Ludig von Ficker und dessen Ehefrau Cissi stießen später zur Reisegruppe. Bekannt ist ein Foto von dieser Reise, das Trakl im Badeanzug am Lido zeigt.

Der Text basiert zweifellos auf konkreten Erfahrungen des Reisenden, ist allerdings erst für den 6. März 2014 bezeugt.

Die klare Form mit drei Strophen zu je fünf Zeilen steht in starkem Kontrast zur fast hektisch anmutenden Reihung der Bilder, die den Charakter einer Bestandsaufnahme hat und wie zufällig der konkreten Anschauung entnommen scheint. Lediglich das Verhältnis innen-außen schafft eine Ordnung auch der Bildwelt. In der ersten Strophe sind wir im "nächtige(n) Zimmer". In der zweiten wird dieser Raum gestört durch einen "Fliegenschwarm" und die Erinnerung an den "goldenen Tag()" - also einen Einbruch des "Außen". In der dritten Strophe dominiert dann eben dieses "Außen", konkret als "Meer" und "Kanal", aber auch im diffus 'sozialen' Sinn als "Kind", dessen "kränkliches Lächeln" dem Ich im Schlaf "(f)olgte".

Ob dieses Kind ein konkretes Kind ist, das dem realen Raum von "Meer" und "Kanal" zugehört, oder als Gestalt einer allgemeineren Imagination, die bei Trakl in anderen Gedichten auch auftaucht, bleibt offen. Wie im übrigen auch die beiden anderen Außenbilder, insbesondere der "Kanal", den wir ja auch aus früheren Gedichten Trakls zu kennen meinen, etwa aus "Winterdämmerung" oder "Psalm".

Bestimmende Farben des Gedichtes sind Schwarz (schwärzlich), Silber und Gold. Dazu tritt als indirekte Farbangabe "Rosengewölk". Damit haben wir die zentralen Farben, die für das historische Venedig charakteristisch sind, das Schwarz der Gondeln und die "byzantinischen" Farben Gold und Silber, die Markusdom und Dogenpalast prägen. Das "Rosengewölk" mag dem Sonnenuntergang (oder Aufgang) über dem Meer geschuldet sein, es begegnet gleichfalls in "Frühling der Seele" - dort scheint eher ein Sonnenaufgang gemeint. "Das Gewitter" begegnen uns als weiteres Naturbild dieser Farbprägung ein "rosenschauriger Blitz".






JAHR


Dunkle Stille der Kindheit. Unter grünenden Eschen
Weidet die Sanftmut bläulichen Blickes; goldene Ruh.
Ein Dunkles entzückt der Duft der Veilchen; schwankende Ähren
Im Abend, Samen und die goldenen Schatten der Schwermut.
Balken behaut der Zimmermann; im dämmernden Grund
Mahlt die Mühle; im Hasellaub wölbt sich ein purpurner Mund,
Männliches rot über schweigende Wasser geneigt.
Leise ist der Herbst, der Geist des Waldes; goldene Wolke
Folgt dem Einsamen, der schwarze Schatten des Enkels.
Neige in steinernem Zimmer; unter alten Zypressen
Sind der Tränen nächtige Bilder zum Quell versammelt;
Goldenes Auge des Anbeginns, dunkle Geduld des Endes.



Das Gedicht steht eingefasst zwischen dem anhebenden "Dunkle Stille der Kindheit" und dem abklingenden "dunkle Geduld des Endes". Womit sich ein Kreis schließt, der auch als Jahreskreis verstanden werden kann. Dazu passen Bilder des Frühlings ("Duft der Veilchen") die recht abrupt abgelöst werden von Bildern des Sommers ("schwankende Ähren") und des Herbstes ("Mahlt die Mühle").

Mit der Charakterisierung des Anfangs als "Kindheit" wird jedoch auch der Lauf eines Menschenlebens evoziert. Dazu fügt sich das Bild der "Sanftmut" als Charakterisierung der Kindheit zu Beginn, das zu einer Zeit des Tätigseins ("Balken behaut der Zimmermann") führt und weiter zur Phase des Alters, dem "Enkel" und Einsamkeit zugeordnet erscheinen.

Doch die Zuordnungen und insbesondere die Reihungen folgen keinem linearen Muster, eher einem Kreismuster oder dem, was wir aus dem Bereich der Fraktale kennen, wo jeder Bereich in sich wieder ein Ganzes erzeugt, das wiederum in Fraktale sich auflösen lässt. Etwa wenn in der dritten Zeile unmittelbar die Veilchenblüte auf die Getreidereife stößt und das Motiv Getreide dann in der sechsten Zeile wieder auftaucht mit der mahlenden Mühle. Oder wenn in der letzten Zeile das Ende mit dem Anbeginn genannt wird und dieser über "goldenes Auge" korrespondiert mit "goldene Ruh" in der zweiten Zeile, die wiederum zu kommunizieren scheint mit "Dunkle Stille der Kindheit".

Damit entsteht ein eigentümliches Webmuster, das mit der Charakterisierung als "Fraktal" sicherlich nur versuchsweise und annähernd beschrieben ist. Vielleicht hilft der dem Fraktalbegriff zugehörige Begriff der "Selbstähnlichkeit" weiter. Auffallend ist etwa, dass die Farbe Golden gleich viermal adjektivisch erscheint und darüber hinaus auch noch angespielt wird in den "Ähren". Geräuscharmut wird viermal direkt angesprochen, weitere Bilder ergänzen den Bereich, etwa "dunkle Geduld", die auch niemand als lautstark empfinden wird. Dunkelheit, Dämmerlicht, Schwärze und Schatten bestimmen das Gedicht an sieben Stellen. Dabei bleibt das Webmuster gleichförmig, es gibt keine Ansätze zu einer Entwicklung, zu Verschiebungen in der Helligkeit oder in der Klangintensität. Und die Farbe Gold erscheint als das, was ihr in "Zeitalter" explizit zukommt: "Goldgrund".

Wieder haben wir hier ein Trakl-Gedicht vor uns, das Züge einer Ikonenmalerei aufweist, Statuarik, flächige Gestaltung, Goldgrund. Entstanden im Mai 1914 in Innsbruck gehört es zu den letzten Arbeiten Trakls. Wichtige Elemente von "Grodek" finden sich schon hier, der farbliche Vierklang von Gold, Schwarz, Blau und Rot, die herbstlichen Wälder, die "Enkel".






KASPAR HAUSER LIED

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.

Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.

Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.

Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;

Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.

Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.








Das Gedicht ist einer Frau gewidmet, Bessie Loos. Sie war Revuetänzerin englischer Abstammung und Ehefrau des Architekten Adolf Loos, der Trakl um diese Widmung gebeten hatte. Im August 1913 hatte Trakl gemeinsam mit Karl Kraus und dem Ehepaar Loos eine Venedigreise unternommen. In einem Schreiben an Ludwig von Ficker, in dessen Zeitschrift "Brenner" das Gedicht im November 1913 zuerst erschien, gibt Trakl die Widmungsbitte eher reserviert an von Ficker weiter, erinnert allerdings in einer Nachricht vom 17.11. nochmals an diese Widmung, da er zwischenzeitlich das Gedicht bereits mit dieser Widmung Adolf Loos überreicht hatte.

Auch der Text selbst war Gegenstand mehrerer Nachrichten an Ludwig von Ficker, in denen Trakl verschiedene Änderungswünsche einbrachte. Unter anderem wollte Trakl die letzte Zeile "endgültig" in "Eines Ungebornen sank des Fremdlings rotes Haupt hin" ändern. Es ist nicht eindeutig geklärt, unter welchen Umständen Trakl selbst diese Änderung zurückgenommen hat, über die von Ficker in "Erinnerung an Georg Trakl" 1926 berichtet. Entstanden ist das Gedicht im Oktober 1913, als Trakl Gast der Familie von Ficker in Innsbruck war.

Die Arbeit am "Kaspar Hauser Lied" und damit auch der aus heutiger Sicht (und vermutlich auch für von Ficker) irritierende, maniriert klingende Änderungswunsch fallen in eine Zeit eskalierender psychisch-emotionaler Probleme des Autors. Erstes Zeugnis davon ist ein Schreiben Ludwig von Fickers an Trakl vom 8. Februar 1913, in welchem dieser behutsam auf die "Last der Verhältnisse, die Sie zuhause vorfanden" hinweist. Am 13. März 1913 schreibt Trakl an von Ficker über das Schicksal seines Freundes Karl Borromaeus Heinrich (Suizidversuch) von einem "Gefühl wilder Verzweiflung und des Grauens über dieses chaotische Dasein". Es verstärken sich in dieser Zeit auch ernsthafte finanzielle Probleme, die sich in mehreren Bittbriefen an Erhard Buschbeck und von Ficker artikulieren. Mit der Arbeit an der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbandes und einigen anderen Anerkennungen als Autor kommt im Sommer 1913 wieder ein gefassterer Ton in seine Korrespondenz, doch im November 1913 kulminiert der pessimistische Ton in jenem häufig zitierten Ausspruch "mein Leben ist in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden" in einem Brief an Ludwig von Ficker.

Diese biographischen Hinweise können das Gedicht natürlich nicht "erklären". Sie unterstreichen lediglich einen Hinweis, den Trakl selbst bereits in einem Brief an den Freund Erhard Buschbeck vom 21. April 1912 gibt: "Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben." Die Figur des Kaspar Hauser war für Trakl offensichtlich schon früh ein "Medium der Selbstbegegnung", wie dies Theo Buck in einem Essay zum Kaspar Hauser Lied schreibt. Literaturhistorisch unübersehbar ist der Bezug zu anderen Autoren, die das Thema vor Trakl bearbeitet haben. Insbesondere Paul Verlaines "Gaspar Hauser chante" von 1873, das Trakl sicher kannte, ist als Referenz zu nennen. Näheres hierzu auf meiner Essay-Seite ("Trakl und der Symbolismus").

Lektüreempfehlung: Theo Buck, Kaspar Hauser - Medium der Selbstbegegnung für Autor und Leser, 1999





KINDHEIT


Voll Früchten der Hollunder; ruhig wohnte die Kindheit
In blauer Höhle. Über vergangenen Pfad,
Wo nun bräunlich das wilde Gras saust,
Sinnt das stille Geäst; das Rauschen des Laubs

Ein gleiches, wenn das blaue Wasser im Felsen tönt.
Sanft ist der Amsel Klage. Ein Hirt
Folgt sprachlos der Sonne, die vom herbstlichen Hügel rollt.

Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele.
Am Waldsaum zeigt sich ein scheues Wild und friedlich
Ruhn im Grund die alten Glocken und finsteren Weiler.

Frömmer kennst du den Sinn der dunklen Jahre,
Kühle und Herbst in einsamen Zimmern;
Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.

Leise klirrt ein offenes Fenster; zu Tränen
Rührt der Anblick des verfallenen Friedhofs am Hügel,
Erinnerung an erzählte Legenden; doch manchmal erhellt sich die Seele,
Wenn sie frohe Menschen denkt, dunkelgoldene Frühlingstage.









"Kindheit" ist sicherlich einer der stärksten Texte Trakls. Das hat der Dichter wohl auch selbst so gesehen, schließlich eröffnet "Kindheit" nach seinem eigenen Willen die Sammlung "Sebastian im Traum". Wer lernen möchte, was die Lyrikform der "freien Rhythmen" an Anstrengung und poetischer Kraft verlangt, der möge dieses Gedicht nur einmal einer Feinanalyse im Blick auf Lautstruktur und metrische Gestaltung unterziehen. Auch für dieses Gedicht gilt, was Trakl zu "Klagelied" an Erhard Buschbeck in einem Brief vom Spätherbst 1911 schrieb: "Du magst mir glauben, daß es mir nicht leicht fällt und niemals leicht fallen wird, mich bedingungslos dem Darzustellenden unterzuordnen und ich werde mich immer und immer wieder berichtigen müssen, um der Wahrheit zu geben, was der Wahrheit ist."

Entstanden ist das Gedicht im ersten Halbjahr 1913, vermutlich Juni/Juli und dabei vor dem 12. Juli, in Salzburg. Im März war die Eisenhandlung des Vaters unter Beteiligung Georg Trakls aufgelöst worden. Danach hielt sich Trakl abwechselnd in Salzburg und auf der Hohenburg des Freundes und Gönners Ludwig von Ficker auf. Am 13. Juli 1913 reiste Trakl für eine neue Berufstätigkeit als Rechnungspraktikant des Kriegsministeriums nach Wien. Ich möchte damit keinem schlichten Biographismus das Wort reden, aber es macht Sinn, sich dieses Rahmens zu vergewissern.

Trakl hatte in der Entstehungszeit des Gedichtes offensichtlich hinreichend Anlass, sich seiner eigenen Kindheit zu erinnern. Einer Kindheit, so drängt sich der Eindruck auf, die geprägt ist von Naturbildern. Zivilisatorisch-städtisch ist lediglich das Bild "einsamer Zimmer", von denen es - wie der Text nahelegt - den Ausblick auf einen verfallenen Friedhof gibt. Konkret kann es sich beim Vor-Bild um den St. Petersfriedhof am Mönchsberg handeln, der sich unweit des Waagplatzes befindet, wo Trakl seine Kindheit verbrachte. Diesem Friedhof hat Trakl auch ein eigenes Gedicht gewidmet, publiziert 1909, das beginnt mit "Ringsum ist Felseneinsamkeit". Auch wenn dieses Bild der Traklschen Selektion unterworfen und mit klaren Entlehnungen beim Sprachduktus des französischen Symbolismus gestaltet wird, haben wir hier augenscheinlich einen realen Ort der Traklschen Kindheit in Salzburg vor uns.

Einer Kindheit wohlgemerkt, in der es in Salzburg wenige Touristen und noch weniger Autos gab, dafür noch viele Freiflächen und Gärten mitten in der Stadt. Eine Kindheit, deren Bilder wir nicht aus unserem eigenen Erfahrungsfundus schöpfen dürfen, dem "Hollunder" und "vergangene Pfade" als städtische Eindrücke vollkommen fremd sind. Anders sind selbst das Bild des "Waldsaums" oder des "Hirten" an einem herbstlichen Hügel nichts, was dem Salzburg vom Ende des 19. Jahrhunderts fremd wäre. Dies zeigt deutlich ein Gemälde von Josef Mayburger (1814-1908), das den Blick auf die Salzburger Altstadt mit Dom im Sonnenuntergang schildert, entstanden vermutlich um 1890, im Besitz des "Salzburg Museums", das für die Präsentation hier auf meiner Seite 160 Euro Gebühr erheben würde (Stand 2013). Ein Gemälde, das seinerseits natürlich selbst künstlerisch gestaltet und mehr ist als nur "Abbild".

Doch zurück zu Trakl. Mit meinen Ausführungen möchte ich nicht sagen, das Gedicht ließe sich schlicht auf reale Erfahrungen Trakls zurückführen. Aber diese Erfahrungen, ihr Horizont sollten bekannt sein, um ein freischwebendes Spekulieren zu vermeiden, das den eigentlichen Wert des Gedichtes verfehlt. Der besteht unter anderem darin, eine allgemeine Erfahrung wie "Kindheit" individuell so zu gestalten, dass wieder eine - nun neue und nachvollziehbare - allgemeine Erfahrung daraus zu werden vermag.

"Hollunder" benennt eben weder einfach einen Holunderstrauch, den Trakl in Salzburg am Mönchsberg gesehen haben mag, noch einfach nur das volkstümlich überlieferte Symbol von Kindheit, Fruchtbarkeit und Geburt - sondern etwas, das der Leser im Gedicht Trakls aus seinen eigenen Erfahrungen und der Gestaltung Trakls neu entdeckt und bildet.

Um den Horizont abendländischer Lyrik, in welchem dieser Text steht, zumindest anzudeuten, sei verwiesen auf zwei Zeilen aus einer Canzone Petrarcas: "Quando vede ’l pastor calare i raggi/del gran pianeta al nido ov’egli alberga" (Canzoniere L).

Zeitlich und räumlich näher bei Trakl steht Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898). Der verfasste ein Gedicht mit dem Titel "Heilige Bläue", welches endet mit der Zeile "Seele, tauche unter ganz!".

Lektüreempfehlung: Angelika Overath, Das andere Blau, Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1987, S. 119-141

 




KLAGE
(September 1914)


Schlaf und Tod, die düstern Adler
Umrauschen nachtlang dieses Haupt:
Des Menschen goldnes Bildnis
Verschlänge die eisige Woge
Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen
Zerschellt der purpurne Leib
Und es klagt die dunkle Stimme
Über dem Meer.
Schwester stürmischer Schwermut
Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt
Unter Sternen,
Dem schweigenden Antlitz der Nacht.


"Komm, o Tod, du Schlafes Bruder" heißt es in einer Kantate von Johann Sebastian Bach - im Abschlusschoral von "Ich will den Kreuzstab gerne tragen". Thema der Kantate ist die Hoffnung auf Erlösung am Ende eines leidvollen Lebensweges.

Trakls Gedicht "Klage" entstand im September 1914, während der Dienstzeit von Trakl als Militärapotheker, etwa zeitgleich mit "Grodek", kurz vor Trakls Tod. Es existiert noch ein zweites Gedicht Trakls mit dem gleichen Titel vom Juli 1914, das allerdings nicht als Vorstufe des Gedichtes vom September gelten kann, zu gering sind die Bezüge. Beide Texte sind im "Brenner" erschienen.

Die Kantate Bachs verbildlicht das Leben als Fahrt auf dem Meer. Explizit wird dies in der Rezitativzeile Mein Wandel auf der Welt ist einer Schifffahrt gleich. Dieses traditionelle Bild wird bei Trakl aufgegriffen, jedoch ganz und gar ins Düstere gewendet. Das "goldene Bildnis" des Menschen wird von der "eisigen Woge" der Ewigkeit verschlungen, sein "purpurner Leib" zerschellt an "schaurigen Riffen".

Besonders berührt, dass in diesem Gedicht Trakls, das mehr noch als Grodek als Abschiedsgedicht des Lyrikers gelten kann, die "Schwester" genannt, mehr noch: unmittelbar angesprochen wird. Als "Schwester stürmischer Schwermut" möge, ja muss sie Zeugin sein seines Untergangs: "Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt". In Bachs Kantate will das "Schifflein" einen "sichern Port" erreichen. Diese Hoffnung kennt Trakls "Klage" nicht, sein Lebensboot "versinkt/Unter Sternen" - es gibt keinen Aufstieg, keine Transzendenz als Tröstung, keine Erlösung.

Das Gedicht endet mit Schweigen und Nacht, lautlos und lichtlos - doch nein, es gibt ein Licht, das Licht der Sterne. Und die Nacht ist nicht gesichtslos feindlich, ist nicht gähnende Leere. Sie hat vielmehr ein "Antlitz". Ob Trakl darin einen Trost zu sehen vermochte, sagt das Gedicht nicht.






KLAGELIED


Die Freundin, die mit grünen Blumen gaukelnd
Spielt in mondenen Gärten -
O! Was glüht hinter Taxushecken!
Goldener Mund, der meine Lippen rührt,
Und sie erklingen wie die Sterne
Über dem Bache Kidron.
Aber die Sternennebel sinken über der Ebene,
Tänze wild und unsagbar.
O! Meine Freundin deine Lippen
Granatapfellippen
Reifen an meinem kristallenen Muschelmund.
Schwer ruht auf uns
Das goldene Schweigen der Ebene.
Zum Himmel dampft das Blut
Der von Herodes
Gemordeten Kinder.


1911 schreibt Trakl an den Freund Erhard Buschbeck zu dieser Fassung von "Klagelied": "Es ist umso viel besser als das ursprüngliche als es nun unpersönlich ist, und zum Bersten voll von Bewegung und Gesichten." Die "ursprüngliche" Fassung ist nicht erhalten. Und auch die vorliegende Fassung wurde von Trakl dann nicht veröffentlicht. Wir dürfen vermuten, dass auch sie ihm als noch immer zu persönlich erschien. Vielleicht aber auch als zu "berstend", sprich: zu vollgepackt mit heterogenem Material.

"Die Freundin" wird genannt, dann direkt angesprochen als "Meine Freundin". "Mund", "Lippen", "Lippen", "Granatapfellippen", "Muschelmund" erscheinen in dieser Reihenfolge und vermitteln in der Tat den Eindruck eines persönlichen Bekenntnisses, der Schilderung einer Begegnung von Mann und Frau in einem klaren Ich-Du-Verhältnis.

Eingebettet ist dies in Bildfelder unterschiedlichster Provenienz. Die "grünen Blumen" in "mondenen Gärten" und die "Taxushecken" verweisen auf eine Parklandschaft, das Bild des Kidron und die Herodes-Legende vom Kindermord evozieren einen christlichen Kontext. Taxushecken wurden gerne in feudalen Gartenanlagen, etwa zur Gestaltung von Labyrinthen, eingesetzt. Das Kidron-Tal trennt in Jerusalem den Tempelberg vom Ölberg. Hier liegen der Garten Gethsemane/Getsemani und das Grab Mariens. Der Bach ist also aufs Engste mit der Leidensgeschichte Christi verbunden.

Neben diese beiden durch das Motiv des Gartens (einmal mit "Taxushecken", einmal als Garten Gethsemane) verbundenen Bildfelder treten Klänge (von Sternen und Lippen) sowie Bewegungen ("Sternennebel sinken", "Tänze wild und unsagbar"). Hier wird die Begegnung von "Freundin" und Ich gleichsam lebendig. Die eigentliche Begegnung erscheint dagegen hoch stilisiert in zwei charakteristischen Szenen. Einmal als "Goldener Mund, der meine Lippen rührt" (nicht: "berührt"), einmal als "deine Lippen/ Granatapfellippen/ Reifen an meinem kristallenen Muschelmund".






LANDSCHAFT
(2. Fassung)


Septemberabend; traurig tönen die dunklen Rufe der Hirten
Durch das dämmernde Dorf; Feuer sprüht in der Schmiede.
Gewaltig bäumt sich ein schwarzes Pferd; die hyazinthenen Locken der Magd
Haschen nach der Inbrunst seiner purpurnen Nüster.
Leise erstarrt am Saum des Waldes der Schrei der Hirschkuh
Und die gelben Blumen des Herbstes
Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs.
In roter Flamme verbrannte ein Baum; aufflattern mit dunklen Gesichtern die Fledermäuse.




Ein schlichtes Gedicht, ein schlichter Titel, so scheint es. Der Titel gehört eigentlich einem anderen Kunstbereich an. Gemälde eines eher anspruchslosen Typus trugen um 1900 den Titel "Landschaft". Dass Trakls Schreibweise dem malerischen Gestus sehr nahe stand, ist bekannt. Auffallend ist auch die herausragende Stellung von Farbwörtern in seinen Texten. Im vorliegenden Text begegnen uns die Farben Schwarz, Hyazinthen, Purpur, Gelb, Blau und Rot jeweils einmal.

Die Überschreitung der künstlerischen Gattungsgrenzen war im Expressionismus Programm, darin beeerbte er die Romantik. Damit verbunden ist auch die Zerstreuung der Grenzen zwischen den Sinnesbereichen, die vor allem der französische Symbolismus gepflegt hatte. Synästhesien finden sich im Werk Trakls häufig, hier im Text ist deutlich nur eine, die "dunklen Rufe der Hirten". Doch im weiteren Sinne lassen sich auch Formulierungen wie "die hyazinthenen Locken ... haschen", "leise erstarrt ... der Schrei", "die gelben Blumen .... neigen sich sprachlos" oder "aufflattern mit dunklen Gesichtern die Fledermäuse" synästhetisch lesen.

Der lakonische Ton des Titels wird fortgesetzt in der ersten Zeile mit der Angabe von Jahres- und Tageszeit: "Septemberabend". Und dann müssen wir auch die nachfolgende Botschaft einfach so hinnehmen: "traurig tönen die dunklen Rufe der Hirten/Durch das dämmernde Dorf". Wir sind gefangen, gefangen im Traklschen Ton, der sich uns einfach hinstellt als Selbstverständlichkeit, als "Landschaftsbild", das so angenommen werden muss, wie es sich zeigt. Auch wenn es Ungeheuerlichkeiten zeigt, deren Bedeutung wir nicht verstehen und die, "bildlich" genommen, schon den Surrealismus der Malerei vorwegnehmen.

Genau besehen werden hier zwei Bilder "gemalt" (eine Lautebene einschließend), in den Zeilen 1-4 das Bild der Beschlagung eines Pferdes, in den Zeilen 5-8 ein Naturbild um Waldrand und Teich. Die beiden könnten wir uns vorstellen in einem Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund - wobei unübersehbar die Tendenz ist, beide gleichberechtigt in einer Fläche anzusiedelt. Ein Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichtes zeigt sehr deutlich, wie Trakl gerade diese bildliche Zweigliederung heraus gearbeitet hat.

Das Gedicht verbirgt eine Überraschung, ein Rätsel, das nur schwer aufzulösen ist. "In roter Flamme verbrannte ein Baum" - ein Satz im Präteritum verlässt die Fläche des Bildes, berichtet uns eine Geschichte, deren Ergebnis im Bild zu sehen sei, wie wir annehmen müssen. Doch welche Geschichte?






LEBENSALTER

Geistiger leuchten die wilden
Rosen am Gartenzaun;
O stille Seele!

Im kühlen Weinlaub weidet
Die kristallne Sonne;
O heilige Reinheit!

Es reicht ein Greis mit edlen
Händen gereifte Früchte.
O Blick der Liebe!



Der Titel gibt einen Hinweis darauf, wie wir die drei Strophen verstehen können, nämlich als Prägungen dreier verschiedener Lebensalter: Jugend, mittleres Alter, Greisenalter. Auch wenn es schwer fällt, die jeweils verwendeten Bilder so zu lesen. "Rosen am Gartenzaun" als Bild einer Jugend? "Kühles Weinlaub" als Bild des mittleren Alters? "Gereifte Früchte" dem Greisenalter zugeordnet? Für welche Form menschlicher Existenz gelten solche Bilder?

Sicherlich nicht für die städtische Existenz des beginnenden 20. Jahrhunderts. Aber auch nicht für ein idyllisches ländliches Leben, dazu sind die jeweils angerufenen Wesenheiten, "Seele", "Reinheit", "Liebe" zu sehr beladen mit Konnotationen einer von der Praxis abgeschiedenen Lebensweise, die am ehesten auf ein klösterlich-religiöses Umfeld beziehbar ist.

Die düster grundierten Idyllen eines Adalbert Stifter, etwa sein "Nachsommer", bieten eine literaturhistorische Referenz, die dem Verständnis weiterhelfen kann. Dass der Text im Werk Trakls eine Sonderstellung einnimmt und von Trakl auch nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen war, soll uns nicht dazu verführen, den Text einfach als irrelevant abzutun.

Der Text ist Juni/Juli 1914 entstanden, in einer Werkphase, die von der Forschung ganz anders charakterisiert wird, als es dieser Text nahelegt, nämlich durch monumentale Bilder, die von Schrecken und Untergang sprechen. Die drei Anrufungen mit "O" verbinden den Text mit dem "Abendländischen Lied" von Dezember 1913. Auch dort gilt die erste Anrufung der "Seele", auch dort können wir einen Dreischritt erkennen, der von einer still-harmonischen Seelenwelt über einen herbstlichen Weinberg zu einem 'Augen-Blick' der Liebe führt.

Während das "Abendländische Lied" jedoch eine zeitliche Entwicklung impliziert, mit vergangener Idylle, Bruch und zukünftiger Hoffnung, bietet uns "Lebensalter" eine synchrone Schilderung, alle drei Phasen werden uns im Präsens berichtet. Damit entsteht eine Gestalt von irritierender Präsenz, vergegenwärtigte Historizität und aufgelöster Augenblick zugleich - dem "Nu" der christlichen Mystik sich annähernd.






MELANCHOLIE
(3. Fassung)

Bläuliche Schatten. O ihr dunklen Augen,
Die lang mich anschaun im Vorübergleiten.
Guitarrenklänge sanft den Herbst begleiten
Im Garten, aufgelöst in braunen Laugen.
Des Todes ernste Düsternis bereiten
Nymphische Hände, an roten Brüsten saugen
Verfallne Lippen und in schwarzen Laugen
Des Sonnenjünglings feuchte Locken gleiten.


Zu diesem Gedicht gibt es drei Fassungen, die eine bemerkenswerte Entwicklung von einer stark an Naturbildern, vor allem Pflanzen, orientierten Bildwelt hin zur Bildwelt der dritten Fassung mit einer Dominanz menschlicher Körperbilder zeigen. Die erste Fassung trägt den Titel "Leise", die zweite "Melancholia".

"Dunkle Augen", "nymphische Hände", "rote Brüste", "verfallne Lippen" und "feuchte Locken" entwerfen in der hier vorliegenden dritten Fassung ein erotisch konnotiertes Körperbild, das nicht auf einen einzigen Körper zu beziehen ist,  sondern eine diffuse Beziehung von Körpern zu beschreiben scheint.

Sehr irritierend sind die zweimal vorkommenden "Laugen", einmal "braun", einmal "schwarz" genannt. Die Bedeutung von Assonanzen bei Trakl ist bekannt. Wir dürfen daher die "Laugen" auch mit bestimmt sehen durch das schwierige Reimwort "Augen" und den lautlichen Bezug zu "saugen". Inhaltlich gibt die erste Fassung des Gedichtes (mit dem Titel "Leise") den Hinweis, dass die "Laugen" mit "Schminken" zu tun haben könnten, mit farbigen Lösungen.

In der zweiten Fassung verwendet Trakl als Titel "Melancholia". Dies verweist auf eine kulturgeschichtliche Traditionslinie, in der die Melancholie mit medizinischer Säftelehre, Astrologie und Alchimie verbunden war. Ein Bezug wäre etwa die "Melencolia" Albrecht Dürers von 1514. Vor diesem Hintergrund ist auch denkbar, es seien die rätselhaften "Laugen" in diesem Gedicht auf den alchimistischen Läuterungsprozess zu beziehen. Auch waren "Laugen" ein wesentlicher Bestandteil mittelalterlicher Heil- und Reinigungsbäder. Wenn bei Trakl die Laugen nun braun oder schwarz sind, schafft er ein Gegenbild hierzu, das mit dem Bild der "schwarzen Galle" korrespondiert, die in der antiken Säftelehre der Melancholie zugeordnet wurde.

Der Text wurde von Trakl erst Anfang 1913 in diese Fassung gebracht, als er die Sammlung "Gedichte" in zweiter Sichtung für den Kurt Wolff Verlag Leipzig zusammenstellte. Die Position von "Melancholie" in dieser Sammlung zwischen "Allerseelen" und "Seele des Lebens" ist ein Hinweis darauf, dass Trakl die Melancholie als zentrales Seelenthema ansah. Zu erinnern ist auch an die Bestimmung der Melancholie als "Sanftmut der einsamen Seele" im Text "In ein altes Stammbuch".






MELANCHOLIE DES ABENDS

- Der Wald, der sich verstorben breitet -
Und Schatten sind um ihn, wie Hecken.
Das Wild kommt zitternd aus Verstecken,
Indes ein Bach ganz leise gleitet

Und Farnen folgt und alten Steinen
Und silbern glänzt aus Laubgewinden.
Man hört ihn bald in schwarzen Schlünden -
Vielleicht, daß auch schon Sterne scheinen.

Der dunkle Plan scheint ohne Maßen,
Verstreute Dörfer, Sumpf und Weiher,
Und etwas täuscht dir vor ein Feuer.
Ein kalter Glanz huscht über Straßen.

Am Himmel ahnet man Bewegung,
Ein Heer von wilden Vögeln wandern
Nach jenen Ländern, schönen, andern.
Es steigt und sinkt des Rohres Regung.



Die erste Zeile des Gedichtes erscheint als Zitat, in Fügestrichen gefasst, wie eine Apposition zum Gedichttitel. Der Titel selbst enthält im Traklschen Kontext eine Tautologie. Der Abend ist bei Trakl durchgängig strukturell mit Melancholie, Trauer, Abschiedsstimmungen, wehmütiger Erinnerung und Verfall verbunden. Dies eigens zu akzentuieren, hat etwas von Übertreibung an sich. Eine Übertreibung, die im Gedicht selbst noch thematisiert wird, zu Beginn der dritten Strophe: "Der dunkle Plan scheint ohne Maßen". Auch die Bilder des Gedichtes sind "ohne Maßen". Die erste Zeile charakterisiert den Wald als "verstorben", nicht einfach nur entlaubt, schwarz, herbstlich oder sonstig nachvollziehbar bestimmt. Eine Parallelstelle zu diesem "verstorben" findet sich in der ersten Fassung des Gedichtes "Melancholie" - dort wird es den Astern zugesprochen.

Wie im Zerrspiegel, verfremdet, irrlichternd, täuschend sind die Bilder dieses Gedichtes: "Und etwas täuscht dir vor ein Feuer." Selbst der Vogelzug, sonst bei Trakl ein unmittelbar erscheinendes Phänomen, ist in diesem Text nur zu ahnen, wobei Trakl die Sprache bis an die Grenze der Verstehbarkeit überspannt, es schon detektivischer Anstrengung bedarf um den Sinn "Man ahnet ein Heer von wilden Vögeln wandern" zu erschließen (es sei denn, man möchte Trakl hier einen schlichten Flexionsfehler unterstellen bei "wandern"). Selbst dass die Sterne "scheinen" (sic) gilt nur "vielleicht".

Man könnte das Gedicht auch schlicht misslungen oder doch zumindest manieriert nennen in seinen Übertreibungen und forcierten Ungewissheiten, in seiner insistierenden Ungenauigkeit. Doch zeigt sich nach meiner Einschätzung gerade hierin die Meisterschaft Trakls, dass er einen Text unter diesen Vorgaben in sich konsistent zu gestalten vermag. "Sanftmut der einsamen Seele" nennt Trakl die Melancholie im Text "In ein altes Stammbuch". Diese "Sanftmut" ist auch hier in "Melancholie des Abends" gestaltet.




MENSCHHEIT

Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.




Geschrieben September/Oktober 1912, vermutlich in Innsbruch, also lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, an den man bei Lektüre der ersten Verse unweigerlich denkt, sofern man die Lebensumstände Trakls kennt. Erschienen ist der Text im "Brenner", Heft 3/1912. 

In den ersten drei Zeilen ist von "Feuerschlünden", "Trommelwirbel", "dunkler Krieger Stirnen", "Blutnebel" und "schwarzes Eisen" die Rede. Martialische Bilder, die wie eine Vorahnung des Ersten Weltkrieges klingen. Für solche "Vorahnungen" gab es in der Zeit auch genügend Anlaß, die Zeitungen waren voll von Hinweisen auf eine akute Kriegsgefahr. Trakl war darüber hinaus beim österreichischen Militär beruflich engagiert, und so war er sicherlich vertraut mit den Ereignissen im Umkreis des ersten Balkankrieges von Oktober 1912 und dem Balkankonflikt insgesamt seit der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich 1908.

Die vierte Zeile erscheint wie ein Schlaglicht auf die Situation des Intellektuellen angesichts der offensichtlichen Gefahr eines größeren Krieges: "Nacht in traurigen Gehirnen". Hier vollzieht sich der Übergang zu einer Thematik, die auf sechs Zeilen ausgebreitet dann nicht auf Krieg, sondern auf die christliche Lehre und Ikonographie hinweist: "Evas Schatten", "Abendmahl", "Brot und Wein", "zwölf an Zahl", "Ölbaumzweigen", "Sankt Thomas" und "Wundenmal". Angesichts der Bilderwelt in den ersten drei Zeilen mutet dies resignativ-restaurativ an. Hoffnung, so scheint es, könne nur das Bekenntnis zum Glauben gewähren, zur christlichen Religion: "Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen". Die Figur des christlichen Zweiflers schlechthin, "Sankt Thomas" wird in der letzten Zeile mit ihrer Bekehrungserfahrung angeführt.

"Menschheitsdämmerung" nannte Kurt Pinthus seine 1920 erstmals erschienene Anthologie expressionistischer Lyrik. Der Traklsche Text mit einem entsprechenden Titel und zugehöriger Thematik ist dort nicht aufgenommen, steht aber gleichwohl für das Programm, das Pinthus mit der Titelwahl dem Expressionismus zuschreibt, eine Globalisierung des intellektuellen Bewußtseins unter den Vorzeichen eskalierender nationalstaatlicher Interessenkämpfe.






MENSCHLICHES ELEND


Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt -
Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,
Im Abendgarten kahle Bäume sausen.
Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.

Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.
Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln
Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.
Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.

Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,
Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen.
Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,
Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.

Aus Händen sinken Astern blau und rot,
Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;
Und Lider flattern angstverwirrt und leise;
Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.

Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer lauft ein Hund vorbei.

Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.




Dieser Text hat eine besondere Produktionsgeschichte, insofern es drei Versionen gibt, die sich einerseits deutlich aufeinander beziehen lassen, andererseits charakteristische Differenzen zeigen, die Aufschlüsse über die literarische Entwicklung Trakls geben. Die links stehende Fassung ist die mittlere.

So ist das Gedicht von sechs Strophen in den ersten beiden Fassungen auf vier Strophen in der dritten Fassung reduziert. In der dritten Fassung fehlen die Strophen drei und vier, in denen "Liebende" und ein "Knabe" bzw. "Jüngling" genannt werden. Bereits in der zweiten Fassung finden sich Änderungen, die diese Streichung vorbereiten. Denn es sind gerade diese beiden Strophen, die stark verändert werden. Waren es in der ersten Fassung Wolken, die mit Liebenden verglichen werden, sind es nun Mädchen. Dabei bemühte sich Trakl, trotz der gravierenden semantischen Verschiebung den Klang zu bewahren. Aus "blauen Wind" wird "blaß und blind". Besonders gravierend sind die Veränderungen in der vierten Strophe. Hier bemüht sich Trakl, die in der dritten Strophe verlorengegangene Farbe Blau einzuführen, indem er aus "warm und rot" macht "blau und rot". Aus dem Knaben, der "die Hände hob und leise lachte" wird ein Jüngling, dessen (?) "Lider flattern angstverwirrt und leise".

Charakteristisch ist auch die Veränderung des Titels von "Im Spital" über "Menschliches Elend" bis "Menschliche Trauer". Unter dem Titel "Menschliches Elend" hat Trakl den Text in die Sammlung "Gedichte" aufgenommen, die er November/Dezember 1912 zusammengestellt und April 1913 revidiert hat. Die erste Fassung könnte bereits Mitte 1910 vorgelegen haben, die zweite Fassung stammt vermutlich von November/Dezember 1912, die dritte von Oktober 1914.

Insgesamt können wir die Entwicklung von einem stark und bisweilen auch schlicht "expressionistisch" anmutenden Gedicht (mit Bilderhäufungen, Reihungen, Brüchen, Parataxen, semantischen Unbestimmtheiten) über ein straffer organisierte Gestaltung mit noch immer expressionistisch-pathetischem Grundton ("Elend") bis hin zu einem geschlossen und bestimmt geformten Werk von reifem Traklschem Ton registrieren.





MUSIK IM MIRABELL
(2. Fassung)

Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn
Im klaren Blau, die weißen, zarten.
Bedächtig stille Menschen gehn
Am Abend durch den alten Garten.

Der Ahnen Marmor ist ergraut.
Ein Vogelzug streift in die Weiten.
Ein Faun mit toten Augen schaut
Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten.

Das Laub fällt rot vom alten Baum
Und kreist herein durchs offne Fenster.
Ein Feuerschein glüht auf im Raum
Und malet trübe Angstgespenster.

Ein weißer Fremdling tritt ins Haus.
Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge.
Die Magd löscht eine Lampe aus,
Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.




Musikalisch ist nicht nur der Titel, auch die Strophen dieses Gedichtes, Vierzeiler mit umarmenden Reimen, klingen in besonderem Maße.

Inhaltlich begegnen dann jedoch erstaunlich wenige Klänge, "Ein Brunnen singt" und "Das Ohr hört nachts Sonatenklänge". Das war es dann auch schon - allerdings an prominenten Stellen, in der ersten und in der letzten Zeile des Gedichtes. Ansonsten und dazwischen haben wir eher statuarische Genrebilder vor uns, mit festen Pinselstrichen gemalt. "Die Wolken stehn/Im klaren Blau", "Ein Faun mit toten Augen schaut" oder "Ein Feuerschein glüht auf im Raum" können dafür stehen.

In "Musik im Mirabell" verbinden sich damit drei Künste, Literatur, Musik und Malerei. Dazu ist auch die dramatische Kunst anwesend, erinnernd an Bühnenstücke des Expressionismus oder frühe Murnau-Filme: "Schatten, die ins Dunkel gleiten", "malet trübe Angstgespenster" oder "Ein weißer Fremdling tritt ins Haus". Die Verschmelzung der Künste wie die Gestaltung von Synästhesien sind Programm bereits im Symbolismus des 19. Jahrhunderts und bestimmen die Kunst zum Beginn des 20. Jahrhunderts in besonderer Weise, wie in den Bildern von Wassily Kandinsky und denen des Kubismus - etwa bei Pablo Picasso, "Frau mit einer Gitarre".

"Mirabell" ist ein Schloss bei Salzburg, mit einem Garten, der ganz konkret "der Ahnen Marmor" zeigt. Berühmte Brunnen gibt es im Park auch, den Pegasusbrunnen und den zentralen Springbrunnen mit Figurengruppen zu den vier Elementen Wasser, Luft, Feuer und Erde. Trakls Text nimmt diese lokale Wirklichkeit allerdings nur als Bilderfundus, aus dem er einen kaleidoskopischen Reigen seiner eigenen Imagination gestaltet.

Ein eher spielerisches Gedicht, das auch in seinen bedrohlichen Bildern, mit seinen "Angstgespenstern" und "verfallenen Gängen", die beklemmende Düsternis anderer Trakl-Gedichte nur ahnen lässt.






NACHTLIED

Des Unbewegten Odem. Ein Tiergesicht
Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit.
Gewaltig ist das Schweigen im Stein;

Die Maske eines nächtlichen Vogels. Sanfter Dreiklang
Verklingt in einem. Elai! dein Antlitz
Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser.

O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit.
An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe
Erscheint der Abglanz gefallener Engel.




Trakl ist nicht der Dichter der Nacht, auch wenn das Klischee es so will. Seine Tageszeit ist der Abend, auch der Morgen erscheint überdurchschnittlich oft. Gemeinsam ist den beiden das Motiv der Dämmerung, das gleichfalls häufig bei Trakl erscheint. Hier aber ein "Nachtlied".

Es hebt an mit "Odem", dem Beginn der Schöpfung, dem Lehm wird der Odem eingehaucht, die Menschheitsgeschichte beginnt. Diese Deutung mag vorschnell sein, doch der "Unbewegte" verweist deutlich darauf. Trakl verfügte, seine abgebrochene Schullaufbahn sollte nicht darüber hinwegtäuschen, über eine differenzierte humanistische Bildung. Und zu deren Beständen gehört auch die aristotelische Lehre von Gott als unbewegtem "erstem Beweger". "Ein Tiergesicht/Erstarrt vor Bläue" wird damit lesbar als eine höchst eigenwillige Interpretation der Darwinschen Lehre von der Abstammung des Menschen, amalgamiert mit der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Dieser Mensch verwandelt sich bei Trakl selbst in einen "Unbewegten". Als sei damit die dem Menschen höchste Form der Gottähnlichkeit erreicht, Schweigen im Stein, Maske. Was dieses Gedicht ausmacht, ist ganz offenkundig vielfach gestaltete Unbewegtheit. Die Unbewegtheit Gottes scheint widergespiegelt in der "Erstarrung" seines höchsten Geschöpfes, gestaltet nach seinem Vorbild. Der "Einsame", der Mensch im Spiegel der Wahrheit, ist gezeichnet durch seine "elfernbeinerne Schläfe", ein statuarisches Bild.

Doch diese Ebenbildlichkeit wird deutlich gebrochen. Ein anderes Bild schiebt sich dazwischen, das Bild des Narziß, der sich im Wasserspiegel selbst beschaut und verliebt in sich ertrinkt. Aber meint Trakl Narziß? Er nennt die Figur "Elai", Dreiklang in einem und vielfältig deutbar. "Elais" (Olivenmädchen) ist eine alte griechische Fruchtbarkeitsfigur. Aus ihrem Namen lässt sich sowohl Trakls "Elis" als auch "Elai" formen. Hebräisch "Eli'" bedeutet "mein Gott".

"Wie in Spiegelbildern" (Rilke zur Sammlung "Sebastian im Traum") geht dieses Gedicht, nicht Gott erscheint in den letzten Zeilen, sondern "der Abglanz gefallener Engel".





NACHTS

Die Bläue meiner Augen ist erloschen in dieser Nacht,
Das rote Gold meines Herzens. O! Wie stille brannte das LIcht.
Dein blauer Mantel umfing den Sinkenden;
Dein roter Mund besiegelte des Freundes Umnachtung.



Das Gedicht "Nachts" erscheint in seiner prägnanten Kürze wie das Programm einer Lyrik, die sich Dunkelheit zum Anlass einer Farbenwelt nimmt. Blau und Rot erscheinen je zweimal, Gold einmal - und dies bei gerade einmal vier Zeilen. Goethes Farbenlehre sei erinnert, wonach die Farben in der Begegnung von Licht und Finsternis entstehen. Trakl selbst schreibt an Ludwig von Ficker um den 07. Mai 1913, ihm sei dieses Gedicht "über alles teuer".

Als Interpret steht man vor diesem Text recht hilflos. Ein 'Sündenfall' von Blau zu Rot scheint gestaltet, die Bläue von Augen, ein Bild geistiger Welt, sei erloschen und ein roter Mund besiegele dieses Erlöschen als "Umnachtung". So könnte eine erste Paraphrase lauten. Aber mit der "Bläue meiner Augen" ist unmittelbar verbunden das "rote Gold meines Herzens". Und das angesprochene Gegenüber mit dem fatalen roten Mund verfügt auch über einen bergenden blauen Mantel, der Gottesmutter Maria gleich. Beide Bereiche, der des Ich und der des Gegenüber sind also durch Blau und Rot gleichermaßen bestimmt. Und dies im Falle des Ich in einer Apposition, die äußerst irritierend "Die Bläue meiner Augen" und "Das rote Gold meines Herzens" unmittelbar ineins setzt als "erloschen in dieser Nacht".

"Nachts" macht deutlich, dass wir uns hüten sollten davor, Trakls Werk eine bestimte einzelne Farbe als besonders "charakteristisch" zuzuordnen. Gerade in "Nachts" tritt uns Goethes "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben" aus dem "Faust" in neuer produktiver Bedeutung entgegen. Es ist ein ganzer Farbenkosmos, aufgespannt im Dreieck von Rot, Blau und Gold, der uns in Trakls Werk begegnet. Wobei wir Gold nicht als identisch mit Gelb nehmen dürfen, so nahe und verführerisch dies auch liegen mag. Das Gold hier ist ausdrücklich als "Das rote Gold" benannt. Was eher an das Komplementärfarbenverhältnis von Gelbrot/Gold und Blau denken ließe.

Wir sehen also schon an diesem kurzen Text, Trakls Farbenwelt läßt sich nicht über einen schlichten Leisten schlagen. Die Farbenlehre Goethes und des Bauhaus-Lehrers Johannes Itten mögen reflektierend für die Interpretation beigezogen werden - auf sie reduzieren dürfen wir Trakls Umgang mit den Farben gewiss nicht.





NACHTSEELE
(3. Fassung)

Schweigsam stieg vom schwarzen Wald ein blaues Wild
Die Seele nieder,
Da es Nacht war, über moosige Stufen ein schneeiger Quell.

Blut und Waffengetümmel vergangner Zeiten
Rauscht im Föhrengrund.
Der Mond scheint leise in verfallene Zimmer,

Trunken von dunklen Giften, silberne Larve
Über den Schlummer der Hirten geneigt;
Haupt, das schweigend seine Sagen verlassen.

O, dann öffnet jener die langsamen Hände
Verwesend in purpurnem Schlaf
Und silbern erblühen die Blumen des Winters

Am Waldsaum, erstrahlen die finstern Wege
In die steinerne Stadt;
Öfter ruft aus schwarzer Schwermut das Käuzchen den Trunkenen.






Von diesem Gedicht existieren drei Fassungen,  geschrieben vermutlich zwischen März (ungewiss) und 10. Juni 1914. Die dritte Fassung erschien im Juniheft 1914 von "Phöbus. Monatsschrift für Aesthetik und Kritik des Theaters". Von Trakl war der Text kurz vor Drucklegung auch für den Band "Sebastian im Traum" vorgesehen (Brief vom 10. Juni 1914), was dann nicht umgesetzt wurde.

Alle drei Fassungen sind aus fünf dreizeiligen Strophen gebaut. Bildlich bleiben die Strophen zwei bis fünf der ersten Fassung weitgehend erhalten - erheblich geändert wird lediglich Strophe fünf. Die erste Strophe der ersten Fassung wird jedoch schon in der zweiten Fassung aufgegeben. Die dann neu als 5. angefügte Strophe der zweiten Fassung wird in der dritten Fassung stark modifiziert.

Die aufgegebene erste Strophe der ersten Fassung lautet: "Stille wieder empfängt der modernde Wald/ Den lallenden Quell,/ Klage, die kristallen im Dunkel forttönt." 1911 hatte Trakl das "Klagelied" geschrieben, kurz vor seinem Tod schrieb er "Klage". Dass er hier auf eine Strophe verzichtet, die das Motiv der Klage in einer Form enthält, die man aus heutiger Sicht als "typischen Trakl-Ton" bezeichnen würde, spricht für das Qualitätsbewußtsein des Dichters, der eben nicht um des bloßen Effektes wegen Bilder beibehält, sondern durch und durch gestaltet. Da auch die zweite Strophe "Quell" enthält und in der dritten "Wasser" genannt wird, wird die erste Fassung des Gedichtes in der Wirkung durch Redundanz beeinträchtigt. Das hat wohl auch der Autor so wahrgenommen. "Getraklt", "vertraklt" oder wie immer man das lyrische Raunen im Trakl-Gefolge nennen mag (s. z.B. Beitrag von Rüdiger Görner zur Anthologie "Trakl-Echo" in "Die Presse" vom 16.11.2013), hat Trakl selbst nicht. Die Wandlung der Fassungen von "Nachtseele" zeigt, dass er selbst darauf achtete, seine "Manier", von der er im oft zitierten Brief an den Freund Buschbeck im Juli 1910 schreibt, und deren Weiterentwicklung nicht zur Manieriertheit werden zu lassen.

Die gestrichene erste Strophe enthielt auch eine kühne Apposition, die "Den lallenden Quell" mit "Klage" verbindet. In der zweiten und dritten Fassung steht dann zu Beginn eine Strophe, die gleichfalls uns mit einer irritierenden Apposition konfrontiert, die nun, an den ersten Platz gerückt, nachdrücklicher wirken kann: "ein blaues Wild" und "(d)ie Seele" werden so gefügt. "Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele" heißt es in "Kindheit" (Mitte 1913 geschrieben), eng verbunden dort mit "ein scheues Wild", das sich "Am Waldsaum" zeigt. Den "Waldsaum" finden wir in der letzten Fassung von "Nachtseele" auch wieder, in der neu gestalteten letzten Strophe.






OFFENBARUNG UND UNTERGANG

   Seltsam sind die nächtigen Pfade des Menschen. Da ich nachtwandelnd an steinernen Zimmern hinging und es brannte in jedem ein stilles Lämpchen, ein kupferner Leuchter, und da ich frierend aufs Lager hinsank, stand zu Häupten wieder der schwarze Schatten der Fremdlingin und schweigend verbarg ich das Antlitz in den langsamen Händen. Auch war am Fenster blau die Hyazinthe aufgeblüht und es trat auf die purpurne Lippe des Odmenden das alte Gebet, sanken von den Lidern kristallne Tränen geweint um die bittere Welt. In dieser Stunde war ich im Tod meines Vaters der weiße Sohn. In blauen Schauern kam vom Hügel der Nachtwind, die dunkle Klage der Mutter, hinsterbend wieder und ich sah die schwarze Hölle in meinem Herzen; Minute schimmernder Stille. Leise trat aus kalkiger Mauer ein unsägliches Antlitz - ein sterbender Jüngling - die Schönheit eines heimkehrenden Geschlechts. Mondesweiß umfing die Kühle des Steins die wachende Schläfe, verklangen die Schritte der Schatten auf verfallenen Stufen, ein rosiger Reigen im Gärtchen.

Schweigend saß ich in verlassener Schenke unter verrauchtem Holzgebälk und einsam beim Wein; ein strahlender Leichnam über ein Dunkles geneigt und es lag ein totes Lamm zu meinen Füßen. Aus verwesender Bläue trat die bleiche Gestalt der Schwester und also sprach ihr blutender Mund: Stich schwarzer Dorn. Ach noch tönen von wilden Gewittern die silbernen Arme mir. Fließe Blut von den mondenen Füßen, blühend auf nächtigen Pfaden, darüber schreiend die Ratte huscht. Aufflackert ihr Sterne in meinengewölbten Brauen; und es läutet leise das Herz in der Nacht. Einbrach ein roter Schatten mit flammendem Schwert in das Haus, floh mit schneeiger Stirne. O bitterer Tod.
   Und es sprach eine dunkle Stimme aus mir: Meinem Rappen brach ich im nächtigen Wald das Genick, da aus seinen purpurnen Augen der Wahnsinn sprang; die Schatten der Ulmen fielen auf mich, das blaue Lachen des Quells und die schwarze Kühle der Nacht, da ich ein wilder Jäger aufjagte ein schneeiges Wild; in steinerner Hölle mein Antlitz erstarb.
   Und schimmernd fiel ein Tropfen Blutes in des Einsamen Wein; und da ich davon trank, schmeckte er bitterer als Mohn; und eine schwärzliche Wolke umhüllte mein Haupt, die kristallenen Tränen verdammter Engel; und leise rann aus silberner Wunde der Schwester das Blut und fiel ein feuriger Regen auf mich.

   Am Saum des Waldes will ich ein Schweigendes gehn, dem aus sprachlosen Händen die härene Sonne sank; ein Fremdling am Abendhügel, der weinend aufhebt die Lider über die steinerne Stadt; ein Wild, das stille steht im Frieden des alten Hollunders; o ruhlos lauscht das dämmernde Haupt, oder es folgen die zögernden Schritte der blauen Wolke am Hügel, ernsten Gestirnen auch. Zur Seite geleitet stille die grüne Saat, begleitet auf moosigen Waldespfaden scheu das Reh. Es haben die Hütten der Dörfler sich stumm verschlossen und es ängstigt in schwarzer Windesstille die blaue Klage des Wildbachs.
   Aber da ich den Felsenpfad hinabstieg, ergriff mich der Wahnsinn und ich schrie laut in der Nacht; und da ich mit silbernen Fingern mich über die schweigenden Wasser bog, sah ich daß mich mein Antlitz verlassen. Und die weiße Stimme sprach zu mir: Töte dich! Seufzend erhob sich eines Knaben Schatten in mir und sah mich strahlend aus kristallnen Augen an, daß ich weinend unter den Bäumen hinsank, dem gewaltigen Sternengewölbe.

   Friedlose Wanderschaft durch wildes Gestein ferne den Abendweilern, heimkehrenden Herden; ferne weidet die sinkende Sonne auf kristallner Wiese und es erschüttert ihr wilder Gesang, der einsame Schrei des Vogels, ersterbend in blauer Ruh. Aber leise kommst du in der Nacht, da ich wachend am Hügel lag, oder rasend im Frühlingsgewitter; und schwärzer immer umwölkt die Schwermut das abgeschiedene Haupt, erschrecken schaurige Blitze die nächtige Seele, zerreißen deine Hände die atemlose Brust mir.

   Da ich in den dämmernden Garten ging, und es war die schwarze Gestalt des Bösen von mir gewichen, umfing mich die hyazinthene Stille der Nacht; und ich fuhr auf gebogenem Kahn über den ruhenden Weiher und süßer Frieden rührte die versteinerte Stirne mir. Sprachlos lag ich unter den alten Weiden und es war der blaue Himmel hoch über mir und voll von Sternen; und da ich anschauend hinstarb, starben Angst und der Schmerzen tiefster in mir; und es hob sich der blaue Schatten des Knaben strahlend im Dunkel, sanfter Gesang; hob sich auf mondenen Flügeln über die grünenden Wipfel, kristallene Klippen das weiße Antlitz der Schwester.

   Mit silbernen Sohlen stieg ich die dornigen Stufen hinab und ich trat ins kalkgetünchte Gemach. Stille brannte ein Leuchter darin und ich verbarg in purpurnen Linnen schweigend das Haupt; und es warf die Erde einen kindlichen Leichnam aus, ein mondenes Gebilde, das langsam aus meinem Schatten trat, mit zerbrochenen Armen steinerne Stürze hinabsank, flockiger Schnee.




Die drei Traklschen Prosatexte von besonderer literaturhistorischer Relevanz, "Verwandlung des Bösen", "Traum und Umnachtung" und "Offenbarung und Untergang", haben die Forschung stets irritiert. Sie erscheinen wie explizierte, auserzählte Gedichte, Gedichte, denen das fehlt, was konventionell Gedichte ausmacht, die Konzentration, die Leerstellen, die klar gegliederte rhythmisch-metrische Gestalt (auch wenn eine solche anklingt). Denen aber auch klare Erzählmerkmale fehlen: Eine interessante Situation, deren Hintergründe und Folgen erschlossen werden. Handelnde Figuren. Zeitlicher Ablauf. Eine narrative Struktur ist nicht zu erkennen. Man könnte sie als Versuche zu Gedichterzählungen verstehen. Die Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, Walter Killy und Hans Szklenar, haben sie in ihrem Verzeichnis kurzerhand unter die Gedichte gereiht. Dafür spricht die Gestaltbildung durch Aliterationen und Assonanzen sowie ein durchaus - trotz des Verzichtes auf Zeilengliederung - deutlicher Rhythmus.

Wir sollten diese Prosastücke Trakls nicht vorschnell als Verirrungen des Lyrikes in fremdes Gelände oder "Experiment" abtun. Sie enthalten den Wortschatz und die Bilder der Gedichte und könnten helfen, die Gedichte besser zu verstehen und zu würdigen. Für Trakl selbst waren sie offensichtlich von großer Bedeutung, er hatte zwei davon in "Sebastian im Traum" zur Veröffentlichung vorgesehen, eines in der dritten Person erzählt ("Traum und Umnachtung"), eines in der zweiten Person ("Verwandlung des Bösen") - dazu kommt in "Sebastian im Traum" noch der Prosatext "Winternacht", gleichfalls in der/für die zweite/n Person geschrieben. "Offenbarung und Untergang" entstand Mai 1914 in Innsbruck (laut Auskunft L. v. Ficker), wurde 1915 post mortem im "Brenner" - und damit an höchst bedeutsamer Stelle - veröffentlicht und ist in der ersten Person erzählt.

Der Titel deutet schon an, dass wir keine Erzählung, sondern eher eine Bekenntnisschrift erwarten sollten. Mit dem einleitenden Satz "Seltsam sind die nächtigen Pfade des Menschen" wird allerdings der Horizont einer Novelle skizziert. Wir sollen neugierig gemacht werden auf eine Geschichte, die uns etwas über die "nächtigen Pfade des Menschen" verrät. Erzählt, und das ist ungewöhnlich, wird in der Ich-Form. Ungewöhnlich, aber von der romantischen Literaturtradition her durchaus vertraut (denken wir etwa an Novalis, "Hymnen an die Nacht" oder E.T.A. Hoffmanns "Nachtstücke"), ist aber vor allem der Inhalt. Es geht augenscheinlich um innerpsychische Vorgänge, vieles klingt halluziniert oder traumhaft, doch erzählt wird mit realistischem Gestus. Der Text beansprucht Faktizität für das, was er vorträgt, auch wenn er uns ratlos lässt damit, was wir anfangen sollen mit einem Satz wie: "In dieser Stunde war ich im Tod meines Vaters der weiße Sohn."

Die Vater-Sohn-Konstellation könnte uns im Kontext der religiösen Anklägen in diesem Text auf das biblische Vater-Sohn-Verhältnis führen. Es ist allerdings auch eine eher weltliche Familienkonstellation als Vorwurf dieser "Novelle", wenn wir den Text einmal so nennen wollen, denkbar. Vater, Mutter und Sohn erscheinen im ersten Absatz. Dann tritt im zweiten die "Schwester" auf, in Bildern, die wir auch aus den Gedichten Trakls kennen: "Aus verwesender Bläue trat die bleiche Gestalt der Schwester und also sprach ihr blutender Mund: Stich schwarzer Dorn". Es liegt nahe, von dieser Passage her auf das Gedicht "Frühling der Seele II" zu blicken, auf den Passus "Schwester, da ich dich fand an einsamer Lichtung/Des Waldes und Mittag war und groß das Schweigen des Tiers;/Weiße unter wilder Eiche, und es blühte silbern der Dorn." Doch was ist damit gewonnen? Dürfen wir "es blühte silbern der Dorn" interpretatorisch verbinden mit "Stich schwarzer Dorn"? Und dann gar noch in einer psychoanalytisch ansetzenden Deutung als Phallussymbolik wechselseitig übertragen? Ist nicht vielmehr darauf zu verweisen, das "Silbern" und "Schwarz" bei Trakl unterschiedliche Bereiche zugeordnet sind. Schwarz tritt zumeist im Umkreis von Verwesung, Verfall und Krankheit auf, Silbern dagegen verbunden mit Licht, Leuchten und heilenden Klängen.

Eine stärker biographisch-psychologisch ansetzende Deutung des Traklschen Werkes mag in den Prosatexten Material für eine Werkerhellung sehen, ich persönlich stehe diesen Texten weit ratloser als den Gedichten gegenüber.


Lektüreempfehlung: Franz Fühmann, Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht, Rostock 1982





PASSION
(3. Fassung)


Wenn Orpheus silbern die Laute rührt,
Beklagend ein Totes im Abendgarten,
Wer bist du Ruhendes unter hohen Bäumen?
Es rauscht die Klage das herbstliche Rohr,
Der blaue Teich,
Hinsterbend unter grünenden Bäumen
Und folgend dem Schatten der Schwester;
Dunkle Liebe
Eines wilden Geschlechts,
Dem auf goldenen Rädern der Tag davonrauscht.
Stille Nacht.

Unter finsteren Tannen
Mischten zwei Wölfe ihr Blut
In steinerner Umarmung; ein Goldnes
Verlor sich die Wolke über dem Steg,
Geduld und Schweigen der Kindheit.
Wieder begegnet der zarte Leichnam
Am Tritonsteich
Schlummernd in seinem hyazinthenen Haar.
Daß endlich zerbräche das kühle Haupt!

Denn immer folgt, ein blaues Wild,
Ein Äugendes unter dämmernden Bäumen,
Dieser dunkleren Pfaden
Wachend und bewegt von nächtigem Wohllaut,
Sanftem Wahnsinn;
Oder es tönte dunkler Verzückung
Voll das Saitenspiel
Zu den kühlen Füßen der Büßerin
In der steinernen Stadt.




Entstanden Anfang 1914 gehört "Passion" zu den späten Texten Trakls, in denen sich Bilder aus den vier sein Werk bestimmenden Themenbereichen Tod/Verfall, Schwester/Liebe, Kindheit/Goldenes und Wahnsinn/Wohllaut wie in einer Quintessenz versammeln, Texte von bestürzender Intensität und Dichte.

Der Titel enthält in seiner Doppeldeutigkeit von "Leidenschaft" und "Leidensgeschichte" schon das Programm dieses Gedichtes, das in der ersten Zeile mit Orpheus eine zentrale Figur der antiken Mythologie zitiert, die in dieser Doppeldeutigkeit ihre Bestimmung hat. Mit Orpheus zusammen wird "ein Ruhendes" genannt, das an "Elis" erinnert, wo es heißt "Unter alten Eichen/Erscheinst du, Elis, ein Ruhender mit runden Augen". Es ist in der Forschung umstritten, ob wir solche Bezüge als interpretatorische Hilfen nehmen dürfen, oder ob wir eher von der je neuen Verwendung eines Bildes in disparaten Kontexten ausgehen müssen. In der Handschrift wird im Kontext von "stille Nacht" auch "Christus" genannt.

In der zweiten Strophe wird der Knabenmythos explizit angesprochen. Der "zarte Leichnam" schlummere in seinem "hyazinthenen Haar" - in einer früheren Fassung des Gedichtes ist vom "hyazinthenen Knaben" die Rede. Dieser Mythos erscheint hier verbunden mit dem Schwester-Thema, das in "Mischten zwei Wölfe ihr Blut/In steinerner Umarmung" brachial gewendet wird, wenn wir diese Wendung denn verknüpfen dürfen über "Dunkle Liebe/Eines wilden Geschlechts" in der Strophe davor mit "Schatten der Schwester". In "Traum und Umnachtung" wird der "Knabe", um den es geht, in einer Apposition auch "ein flammender Wolf" genannt.

In der dritten Strophe werden "Wahnsinn" und "Wohllaut" in eine komplexe Bildwelt eingebettet, die sich zwischen naturhafter Bewegung und städtisch-zivilisatorischer Erstarrung in Klängen aufzulösen scheint, auch sprachlich, wenn wir etwa die Vokalstruktur dieser Strophe mit ihrer Dominanz tiefer Laute betrachten. In "Dieser dunkleren Pfaden" dürfte ein Lesefehler vorliegen. Vermutlich muss es heißen "Diesen dunkleren Pfaden" - bezogen auf das Verb "folgt".

Farblich ist das Gedicht von Gold und Blau bestimmt, was die religiöse Konnotation des Titels bestätigt, insbesondere im Blick auf die Marienikonographie. Die Präsenz von Blau verweist auf das Gedicht "Kindheit". Die Präsenz von Gold auf "Grodek". Blau sind in "Passion" der Teich und das Wild (Franz Marc malt zwischen 1911 und 1914 blaue Pferde, Rehe, Wildschweine, Füchse und Katzen), golden die Räder des Sonnenwagens (wenn wir das Ende der ersten Strophe so naheliegend interpretieren) und "die Wolke". Wie in "Grodek" ist Gold einem Verlust zugeordnet, einem sich Entziehenden. Und wie in "Kindheit" gehört Blau der Ursprungssphäre an, die in die Gegenwart hineinragt.




PSALM I

Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
Die Männer führen kriegerische Tänze auf.
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.

Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen.
Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an.
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters,
Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut.
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten.
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen.
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende.
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf.

Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen.
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Schatten.
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach.
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab.
Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen.
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher.
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels.
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee,
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben vom Märchen und heiligen Legenden.

Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt.
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen.
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer.
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln.
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit.
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.

Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.



Hier klingt das berühmte "Il y a une" aus Rimbauds Gedicht "Enfance" an. Allerdings sind die Bilder, die Trakl damit gestaltet, ganz andere als bei Rimbaud.

Der Text ist vollgepackt mit Bildern, wirkt überladen und etwas beliebig in der Bildfolge. Geschrieben wurde er im September 1912, Trakl lebte in Innsbruck, die Probezeit seiner Stelle als Militärapotheker im Garnisonsspital lief Ende des Monats aus, seine Zeugnisse waren günstig.

Formal ist der Text klar gegliedert in vier Strophen mit jeweils neun Zeilen unterschiedlicher Länge und ohne Reime. Dazu kommt die Schlusszeile "Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen".

Inhaltlich lassen sich die vier Strophen durchaus sinnvoll differenzieren. In der ersten Strophe wird die Ausgangssituation beschrieben, in einem Doppelbild, wovon ein Part der Umwelt Trakls zugeordnet werden kann, mit prekären Fluchtorten wie "Heidekrug", und der andere Part eine exotische Idylle darstellt, in der "Südsee", die zu Trakls Zeiten noch nicht ganz so abgegriffen war wie heute. Beide Bilder können verstanden werden als "verlorenes Paradies". In der zweiten Strophe werden die Konsequenzen des Paradiesverlustet beschrieben. Pan, einst Hirten- und Rauschgott, kehrt als Sohn "in Gestalt eines Erdarbeites" zurück. Armut steht neben Reichtum, Luxus neben Seuchen - das gerechte Maß ist abhanden gekommen. In der dritten Strophe erscheinen als bizarre Konfigurationen von Adam und Eva ein "jemand" und eine "Schwester" sowie weitere merkwürdige Figuren, die dem Fundus romantischer Literatur entnommen scheinen, Student, Doppelgänger, toter Bruder, junger Novize, Kinder des Hausmeisters, kleine Blinde. Ihre Aktionsfelder sind "böse Träume", "Endakkorde", "Märchen" und "heilige Legenden". Die vierte Strophe gestaltet dann eine endzeitlich zu nennende Stimmung, mit einem leeren Bott auf einem schwarzen Kanal als Einstiegsbild, es "verfallen menschliche Ruinen", "tote Waisen" liegen am Garten, Engel haben "kotgefleckte Flügel" und wie in barocken Vanitasdarstellungen hängen Würmer aus Totenschädeln.

Für die oft zitierte letzte Zeile des Gedichtes hatte Trakl als Alternative "Wie eitel ist alles!" erwogen. Dies verweist ganz deutlich auf eine Lektüre im Sinne barocker Vanitas-Konzepte. Damit bekommt auch die "Überladenheit" des Textes ihre Berechtigung. Ein Vergleich mit dem "Psalmus 120" von Andreas Gryphius bringt inhaltlich zwar keine weiter führende Erhellung, zeigt aber doch die Gattung, der Trakls Text zuzuordnen ist. Es ist die Tradition religiöser Klagelieder, die in der Anrufung Gottes als letzter und einzig verbürgter Hilfe münden. Im übrigen, auch wenn dieser Bezug nicht zu hoch bewertet werden sollte, arbeitet auch Gryphius mit neunzeiligen Strophen.





ROMANZE ZUR NACHT

Einsamer unterm Sternenzelt
Geht durch die stille Mitternacht.
Der Knab aus Träumen wirr erwacht,
Sein Antlitz grau im Mond verfällt.

Die Närrin weint mit offnem Haar
Am Fenster, das vergittert starrt.
Im Teich vorbei auf süßer Fahrt
Ziehn Liebende sehr wunderbar.

Der Mörder lächelt bleich im Wein,
Die Kranken Todesgrausen packt.
Die Nonne betet wund und nackt
Vor des Heilands Kreuzespein.

Die Mutter leis’ im Schlafe singt.
Sehr friedlich schaut zur Nacht das Kind
Mit Augen, die ganz wahrhaft sind.
Im Hurenhaus Gelächter klingt.

Beim Talglicht drunt’ im Kellerloch
Der Tote malt mit weißer Hand
Ein grinsend Schweigen an die Wand.
Der Schläfer flüstert immer noch.




"Romanze zur Nacht" ist eines der an Personal reichsten Gedichte Trakls. Es treten auf, in folgender Reihenfolge: ein Einsamer, ein Knabe, eine Närrin, Liebende, ein Mörder, Kranke, eine Nonne, eine Mutter, ein Kind, (Huren/Freier - im Off), ein Toter, ein Schläfer. Und dies in fünf Strophen zu je vier Zeilen. Dies ist bemerkenswert auch im Blick auf den Titel, der traditionell eine der Ballade nahe stehende Erzählform in Versen benennt, mit in der Regel historischem (nicht immer verbürgtem, oft sagenhaftem) Gehalt.

Der historische Gehalt scheint hier ganz der Gegenwart entnommen, es werden Szenen einer räumlich und zeitlich nicht genauer bestimmten Wirklichkeit geschildert. Aus heutiger Sicht fällt der gleichsam filmische Blick auf, mit hart nebeneinander gesetzten Szenen, die am ehesten dem Stadtleben zuzuordnen sind. Es scheint eine Klinik zu geben, ein Kloster, ein Hurenhaus.

In jeder Strophe sind zwei Szenen gestaltet, klar durch einen Punkt getrennt. In den ersten drei Strophen nehmen diese beiden Szenen jeweils zwei Zeilen ein. In der vierten und fünften Strophe nimmt die erste Szene drei Zeilen, die zweite nur eine Zeile ein. Den beiden letzten Strophen kommt damit ein akzentuiert erzählerischer Gestus zu, der den lakonischen Charakter der ersten drei Strophen nicht zurücknimmt, aber doch erheblich relativiert und die dort skizzierten Szenen zum Beiwerk eines seltsamen Hauswesens macht, in welchem oben eine auf den ersten Blick idyllische Mutter-Kind-Beziehung sich abspielt, unten, "im Kellerloch" ein Toter seine Zeichen malt.

Dass die Mutter-Kind-Beziehung prekär ist, darauf verweist nicht nur der Tote im Kellerloch, sondern auch die Verkehrung der konventionellen Szene "zur Nacht", in welcher eine Mutter ihr Kind in den Schlaf singt. Hier singt die Mutter "im Schlafe" - und das Kind liegt mit offenen Augen da, ist der Nacht und der Wahrheit geheimnisvoll verbunden.






RONDEL


Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben
Des Abends blau und braune Farben
Verflossen ist das Gold der Tage.





Die Schreibweise des Titels deutet darauf hin, dass Trakl sich hier an einem französischen Vorbild orientierte, an einer Gedichtform, die "rondel" oder "rondeau ancien" genannt wurde und wird. Ausgezeichnet ist diese Form u.a. durch die Reduktion auf zwei Reime, AB, und Wiederholungen von Wörtern und ganzen Verszeilen. Bei Trakl lautet die Ausführung: ABBBA. Der Fünfzeiler besteht nur aus drei zeilengebundenen (Teil-)Sätzen, von denen zwei fast identisch wiederholt werden, gruppiert um die mittlere Zeile. Damit bekommt das Gedicht schon auf der formalen Ebene eine äußerste Abrundung und Geschlossenheit. Bemerkenswert ist dabei die minimale Verschiebung in der Wiederholung von "Des Abends braun und blaue Farben" zu "Des Abends blau und braune Farben", unterstrichen durch den Wegfall der ersten Adjektivendung.

Dies lenkt unser Augenmerk auf den Einsatz der Farben in diesem Gedicht. Wie in vielen Texten Trakls spielen Gold und Blau eine herausragende Rolle, hier kommt noch Braun dazu. Gold trägt wieder die Bedeutung eines sich Entziehenden - wie etwa in "Passion" und "Grodek". Blau und Braun treten bei Trakl häufig zusammen im Kontext eines naturhaft-umfassenden Ursprungsmythos. Hier sind sie gleichfalls der Bestimmung durch "verflossen" unterworfen. Diese Botschaft wird auch noch für den Lautbereich bestätigt: Die "sanften Flöten" des Hirten "starben", auch ihre Klänge sind so dem Bereich des Verflossenen, Vergangenen zugeordnet.

Ungeachtet der tänzerisch-leichten Form dieses Rondels bekommt das Gedicht so auf der Bildebene einen eher resignativen Charakter, der jedoch eigentümlich unverbindlich bleibt. Geschrieben wurde das Gedicht wohl zum Herbstanfang 1912, in einer Zeit persönlicher Erfolge Trakls und einer insgesamt eher positiven Grundstimmung, abzulesen an den Briefen aus der Zeit danach, die er im Oktober 1912 aus Innsbruck schrieb.






RUH UND SCHWEIGEN


Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald.
Ein Fischer zog
In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.

In blauem Kristall
Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt;
Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.

Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel
Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen,
Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel.

Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein;
Ein strahlender Jüngling
Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung.



Ein ausgesprochen bildhaft-poetischer Text, selbst im bilderreichen Werk Trakls als solcher auffallend, mit zahlreichen mythologischen und literarischen Anspielungen. Die "blaue Blume" der Romantik ist präsent, ein "strahlender Jüngling" (Helden- und Erlöserfigur), der Vogelflug (seit den Etruskern bekanntes Medium der Zukunftsdeutung). Zugleich schuf Trakl mit diesem Text einige seiner wirkmächtigsten Bilder, die eine eigene Mythologie zu entwerfen scheinen. So etwa die Bilder der begrabenen Sonne und des von Fischern aus dem Weiher gezogenen Mondes.

Das Schwester-Bild erfährt hier eine aufschlussreiche Gestaltung, insofern die Schwester als "strahlender Jüngling" charakterisiert wird. Mit Blick auf die Deutung der Schwesterfigur durch Erich Neumann ("Ursprungsgeschichte des Bewußtseins") kann von einer erlösenden Funktion der Schwester gesprochen werden, die dem Helden des Textes ("bleicher Mensch", "Schauender") "in Herbst und schwarzer Verwesung" erscheint.

Der bildliche Aufbau ist streng. Die erste Strophe ist dominiert durch typologische Figuren mit archaischer Anmutung, "Hirten" und "Fischer". Ihnen korrespondieren die zentralen Phänomene einer menschheitsbezogenen Kosmologie: Sonne und Mond. In den beiden mittleren Strophen agiert der Held, ein Anti-Held, gezeichnet als "bleicher Mensch" und "Schauender", körperlich nur präsent durch "Wange" und "Stirn". In der vierten und abschließenden Strophe erscheint die Partnerin des Helden, wenn wir die Neumannsche Archtypencharakterisierung aufgreifen wollen, die "Schwester".

Allerdings fällt es schwer, diese beiden Figuren in folgsamer Neumann-Lektüre als männliches und weibliches Prinzip zu deuten. Beide tragen vielmehr androgyne Züge, der Held als "Mensch" genannt, die Heldin als "Jüngling". Das Schlussbild des Textes, "Herbst und schwarze Verwesung" markiert einen Ort, der wenig zu heroischer Überwindung taugt.






SOMMER


Am Abend schweigt die Klage
Des Kuckucks im Wald.
Tiefer neigt sich das Korn,
Der rote Mohn.

Schwarzes Gewitter droht
Über dem Hügel.
Das alte Lied der Grille
Erstirbt im Feld.

Nimmer regt sich das Laub
Der Kastanie.
Auf der Wendeltreppe
Rauscht dein Kleid.

Stille leuchtet die Kerze
Im dunklen Zimmer;
Eine silberne Hand
Löschte sie aus;

Windstille, sternlose Nacht.



Der Kuckuck gehört zu den Zugvögeln, die bei Trakl fester Bestand seiner Bilderwelt sind. Der Kuckuck ist dabei ein besonders prägnanter Zugvogel, da er bereits ab Ende Juni seinen Zug nach Süden antritt und sich somit nur kurze Zeit, etwa 10 Wochen, in seinem Brutquartier aufhält. Ein "Fremdling" ist er auch insofern, als er seine Eier nicht selbst ausbrütet, sondern von verschiedenen anderen Vogelarten ausbrüten lässt. Die unfreiwilligen Gasteltern übernehmen auch die Aufzucht der jungen Kuckuckskinder. Ist dies der Hintergrund für Trakls Deutung des Kuckucksrufs als "Klage"?

In Trakls Gedicht "schweigt die Klage" des Kuckucks. Will Trakl damit andeuten, dass der Kuckuck bereits fortgezogen ist - oder nur, dass er seinen Ruf nicht hören lässt? Letzteres ist eher zu vermuten, denn das Zugverhalten des Kuckucks wurde erst in den vergangenen Jahrzehnten erhellt und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von zahlreichen Mystifizierungen umstellt. Die Kuckucksrufe wurden in der Volkskultur auch als Orakel verstanden - somit wird Trakls schweigender Kuckuck auch deutbar als schweigendes Orakel, das eine Auskunft über die Zukunft verweigert.

Der Stille des Kuckucks korrespondiert eine Pflanzenwelt, die sich niederzuducken scheint, "tiefer" neigen sich Korn und Mohn. Dazu fügt sich eine dunkle Gewitterstimmung, Ruhe vor dem Sturm wird greifbar, das Laub am Kastanienbaum rührt sich nicht, in der letzten Zeile finden wir auch explizit "Windstille" angesprochen. Das "nimmer" deutet auf einen voraufgegangen Zustand hin, in welchem ein Wind sich regte, das Korn aufgerichtet war und der Kuckuck sich hören ließ. Zugleich gibt es dem jetzigen Zustand von Stille und Reglosigkeit eine unbestimmte Dauer, einen Zug von Endgültigkeit - verstärkt durch die Wendung "Das alte Lied der Grille/Erstirbt im Feld".

Nur eine Bewegung, geräuschvoll, nennt das Gedicht: "Auf der Wendeltreppe/Rauscht dein Kleid". Doch diese Bewegung bleibt draußen, dem Gedicht fern, das fortfährt mit "Stille" in einem "dunklen Zimmer". Ein seltsames Zeitparadox irritiert dann. Die Kerze leuchtet gegenwärtig und zugleich wird von ihr gesagt, sie sei ausgelöscht worden.

Das Gedicht gehörte zur Sammlung "Sebastian im Traum" und ist erst mit der Manuskriptsendung an den Kurt Wolff Verlag vom 06. März 1914 belegt. Innerhalb der Sammlung gehört es zur Abteilung "Gesang des Abgeschiedenen".

 




SONJA

Abend kehrt in alten Garten;
Sonjas Leben, blaue Stille.
Wilder Vögel Wanderfahrten;
Kahler Baum in Herbst und Stille.

Sonnenblume, sanftgeneigte
Über Sonjas weißes Leben.
Wunde, rote, niegezeigte
Läßt in dunklen Zimmern leben,

Wo die blauen Glocken läuten;
Sonjas Schritt und sanfte Stille.
Sterbend Tier grüßt im Entgleiten,
Kahler Baum in Herbst und Stille.

Sonne alter Tage leuchtet
Über Sonjas weiße Brauen,
Schnee, der ihre Wangen feuchtet,
Und die Wildnis ihrer Brauen.




Trakls Neigung zu Dostojewski ist bekannt. Hans Limbach berichtet, Trakl habe von der Sonja aus "Schuld und Sühne" "mit tiefer Ergriffenheit" gesprochen ("Erinnerung an Georg Trakl", 1966, S. 125).

Auf den ersten Blick hat das Gedicht "Sonja" mit Dostojewskis "Schuld und Sühne" (in neuerer Übersetzung, nahe am russischen Original, auch "Verbrechen und Strafe", angeboten wird ferner "Übertretung und Zurechtweisung") wenig zu tun. Ort des Gedichtes ist ein Garten, die Tageszeit ist der Abend, Jahreszeit der Herbst. Wir haben also für Trakl als typisch geltende Orts- und Zeitbestimmungen. Auch die in der ersten Strophe genannten Motive, Stille und Vogelzug, die Farbe Blau, die Charakterisierung des Gartens als "alt" und der Vögel als "wild" entsprechen häufigen inhaltlichen Elementen Traklscher Lyrik.

In der Form ist das Gedicht liedhaft. Vier Strophen zu je vier Zeilen, Reimschema ist abab. Erste und dritte Strophe haben Refraincharakter, durch die Wiederholung des Reimwortes "Stille" und die Identität der jeweils letzten Zeile. Der Liedcharakter wird auch unterstrichen durch die Nennung von Sonja jeweils in den zweiten Zeilen aller Strophen.

Im Zentrum steht die Frauenfigur der Sonja, die bei Dostojewski Prostituierte aus Armut ist und deren Liebe und Verständnis den "sündigen" Raskolnikow, der zum Doppelmörder geworden war, zu Reue und Umkehr führt. Bei Trakl wird davon nichts angesprochen. Sein Gedicht kann vielmehr als Versuch gelesen werden, Sonja ganz unabhängig von Raskolnikow in ihrem Eigensein zu begreifen. Sie lebt in "dunklen Zimmern" und wird begleitet, sofern wir so weit gehen wollen, diesen Bezug herzustellen, von "wilden Vögeln" und einem "sterbend Tier".

Unübersehbar sind die Entsprechungen zur Gestaltung des "Schwester"-Bildes bei Trakl. Auch die Schwester ist bei Trakl häufig "weiß" (oder auch "bleich"), auch sie ist durch eine "Wunde" gezeichnet. Im "Helian" heißt es: "in kalter Nacht die weißen Wangen der Schwestern", in "Offenbarung und Untergang" finden wir das Bild "und leise rann aus silberner Wunde der Schwester das Blut".

Das Thema "Schuld und Sühne" spricht Trakl auch in einem Aphorismus an, dessen zweite Hälfte lautet: "Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne."






ST.-PETERS-FRIEDHOF

Ringsum ist Felseneinsamkeit.
Des Todes bleiche Blumen schauern
Auf Gräbern, die im Dunkel trauern -
Doch diese Trauer hat kein Leid.

Der Himmel lächelt still herab
In diesen traumverschlossenen Garten,
Wo stille Pilger seiner warten.
Es wacht das Kreuz auf jedem Grab.

Die Kirche ragt wie ein Gebet
Vor einem Bilde ewiger Gnaden,
Manch Licht brennt unter den Arkaden,
Das stumm für arme Seelen fleht -

Indes die Bäume blüh’n zur Nacht,
Daß sich des Todes Antlitz hülle
In ihrer Schönheit schimmernde Fülle,
Die Tote tiefer träumen macht.




"Ringsum ist Felseneinsamkeit" gehört zu den großen Anfängen literarischer Texte, die das Gedächtnis ihrer Autoren bewahren, solange die Sprache lebendig ist, in der sie schrieben. Groß, da sie für sich stehen können, aber noch größer werden durch den Kontext, in welchem sie erstmals erschienen.

Der dieser Zeile vorangehende Titel des Gedichtes könnte lakonischer nicht sein, ein Ort wird genannt, mehr nicht, ein Friedhof in Salzburg, am Rande der historischen Altstadt - zu Trakls Zeiten am Stadtrand - gelegen, am Fuß des Festungsberges. Eine der beiden ältesten christlichen Begräbnisstätten in Salzburg. Was folgt ist eine dramatisch aufgeladene Zeile, "Des Todes bleiche Blumen schauern". Und dazwischen dieses unerhörte "Ringsum ist Felseneinsamkeit", Punkt.

Das eigentliche "Programm" des Gedichtes wird dann in der letzten Zeile der ersten Strophe genannt: "diese Trauer hat kein Leid". Der Friedhof als Ort zwar von Trauer, doch nicht von Leid. Das Leiden, so dürfen wir ergänzen, ist vorbei. Der genaue Blick zeigt uns zwar, dass explizit nur die Trauer der "Gräber" gemeint ist, doch die nachfolgenden Strophen legen nahe, dass es sich um mehr handelt, dass die christliche Botschaft gemeint ist, eine Botschaft von Auferstehung am jüngsten Tage, auf welche die "stillen Pilger", die Toten warten.

Nicht nur die christliche Botschaft, sondern, in einer für Trakl charakteristischen pointierten Wendung zum Gedichtende, mit den letzten beiden Versen, auch die "Schönheit" vermag den Tod zu mildern. "Zur Nacht" blühende Bäume sind es, die den Tod zu hüllen vermögen und die Toten "tiefer träumen" machen. Vor dieser Formulierung stehen wir etwas ratlos. Man könnte an den Platonismus und seine Schönheits-Lehre denken, aber diese wendet sich an Lebende, nicht an Tote. Und sie möchte erwecken, nicht tiefer träumen machen.






STUNDE DES GRAMS


Schwärzlich folgt im herbstlichen Garten der Schritt
Dem glänzenden Mond,
Sinkt an frierender Mauer die gewaltige Nacht.
O, die dornige Stunde des Grams.

Silbern flackert im dämmernden Zimmer der Leuchter des Einsamen,
Hinsterbend, da jener ein Dunkles denkt

Und das steinerne Haupt über Vergängliches neigt,

Trunken von Wein und nächtigem Wohllaut.
Immer folgt das Ohr
Der sanften Klage der Amsel im Haselgebüsch.

Dunkle Rosenkranzstunde. Wer bist du
Einsame Flöte,
Stirne, frierend über finstere Zeiten geneigt.


"Stunde des Grams" stammt aus dem Nachlass und wurde wohl Dezember 1913 in Innsbruch geschrieben. Also in der Zeit, als auch das Selbstportrait Trakls entstand mit den heftigen Rot- und Grüntönen. Trakl erwartete in Innsbruck den Bescheid des Arbeitsministeriums auf eine Anstellung im Sanitäts-Fachrechnungsdepartement. Um den 12. Dezember erhielt er die Ablehnung.

Auffallend sind zunächst in den ersten beiden Strophen Farb- und Bewegungswahrnehmungen, die einander merkwürdig zugeordnet sind. "Schwärzlich" wird der "Schritt" genannt. "Silbern" heißt es, "flackert" ein Leuchter. Das zweite Strophenpaar nennt dann Lautwahrnehmungen, "Wohllaut" und "sanfte Klage der Amsel" in der dritten Strophe, "einsame Flöte" in der vierten und letzten. Wobei die "einsame Flöte" nicht mehr zu klingen scheint, die letzte Strophe ist vielmehr durch Stille, Kälte und Dunkelheit charakterisiert.

Kälte ist allerdings auch schon Thema der ersten Strophe, wo von "frierenden Mauern" die Rede ist. Wir sind, bildlich, im Herbst, der, wie bei Trakl häufig, mit Garten verbunden ist ("im herbstlichen Garten") und weiters mit Dunkelheit ("schwärzlich", "Nacht"). Die letzte Strophe verstärkt diese Stimmung und gibt ihr eine kultisch-religiöse Note mit den Bildern "Rosenkranzstunde" und "Flöte".

Während das erste dieser Bilder auf den katholischen Kultus verweist, der Rosenkranzgebete vor allem auf den Abend legt und häufig Maria zum Andachtsmittelpunkt hat, deutet die "einsame Flöte" im religiösen Umkreis auf Pan. Wir könnten hier allerdings auch an das Flötenmotiv in Mozarts "Zauberflöte" denken. Die Apposition "Flöte, Stirne" bestätigt durchaus den Kontext der aufklärerischen Freimaurerei, da die "Stirne" sich "frierend über finstere Zeiten" neigt. Auch wenn "wer bist du" nur sehr verhalten Aufklärung einfordert.

Im Ablauf wiederholt das Gedicht ein Muster, das Trakl ähnlich in "Ein Herbstabend" gestaltet hat, nun dramatisch weiter verdichtet: Nämlich den Übergang von einer äußeren Bildwelt, geprägt durch Garten, Herbst und Jahresende, in einen Innenraum, wo ein "Einsamer" (in "Ein Herbstabend" ein "Einsames") sitzt. Das Gedicht "Verfall" hat eine ähnliche Dramaturgie, dort taucht auch die "Amsel" auf, bekanntlich kein Zugvogel, wie die in "Ein Herbstabend" angesprochenen Vögel, sondern, wie auch die einsame Figur, "überwinternd".






TRAUM DES BÖSEN


Verhallend eines Gongs braungoldne Klänge -
Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern
Die Wang' an Flammen, die im Fenster flimmern.
Am Strome blitzen Segel, Masten, Stränge.

Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge.
Guitarren klimpern, rote Kittel schimmern.
Kastanien schwül in goldnem Glanz verkümmern;
Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge.

Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen.
Ein Platz verdämmert grauenvoll und düster;
Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen
Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.
Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.



Die erste Fassung von "Traum des Bösen" entstand vermutlich Ende 1911/Anfang 1912 und wurde von Trakl in die Sammlung "Gedichte" aufgenommen. Zwei weitere Fassungen entstanden im August 1913 bzw. im Oktober 1914. Damit hat der Text eine ähnliche Geschichte wie der Text "Menschliches Elend". Allerdings lässt sich an den Fassungen von "Traum des Bösen" weniger prägnant die Entwicklung des Traklschen Stils verfolgen. Formal sind die Versionen identisch, in Strophenzahl, Strophenaufbau und Reimstruktur. Es handelt sich um Sonette mit der Reimstruktur ABBA ABBA CDD CCD. Inhaltlich gibt es nur geringfügige Differenzen, wobei die dritte Fassung weitgehend der ersten entspricht.

Wo in der ersten Fassung "Verhallend eines Gongs braungoldne Klänge" steht, finden wir in der dritten Fassung "Verhallend eines Sterbeglöckchens Klänge". Statt "Die Wang' an Flammen" steht "Die Wang' an Sternen", statt "im Fenster" steht "am Fenster". Weitere Änderungen gibt es nicht. Damit kann der vorliegende Text eine Gültigkeit beanspruchen, die weit über die der übrigen Trakl-Texte hinausgeht!

Mit dem Titel bekennt Trakl seine Verpflichtung gegenüber der Tradition des französischen Symbolismus. Erinnern wir uns an Baudelaires "Die Blumen des Bösen". Der einleitende Text dort, "An den Leser", nennt in der letzten Strophe das "hässlichste" Ungeheuer: "Die Langeweile ist's! - Das Auge tränenreich/Raucht sie die Wasserpfeife, träumt vom Blutgericht./Kennst du das heikle Ungeheuer nicht,/- Scheinheiliger Leser, - Bruder, der mir gleich!"

Nehmen wir das einzige Sonett aus "Les Fleurs du Mal" mit dem Begriff "rêve" im Titel zum stilistisch-inhaltlichen Vergleich, "Der Traum eines Neugierigen", dann wird auch zugleich die Distanz zum französischen Symbolismus deutlich. Die äußere Welt ist weit präsenter, erscheint als Ort des Bösen - weniger die Innenwelt. Hier sind deutlich expressionistische Bilderwelten gestaltet. Dazu kommen die spezifisch Traklschen Themen, etwa das erotisch aufgeladene Geschwisterthema.

Der Auftakt des Gedichtes evoziert symbolistische Exotik, ein Gong ertönt, der Liebende "in schwarzen Zimmern" könnte ein Opiumraucher sein, die "Flammen" an seiner Wange lassen sich mit Blick auf den Gedichttitel als Höllenfeuer lesen. Doch ist diese Hölle ganz in weltlicher Gegenwart angesiedelt, der Blick aus dem Fenster zeigt Boote am Flussufer, eventuell einen Hafen, mit Masten und Segeln. Ein imaginiertes Ambiente, wir sollten nicht an einen konreten Hafen denken, bei Baudelaire heißt es "Du fassest · meer von ebenholz · in lichtem rahmen/Den traum von segel ruder flammenschein und mast:" in "Das Haar" ("La Chevelure", XXIII in "Les Fleurs du Mal").






TROMPETEN


Unter verschnittenen Weiden, wo braune Kinder spielen
Und Blätter treiben, tönen Trompeten. Ein Kirchhofsschauer.
Fahnen von Scharlach stürzen durch des Ahorns Trauer,
Reiter entlang an Roggenfeldern, leeren Mühlen.

Oder Hirten singen nachts und Hirsche treten
In den Kreis ihrer Feuer, des Hains uralte Trauer,
Tanzende erheben sich von einer schwarzen Mauer;
Fahnen von Scharlach, Lachen, Wahnsinn, Trompeten.





Das 32. Gedicht in der Sammlung "Gedichte", die von Trakl im April 1913 zusammengestellt wurde. Trakl verfasste eine frühere Fassung des Gedichtes September/Oktober 1912 und schickte diese an Erhard Buschbeck zur Veröffentlichung im "Ruf", mit dem Vermerk "Hoffentlich fällt das Gedicht nicht zu sehr aus dem Rahmen einer kriegerischen Nummer des Rufs. Ich glaube, es wäre gut dafür zu verwenden."

Diese Fassung lautete:

Unter verschnittenen Weiden, wo weiße Kinder spielen
Und Blätter treiben, tönen Trompeten; Verfall und Trauer.
Scharlachfarben, Marschtakt stürzt durch Staub und Stahlschauer,
Durch ein Roggenfeld, entlang an leeren Mühlen.

Oder Hirten singen nachts und Hirsche treten
In den Kreis ihrer Feuer, des Hains uralte Trauer.
Tanzende heben sich von einer schwarzen Mauer;
Scharlachfarben, Lachen, Wahnsinn, Trompeten.

"Der Ruf" war eine von Buschbeck 1911 bis 1913 mit herausgegebene Zeitschrift, die 1912 durchaus der verbreiteten Kriegsbereitschaft Raum gab und teilnahm an den expressionistischen Beschwörungen einer vitalistischen Erneuerung der Gesellschaft, etwa in den Texten von Robert Müller.

Interessant ist Trakls implizites Bekenntnis, dass er seinen Text zwar nicht als "kriegerisch", aber doch als passend einstufe. Diese Bemerkung zeigt, dass er durchaus auf das Umfeld seiner Texte achtete und auch den "Marktwert" seiner Texte im Blick hatte - wie sich auch in seiner selbstbewußten Korrespondenz mit dem Kurt Wolff Verlag zur Herausgabe seiner ersten Gedichtsammlung April/Mai 1913 zeigt.

Passend ist zunächst einmal das Hauptmotiv der "Trompeten", die in der ursprünglichen Fassung auch noch deutlich mit Militär ("Marschtakt") verbunden sind. Dieser Bezug wird allerdings in der späteren Fassung zurückgenommen zum Bild der "Reiter", das den Bildgehalt allgemeiner formuliert und öffnet in den Bereich eines bei Trakl oft gegenwärtigen mythologischen Mittelalters oder einer diffusen Vorzeit. Dem entspricht auch der Austausch von "weiß" als Attribut der "Kinder" zu "braun". Braun ist bei Trakl eben die Farbe einer nicht genauer bestimmten Zeit eines ländlichen Lebens, geprägt durch religiöse Motive, Hirten, Kinder - so etwa in den Gedichten "Afra", "Ein Herbstabend" oder "Zeitalter".

"Fahnen von Scharlach" werden zweimal genannt, sie verweisen auf kriegerische Kontexte ebenso wie auf den religiösen Kontext. Scharlach ist Kardinalsfarbe und gemeinsam mit Purpur auch Farbe der "Hure Babylon" in der Offenbarung des Johannes. Im Buch Josua ist die Rede von der "scharlachroten Schnur" einer Prostituierten, die Josuas Männer schützte und die ihrerseits mit ihrer gesamten Verwandtschaft dann bei der Eroberung Jerichos geschützt wurde dank des Zeichens der Schnur. Jericho aber fiel durch den Klang von Trompeten.






TRÜBSINN
(1. Fassung)


Weltunglück geistert durch den Nachmittag.
Baraken fliehn durch Gärtchen braun und wüst.
Lichtschnuppen gaukeln um verbrannten Mist,
Zwei Schläfer schwanken heimwärts, grau und vag.

Auf der verdorrten Wiese läuft ein Kind
Und spielt mit seinen Augen schwarz und glatt.
Das Gold tropft von den Büschen trüb und matt.
Ein alter Mann dreht traurig sich im Wind.

Am Abend wieder über meinem Haupt
Saturn lenkt stumm ein elendes Geschick.
Ein Baum, ein Hund tritt hinter sich zurück
Und schwarz schwankt Gottes Himmel und entlaubt.

Ein Fischlein gleitet schnell hinab den Bach;
Und leise rührt des toten Freundes Hand
Und glättet liebend Stirne und Gewand.
Ein Licht ruft Schatten in den Zimmern wach.




Zu Lebzeiten Trakls wurde die links angeführte Fassung des Gedichtes von 1912 publiziert, und zwar in der Sammlung "Gedichte", erschienen 1913 im Kurt Wolff Verlag Leibzig.

Diese Fassung zeigt bis in die Wortwahl hinein eine enge Verwandtschaft mit bekannten Texten des Expressionismus, etwa van Hoddis' "Weltende". Folgt man der üblichen Einteilung des Traklschen Werkes in vier Phasen, so gehört "Trübsinn" in dieser Fassung zu den Texten der dritten Werkphase, da es Ende 1912 geschrieben wurde, genauer September/Oktober 1912. Von dieser Phase gilt, dass sie durch eine Ablösung Trakls vom Expressionismus und durch den "unverwechselbaren 'Trakl-Ton'" (Hans-Georg Kemper 1999, S. 9) gekennzeichnet sei. Nach meiner Einschätzung ist es ein Text, der gerade diese Einteilung problematisiert. Denn ohne Kenntnis der zeitlichen Zuordnung würde man ihn doch eher der zweiten Werkphase und damit der Nähe Trakls zum "durch den 'Reihungsstil' gekennzeichneten lyrischen 'Epochenstil' des Expressionismus" (Hans-Georg Kemper 1999, S. 9) zuordnen. Was nebenbei in noch erheblicherem Maße für das etwa zeitgleich entstandene Gedicht "In den Nachmittag geflüstert" gilt.

Die dritte Werkphase, vertreten in der Sammlung "Sebastian im Traum", ist markiert, so Kemper, durch die "partielle Introduktion des lyrischen Ich", die wir hier in der Tat finden. Doch gilt für den Expressionismus durchaus kein durchgängiger Verzicht auf das lyrische Ich. Was wir in "Trübsinn" in Ansätzen finden, ist eine Finalität der Handlungsabläufe, insofern das Gedicht mit dem "Nachmittag" anhebt und dann zum "Abend" übergeht. Erzählende Elemente erscheinen lediglich rudimentär in parataktischen Fügungen mit "und", die auch für den Expressionismus charakteristisch sind.

Das Gedicht beginnt mit einer zeitlichen Bestimmung, "Nachmittag", und einer räumlichen Bestimmung, "Gärtchen". Beide werden eingeführt durch Bilder, die im Expressionismus häufig begegnen, hier gefasst in "Weltunglück" zum einen, "Baraken" zum anderen. "Unglück" ist ein häufiges Wort in expressionistischen Gedichten, Jakob van Hoddis schreibt ein Gedicht mit dem Titel "Weltende" und Else Lasker-Schüler fasst in ein Gedicht mit dem gleichen Titel die Zeilen "Es ist ein Weinen in der Welt,/als ob der liebe Gott gestorben wäre". Bei Gottfried Benn finden wir die "Krebsbaracken", bei Iwan Goll, "Der Panamakanal", heißt es "sie hausten in Baracken und in Lattenhütten stumpf" - und Georg Heym schreibt in "Berlin": "Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus, Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt".

Bei Trakl sind wir ähnlich wie bei Heym in halboffenem Gelände, unklar bleibt allerdings, ob es sich um Stadtrand oder Dorf handelt. "Gärtchen" wird ergänzt durch "verdorrte Wiese", "Büsche" und "Bach". Menschen erscheinen isoliert und plakativ, "zwei Schläfer", "ein Kind", "ein alter Mann". Eine besondere Rolle nimmt ein "Freund" ein, der in einer Wendung auftaucht, die in der Tat den erzählerischen Gestus der Werkepoche von "Sebastian im Traum" zeigt: "Und leise rührt des toten Freundes Hand".

Zum Vergleich mit der zweiten Fassung von 1914 siehe meine Essay-Seite ("Trakl und der Expressionismus").

Lektüreempfehlung: Hans-Georg Kemper, Gedichte von Georg Trakl, Stuttgart 1999






UNTERGANG
(5. Fassung)

Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen. 
Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.

Über unsere Gräber 
Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht. 
Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt. 
Unter Dornenbogen 
O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.







Das Gedicht mit der Widmung "An Karl Borromaeus Heinrich" nimmt in verschiedenen Hinsichten eine Sonderstellung ein. Wie nur wenige Texte Trakls kennt es ein "Wir" ("Abendländisches Lied" und "Blutschuld" sind vor allem noch zu nennen). Wie nur wenige Gedichte ist es nicht "für" gewidmet, sondern "an" eine Person adressiert. Und es ist in fünf Fassungen überliefert, die teilweise erheblich voneinander abweichen und die eine besonders intensive Arbeit an diesem Text erweisen. Eines der wenigen deutlichen Verbindungselemente der Varianten ist die Anrufung "O mein Bruder", die in folgenden Kontexten erscheint (geordnet nach der Abfolge der ersten vier Fassungen):

O mein Bruder, welche Ruh ist in der Welt.

O mein Bruder, welche Stille ist in der Welt
und
O mein Bruder, reift die Süße des Abends heran
und
O mein Bruder, verwandelt sich dunkel die Landschaft der Seele

O mein Bruder, welche Stille ist in der Welt.
und
O mein Bruder reifen schwarze Rosenkranznächte herein.
und
O mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht

O mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.

Veröffentlicht wurde dann in "Sebastian im Traum" unter der Sektion "Siebengesang des Todes" die links stehende fünfte Fassung. Alle fünf Fassungen sind Januar/Februar 1913 entstanden.

Mit dem "Bruder" ist durchaus Karl Borromaeus Heinrich, dem das Gedicht gewidmet ist, genauer: an den es adressiert ist, gemeint, das zeigt die parallele Widmung von "Gesang des Abgeschiedenen". Heinrich war Brenner-Mitarbeiter und Autor stark religiös gezeichneter Texte. Trakl und ihn verband eine besonders intensive Beziehung, die sich unter anderem in den beiden Widmungsgedichten Trakls für Heinrich und in zwei Texten, die Heinrich im "Brenner" zu Trakl veröffentlicht hat, andeutet.

Ansonsten ist das Gedicht durch das anhebende Bild ziehender oder bereits "fortgezogener" Vögel charakterisiert. Das mag als Hinweis auf den Herbst und den anbrechenden Winter verstanden werden, ist darüber hinaus auch allgemeiner als Charakterisierung einer Endzeit zu lesen, worauf schon der Titel "Untergang" hindeutet.

Untergang erscheint allerdings als ein andauernder Zustand, in paradoxer Weise werden die beiden "Brüder", das Ich des Gedichtes und der Angesprochene, als bereits Verstorbene, in Gräbern Liegende, aber noch weiterhin von Schicksal ("Sterne") Betroffene charakterisiert: "Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind." Als gegenwärtiges Geschehen geschildert "schaukeln" die beiden "auf einem silbernen Kahn" und "klimmen" gleich an der Zeit nicht beteiligte ("blinde") Uhrzeiger "gen Mitternacht".

Lektüreempfehlung: Eric Williams, Untergang der Spiegelbildwelt, 1999






UNTERWEGS

Am Abend trugen sie den Fremden in die Totenkammer;
Ein Duft von Teer; das leise Rauschen roter Platanen;
Der dunkle Flug der Dohlen; am Platz zog eine Wache auf.
Die Sonne ist in schwarze Linnen gesunken; immer wieder kehrt dieser vergangene Abend.
Im Nebenzimmer spielt die Schwester eine Sonate von Schubert.
Sehr leise sinkt ihr Lächeln in den verfallenen Brunnen,
Der bläulich in der Dämmerung rauscht. O, wie alt ist unser Geschlecht.
Jemand flüstert drunten im Garten; jemand hat diesen schwarzen Himmel verlassen.
Auf der Kommode duften Äpfel. Großmutter zündet goldene Kerzen an.

O, wie mild ist der Herbst. Leise klingen unsere Schritte im alten Park
Unter hohen Bäumen. O, wie ernst ist das hyazinthene Antlitz der Dämmerung.
Der blaue Quell zu deinen Füßen, geheimnisvoll die rote Stille deines Munds,
Umdüstert vom Schlummer des Laubs, dem dunklen Gold verfallener Sonnenblumen.
Deine Lider sind schwer von Mohn und träumen leise auf meiner Stirne.
Sanfte Glocken durchzittern die Brust. Eine blaue Wolke
Ist dein Antlitz auf mich gesunken in der Dämmerung.

Ein Lied zur Guitarre, das in einer fremden Schenke erklingt,
Die wilden Hollunderbüsche dort, ein lang vergangener Novembertag,
Vertraute Schritte auf der dämmernden Stiege, der Anblick gebräunter Balken,
Ein offenes Fenster, an dem ein süßes Hoffen zurückblieb -
Unsäglich ist das alles, o Gott, daß man erschüttert ins Knie bricht.

O, wie dunkel ist diese Nacht. Eine purpurne Flamme
Erlosch an meinem Mund. In der Stille
Erstirbt der bangen Seele einsames Saitenspiel.
Laß, wenn trunken von Wein das Haupt in die Gosse sinkt.




Als drittes Gedicht des Zyklus "Sebastian im Traum" darf "Unterwegs" nach "Kindheit" und "Stundenlied" schon unerachtet seines Inhalts und seiner Gestaltung Aufmerksamkeit beanspruchen.

Wanderschaft, Spaziergang, Unterwegssein gehören zu den zentralen Themen des Traklschen Oeuvres. Und häufig sind sie zunächst einmal durchaus auch wörtlich zu nehmen, etwa in "Abend in Lans". Doch hier in "Unterwegs" ist das abendliche Unterwegssein schon im Auftakt von irritierender Andersheit: "Am Abend trugen sie den Fremden in die Totenkammer". Das Unterwegssein - des "Fremden" - scheint hier schon am Beginn des Textes beendet zu sein.

Nun ließe sich - etwa mit Blick auf die Kontakte zur theosophischen Weltanschauung, die Trakl hatte - annehmen, das Unterwegssein beginne gerade mit dem Tod erst eigentlich. Gegen diese Deutung spricht schon im Gedicht selbst, das in der Folge ganz in der Gegenwart der noch Lebenden verbleibt.

Der Ton des Gedichtes ist in der ersten Strophe lakonisch, es werden teilweise höchst banale Sachverhalte berichtend aneinander gereiht. Und in dieses lakonische "Gerede" eingereiht erscheint ein behaupteter Sachverhalt, der dem Gedicht einen apokalyptischen Anstrich gibt: "jemand hat diesen schwarzen Himmel verlassen". Dass damit nicht die vorher genannten "Dohlen" gemeint sein können, macht das vorausgehende "jemand flüstert drunten im Garten" deutlich. Unten und oben kennen wir in diesem Kontext ("unser Geschlecht") aus dem Gedicht "Geburt". Dort ist der "Vater" oben, die "Mutter" unten. Und dort gehört zu dieser Szene gleichfalls die Verbindung von Blau, Wasser und Rauschen! Und, als seien dies noch nicht genug der Hinweise auf etwas, das ich eine der "Urszenen" des Traklschen Schreibens nennen möchte, es folgt eine "Großmutter", wo in "Geburt" eine "steinerne Greisin" erscheint.

Wem diese Parallelisierung zu weit geht, der sei daran erinnert, wie Trakl in seinen Briefen von den "Bildern" spricht, die er "träumt" (Brief an Hermine von Rauterberg 05.10.1908) oder die ihn "bedrängen" (Brief an Erhard Buschbeck Juni 1910). Ernst nehmen sollten wir auch Stellen in Traklschen Gedichten, die Bilder thematisieren, etwa die Zeile "Wie schön sich Bild an Bildchen reiht" in "Verklärter Herbst".

Die zweite Strophe ist im Ton anders gestimmt, greift auf und führt weiter, was in der Strophe zuvor schon mit dem Ausruf "O, wie alt ist unser Geschlecht" angedeutet wurde: Ein Klagelied, das aus dem Reigen der Bilder angestimmt wird in vordergründig versöhnlichem Ton: "O, wie mild ist der Herbst".






VERFALL


Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
 
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
 
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
 
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.


Sechs Sonette hatte Trakl zur Veröffentlichung vorgesehen, darunter das Gedicht "Verfall". Unter dem Titel "Herbst" wurde es 1909 in der Sammlung "Gedichte" veröffentlicht. Der Titel "Verfall" ist eine Variante, die Trakl selbst erst in einer späteren Handschrift gegeben hat. Wie alle Sonette Trakls gehört "Verfall" zu den bedeutenderen Texten des Dichters. Gunther Kleefeld nennt dieses Sonett in "Georg Trakl. Achtzig Gedichte" gar "ein Schlüsselgedicht im Werk Trakls". Der herbstliche Garten sei, so Kleefeld, "geradezu das Modell der von ihm gestalteten Welt". In einem seiner letzten Gedichte, "Grodek", ist es allerdings kein Garten, sondern ein Schlachtfeld des ersten Weltkrieges, das mit den Bildern von herbstlichen Wäldern lyrisch gestaltet wird. Und auch in "Seele des Lebens" von 1911/12 ist es der herbstliche Wald, der mit "Verfall" verbunden wird.

Die genaue Lektüre von "Verfall" zeigt, dass auch hier der Garten zwar der Ort ist, an dem das lyrische Ich sich aufhält, aber als "herbstlich" werden die "klaren Weiten" charakterisiert. "Verfall" indes ist da, wo das Ich steht, schaut und hört, im "Garten". Der Sinnesbereich des Fühlens dominiert, wo Trakl von "Verfall" spricht, im ersten Terzett des Sonettes. Der "Hauch des Verfalls" lässt "erzittern", dem korrespondiert "schwankt der rote Wein". Im zweiten Terzett folgen "verwittern" und "fröstelnd .... neigen".

"Verfall" orientiert sich an einem Sonettmuster, das sich im rezipierten Umfeld des Dichters nicht findet, weder in den "Neuen Gedichten" Rilkes von 1907, die Trakl besaß, noch in den Gedichten der französischen Symbolisten: abba cddc efe fef. Deutlich wird in diesem Muster die Verschränkung der beiden Terzette, die auch durch die Satzzeichen (insbesondere das Komma am Ende des ersten Terzetts) markiert ist. Inhaltlich sind sowohl die beiden Quartette, als auch die beiden Terzette eng miteinander verflochten.

Im ersten Quartett wird eine harmonische, durch Weite charakterisierte Abend- und Herbststimmung entworfen. Im zweiten Quartett wird das lyrische Ich eingeführt, das diese Stimmung wahrnimmt aus einem "dämmervollen Garten". Auch hier bestimmen noch freundliche Bilder die inhaltliche Ebene. Doch dann kommt im ersten Terzett der Einbruch, "Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern". Das Klagen einer Amsel, schwankende Weinreben und rostige Gitter markieren einen signifikanten Bildwechsel. Dem folgen im zweiten Terzett noch deutlicher bedrohliche Bilder, anhebend mit "wie blasser Kinder Todesreigen".

Trakl gestaltet in diesem Gedicht das Auftauchen oder Bewußtwerden einer Bedrohung, einer Gefahr, einer Katastrophe gar in subtilen Bildern, die in ihrer Poesie noch eine Hoffnung offenhalten. Es ist nicht die schlichte Hoffnung auf einen Frühling, der nach Herbst und Winter folgt, sondern eine Hoffnung, die Rilke etwa gleichzeitig beispielhaft formuliert hat in der Schlusswendung "Du musst dein Leben ändern" des Sonettes "Archaischer Torso Apollos".

Eine weiter ausgeführte Auseinandersetzung mit der Einschätzung Trakls als "Prophet des Verfalls" finden Sie auf meiner Seite mit Essays zu Trakls Werk und Leben.

Lektüreempfehlung: Gunther Kleefeld, Georg Trakl. Achtzig Gedichte, EBG 1985

 
  



VERKLÄRTER HERBST


Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
Das geht in Ruh und Schweigen unter.





Eines der "schönen" Gedichte Trakls, es dominieren harmonische, teilweise überschwänglich feierliche Bilder und eine gesetzte, positiv gestimmte Sprache. Die formale Gliederung schafft einen volksliedhaften Ton in drei Strophen mit jeweils vier Zeilen in Kreuzreimen, wobei männlicher und weiblicher Versschluss wechseln.

Schon der Titel stimmt uns ein auf Feier, mit einem attributiv positiven Bild des Herbstes, der bei Trakl ansonsten zumeist als Hinweis auf Düsternis und Untergang begegnet. "Verklärt" ist der Herbst nun - womit allerdings auch darauf hingewiesen wird, dass er vielleicht nur beschönigt wird. Auf eine solche distanzierte Deutung führt uns die vorletzte Zeile des Gedichtes, in der mit zwiespältigem Ton angemerkt wird "Wie schön sich Bild an Bildchen reiht" - was ironisch, aber durchaus auch affirmativ verstanden werden kann. In der letzten Zeile jedenfalls endet diese Verklärung des Herbstes mit "Ruh und Schweigen" sowie, in Verbform ausgedrückt, Untergang ("geht ... unter").

Nun ist allerdings daran zu erinnern, dass diese Zwiespältigkeit auch den Naturphänomenen der Jahreszeit Herbst eignet. Naturbilder des Herbstes sind einmal geprägt durch Farbenpracht, reife Früchte, zauberhafte Herbststimmungen an sonnigen Nachmittagen oder etwa bei Sonnenuntergang - andererseits aber auch durch feuchte Kühle, dunkle und trübe Töne im schwächer werdenden Sonnenlicht bei häufigen Niederschlägen.

Den Naturbereich verlässt Trakl selbst ganz explizit, indem er den Herbst erklärt als "der Liebe milde Zeit". In der mittleren Strophe wird gar "froher Mut" angesprochen als das, was "der Landmann" im Herbst erfahre. Hinweise auf einen Zustand der Sicherheit und Geborgenheit, der dem Herbst folgt oder im Herbst erreicht wird, einen Zustand zufriedener Abgeschlossenheit, formuliert im Sagen des Landmannes: "Es ist gut".

Lehrreich ist zum Verständnis dieses Textes auch ein Blick in die beiden Gedichte mit dem Titel "Der Herbst" von Friedrich Hölderlin. Diese gehören zu den spätesten Gedichten Hölderlins, entstanden in den letzten Lebensjahren des bereits seit Jahrzehnten als "unheilbar" in Pflege genommenen Dichters. Trakl hat seinen Text im September 1912 abgeschlossen. Der Bezug zu den Hölderlin-Texten ist unübersehbar.

Weitere Angaben zur Stellung der Jahreszeiten in Trakls Werk finden Sie auf meiner Seite mit Essays zu Trakls Werk und Leben.





VERWANDLUNG
(2. Fassung)

Entlang an Gärten, herbstlich, rotversengt:
Hier zeigt im Stillen sich ein tüchtig Leben.
Des Menschen Hände tragen braune Reben,
Indes der sanfte Schmerz im Blick sich senkt.

Am Abend: Schritte gehn durch schwarzes Land
Erscheinender in roter Buchen Schweigen.
Ein blaues Tier will sich vorm Tod verneigen
Und grauenvoll verfällt ein leer Gewand.

Geruhiges vor einer Schenke spielt,
Ein Antlitz ist berauscht ins Gras gesunken.
Hollunderfrüchte, Flöten weich und trunken,
Resedenduft, der Weibliches umspült.



Verwandlung ist ein Thema, dem für Trakl offenkundig besonderes Gewicht zukam. "Verwandlung des Bösen" heißt einer seiner Prosatexte in "Sebastian im Traum", mit deutlich autobiographischen Zügen. Im Gedicht "Verwandlung" scheint das Böse jedoch fern, der Text klingt versöhnlich, hebt fast idyllisch an. Es zeigt sich "ein tüchtig Leben".

Bemerkenswert an Trakls Konzept von Verwandlung ist, dass keine Verwandlung im gängigen Sinne stattfindet. In "Verwandlung des Bösen" findet keineswegs eine Wandlung zum "Guten" statt. Zumindest nicht in jenem Sinne, der eine schlichte Auffassung zufrieden stellen könnte. Und im hier vorliegenden Gedicht "Verwandlung" scheint eher Stillstand zu herrschen. Am ehesten erinnert diese Verwandlung an die "Wandlung", die Transsubstantiation im christlichen Abendmahl. Anklänge an die christliche Lehre finden sich deutlich in der Zeile "Des Menschen Hände tragen braune Reben". "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige" (Joh 15, 5) sagt Jesus zu seinen Jüngern. Die Hände sind wohl die Hände der Wundmale, dies erklärt zumindest die anschließende Zeile, die vom "sanften Schmerz" spricht, der "im Blick sich senkt".

Allerdings darf Trakls Text nicht orthodox gelesen werden. In der letzten Strophe ist eher Dionysos als Christus angesprochen. Von Rausch ist die Rede und es spielen "Flöten weich und trunken". Mit den "Hollunderfrüchten" ist ein Motiv genannt, das bei Trakl und in der Volkskultur mit Fruchtbarkeit verbunden ist, worauf auch "Weibliches" hindeutet. Ausgehend hiervon könnte "Verwandlung" auch gelesen werden als Ansatz zu einem Programm neuer religiöser Gründung, einer Verwandlung des Christentums zu einer Religion, die ehemals "Heidnisches" neu aufgreift.

In Joseph Steinbachers "Handbuch der Frauenkrankheiten" von 1870 wird eine Empfindlichkeit gegenüber Resedenduft als Symptom weiblicher "Hysterie" genannt ("Überreiztheit der Gehör- und Geruchsnerven"). In der Naturheilkunde gelten Reseden als wirksam bei Unruhe und Schlaflosigkeit. Ob etwas davon Trakls Interesse an dieser Pflanze bedingte, und warum er sie mit "Weiblichem" verbindet, bleibt unklar. Dass Reseden auch in den Gedichten "In der Heimat" und "In einem alten Garten" genannt werden, lässt vermuten, dass sie für Trakl auch Teil seiner Salzburger Erinnerungen sind.





WESTLICHE DÄMMERUNG

Ein Faungeschrei durch Funken tollt,
In Parken schäumen Lichtkaskaden,
Metallischer Brodem um Stahlarkaden
Der Stadt, die um die Sonne rollt.

Ein Gott jagt schimmernd im Tigergespann
Vorbei an Frauen und hellen Bazaren,
Erfüllt von fließenden Golden und Waren.
Und Sklavenvolk heult dann und wann.

Ein trunknes Schiff dreht am Kanal
Sich träg in grünen Sonnengarben.
Ein heiteres Konzert von Farben
Hebt leise an vorm Hospital.

Ein Quirinal zeigt finstere Pracht.
In Spiegeln bunte Mengen kreisen
Auf Brückenbögen und Geleisen.
Vor Banken bleich ein Dämon wacht.

Ein Träumender sieht schwangere Fraun
In schleimigem Glanz vorübergleiten,
Ein Sterbender hört Glocken läuten -
Ein goldner Hort glüht leis’ im Graun.




Dieses Gedicht aus dem Nachlass ist auffallend durch seinen fast schon überzogen wirkenden expressionistischen Ton und eine entsprechende Bilderwahl, mit starker Betonung des Erbes aus dem französischen Symbolismus, wie es den literarischen deutschen Expressionismus prägte. Der Text entstand nach Killy/Szklenar 1911 oder 1912. Zu einer Zeit also, in der Trakl bereits zu seinem eigenen Ton gefunden hatte. Dass Trakl diesen Text nicht zur Veröffentlichung vorsah, darf als Hinweis darauf verstanden werden, dass er den expressionistischen Reihungsstil und die expressionistische Bildwelt (die er wohl beide weitgehend eigenständig in der Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolismus bzw. dessen Übertragungen durch Karl Anton Klammer entwickelt hatte), wie sie hier fast schon exemplarisch entfaltet sind, keineswegs per se als lyrisch befriedigend ansah.

Der Titel "Westliche Dämmerung" verweist auf ein Thema der Zeit, den "Untergang des Abendlandes", wie der Titel des Werkes von Oswald Spengler heißt, das zwar erst 1918 mit dem ersten Band erschien, dessen Tenor jedoch bereits in der Dissertation Spenglers 1904 anklang und den Intellektuellen der Jahrtausendwende von Nietzsche und Schopenhauer her gut vertraut war. Bei Trakl finden wir eine explizite Parallelstelle mit dem Gedicht "Abendländisches Lied".

Wie andere Lyriker des Expressionismus gestaltet Trakl hier einen Bilderreigen aus "heidnischen" Motiven, vermengt mit Großstadt- und Industrialisierungsthemen. Gleich in der ersten Strophe amalgamieren beide Bildbereiche in zentralen Lichtmetaphern: Faun-Funken, Stadt-Sonne. In der zweiten Strophe jagt ein "Gott" in einem Tigergespann an "Bazaren" vorbei. Der Orient, ein wichtiges Thema des französischen Symbolismus, klingt an, hinduistische Götter, Baudelaires "tigre", das "trunkene Schiff" Rimbauds/K.L. Ammers. Aus dem Expressionismus erinnern wir etwa Georg Heyms "Der Gott der Stadt", Alfred Wolfensteins "Bestienhaus" oder Oskar Loerkes "Blauer Abend in Berlin".

Insgesamt mutet der vorliegende Traklsche Text beliebig, zusammengestückelt, wenig originell an. Gerade darin ist dieses Gedicht jedoch bedeutsam als Folie zum tieferen Verständnis der Traklschen Eigenleistung in anderen "expressionistischen" Texten des Autors. "Winterdämmerung" etwa, von Trakl im gleichen Zeitraum geschrieben, enthält zahlreiche der hier in "Westliche Dämmerung" verwendeten Bilder und ist formal ähnlich gebaut. Doch ist die Gestaltung dort überzeugender, eigenständiger. Und Trakl hat jenen Text auch zur Veröffentlichung in der Sammlung "Gedichte" ausgewählt.

Lektüreempfehlung: Barbara Beßlich, Wege in den Kulturkrieg, 2000


 



WINKEL AM WALD

Braune Kastanien. Leise gleiten die alten Leute
In stilleren Abend; weich verwelken schöne Blätter.
Am Friedhof scherzt die Amsel mit dem toten Vetter,
Angelen gibt der blonde Lehrer das Geleite.

Des Todes reine Bilder schaun von Kirchenfenstern;
Doch wirkt ein blutiger Grund sehr trauervoll und düster.
Das Tor blieb heut verschlossen. Den Schlüssel hat der Küster.
Im Garten spricht die Schwester freundlich mit Gespenstern.

In alten Kellern reift der Wein ins Goldne, Klare.
Süß duften Äpfel. Freude glänzt nicht allzu ferne.
Den langen Abend hören Kinder Märchen gerne;
Auch zeigt sich sanftem Wahnsinn oft das Goldne, Wahre.

Das Blau fließt voll Reseden; in Zimmern Kerzenhelle.
Bescheidenen ist ihre Stätte wohl bereitet.
Den Saum des Walds hinab ein einsam Schicksal gleitet;
Die Nacht erscheint, der Ruhe Engel, auf der Schwelle.





Geht es um ungewöhnliche Bilder in Trakls Werk ist sicherlich auch der Text "Winkel am Wald" zu zitieren. Hier "gleiten die alten Leute/ In stilleren Abend" und "Am Friedhof scherzt die Amsel mit dem toten Vetter", hier finden wir Sätze wie "Angelen gibt der blonde Lehrer das Geleite" und "Das Blau fließt voll Reseden" - um nur vier Beispiele zu nennen.

Geschrieben wurde das Gedicht im Mai 1912. Trakl hatte gerade seinen Probedienst in Innsbruck angetreten, seine Lyrik wurde in der Zeitschrift "Der Brenner" erstmals angemessen gewürdigt. Den Herausgeber Ludwig von Ficker und die Mitarbeiter der Zeitschrift lerne er in diesem Monat auch persönlich kennen. Gewidmet ist das Gedicht dem Jugendfreund Karl Minnich, der damit eine Auszeichnung zu einer Zeit erfuhr, als seine Wege und die Trakls sich trennten. Trakl wurde durch die Innsbruck-Kontakte als Lyriker bestätigt und gefördert, Minnich promovierte in Wien als Jurist und wurde Rechtsanwalt. Als erster erhielt das Gedicht jedoch in einem Brief vom Mai 1912 der andere Jugendfreund, dem die Ehre einer Gedichtwidmung zukam, Ehrhard Buschbeck. Dort trägt der Text noch den Titel "Schatten".

Das Gedicht wirkt verspielt, hat einen liedhaften, leicht melancholischen Ton. Im von Trakl selbst zusammengestellten Lyrikband "Gedichte" folgt es auf die Texte "Melancholie", "Seele des Lebens" und "Verklärter Herbst". Nach ihm folgen die Texte "Im Winter", "In ein altes Stammbuch" und "Verwandlung". Der Publikationskontext ist somit vordergründig durch erinnernde Verklärung und eher positiv gestimmte Wehmut geprägt.

Die nominale Ellipse des Einstiegs in das Gedicht, "Braune Kastanien", hat lediglich eine Parallele im Werk Trakls, "Ein Kind mit braunem Haar" als Beginn von "Afra". Auch sonst finden wir in "Afra" ganz ähnliche Gestaltungen, etwa den Reim "Kirchenfenstern" - "G/gespenstern" in der zweiten Strophe.

Afra nennt eine Prostituierte, die zur Nonne wurde; im Gedicht "An Angela" werden ganz ähnliche Bilder angesprochen, so dass wir auch hinter diesem Frauennamen das Bild einer Prostituierten vermuten können. Parallel zu "Angelen gibt der blonde Lehrer das Geleite" finden wir in "An Angela": "Schlaflose Nacht am Weiher um Angelen" und ""Angelens Geist ist weichen Wolken eigen". Zugleich klingt "Angelus", der Engel also, an.
 





WINTERDÄMMERUNG

Schwarze Himmel von Metall.
Kreuz in roten Stürmen wehen
Abends hungertolle Krähen
Über Parken gram und fahl.

Im Gewölk erfriert ein Strahl;
Und vor Satans Flüchen drehen
Jene sich im Kreis und gehen
Nieder siebenfach an Zahl.

In Verfaultem süß und schal
Lautlos ihre Schnäbel mähen.
Häuser dräu’n aus stummen Nähen;
Helle im Theatersaal.

Kirchen, Brücken und Spital
Grauenvoll im Zwielicht stehen.
Blutbefleckte Linnen blähen
Segel sich auf dem Kanal.







Dieser Text von 1911/12 ist Max von Esterle gewidmet, der als Maler und Portraitist zum Mitarbeiterstab der Zeitschrift Ludwig von Fickers "Der Brenner" in Innsbruck gehörte. In Esterles Innsbrucker Atelier hat Georg Trakl vermutlich am 30.11.1913 sein Selbstportrait gemalt.

Mit seiner heftigen, komplexSelbstportrait Georg Trakls,
              dominiert von Rot- und Grüntönen überspannten Sprache und den aufrührenden Bildern bestätigt "Winterdämmerung" in besonderer Weise die Zuordnung Trakls zum Expressionismus.

Hier ist alles zu finden, was als charakteristisch für die Texte Trakls gilt, sofern man sie dem Expressionismus zuordnet. Seine sprachliche Souveränität wird schon in der ersten Strophe deutlich, wo das Verb "wehen" eine intensive Klammer schafft zwischen gleich drei Bildbereichen, dem "Kreuz in roten Stürmen" (wird es von den Krähen geformt?), den "hungertollen Krähen" und den "Parken gram und fahl". Seine Leidenschaft für Farben artikuliert sich in den ersten beiden Zeilen, wo "schwarze Himmel" hinter "roten Stürmen" stehen. Christlich eingebundene Zahlensymbolik begegnet in der zweiten Strophe, mit der Sieben, die den Krähen und "Satans Flüchen" zugeordnet ist.

Sieben, das ist - unter anderem - die Zahl der "Todsünden": Stolz (Superbia), Geiz (Avaritia), Neid (Invidia), Zorn (Ira), Wollust (Luxuria), Völlerei (Gula), Faulheit (Acedia). Und was das mit Krähen zu tun habe, wird in der dritten Strophe deutlich: Deren Schnäbel "mähen" in Verfaultem, sie leben von Aas, von Sünde, von Verfall. Dagegen steht die "Helle" des Theatersaales. Ob als ein Bild heiler Gegenwelt oder nur exterritorialer Lüge wird nicht eindeutig gemacht. Da aber "Kirchen, Brücken und Spital" im "Zwielicht" stehen, dürfte die Helle des Theatersaales der Dunkelheit des Krähen-Bereiches positiv gegenüberstehen.

Doch Eindeutigkeit ist nicht das, was Lyrik, insbesondere der Lyrik Trakls zukommt. Es wäre zu schlicht gedacht, hier einen Manichäismus von Dunkelheit um Satan, Todsünden, Verfall, Krähen einerseits, Helle im Bereich der Kunst, des Theaters andererseits zu sehen - mit einem weltlich-städtisch unerlösten Zwischenreich aus "Kirchen, Brücken und Spital" sowie "Kanal" dazwischen. Schließlich ist Satan, als "Luzifer", auch der Lichtbringer - auch bei Trakl an anderen Stellen.

Lektüreempfehlung: Heinz Rölleke, Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl, Berlin 1966


     



WINTERGANG IN A-MOLL

Oft tauchen rote Kugeln aus Geästen,
Die langer Schneefall sanft und schwarz verschneit.
Der Priester gibt dem Toten das Geleit.
Die Nächte sind erfüllt von Maskenfesten.

Dann streichen übers Dorf zerzauste Krähen;
In Büchern stehen Märchen wunderbar.
Ans Fenster flattert eines Greisen Haar.
Dämonen durch die kranke Seele gehen.

Der Brunnen friert im Hof. Im Dunkel stürzen
Verfallne Stiegen und es weht ein Wind
Durch alte Schächte, die verschüttet sind.
Der Gaumen schmeckt des Frostes starke Würzen.



Der Titel sagt Musik. Und formal klingt das Gedicht auch. Seine leichte, liedhafte Struktur mit drei Strophen zu je vier Versen, die ABBA gereimt sind, entspricht allerdings nicht dem mit "Moll" formulierten anspruchsvollen Programm. Das gibt dem Titel einen Zug von Beliebigkeit. Dieser bestätigt sich auch im Text. Die Zeitbestimmung "oft" gleich in der ersten Zeile wirkt, bezogen auf den banalen Sachverhalt von vergessener Weihnachtsdekoration, etwas schal.

Im Text verwirklicht Trakl seine "bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet" (Brief an Erhard Buschbeck, zweite Hälfte Juli 1910) in wenig überzeugender Weise. Das Gedicht "Wintergang in A-Moll" ist vermutlich 1912 entstanden. Trakl hat es nie zur Veröffentlichung vorgesehen. Es mutet eher wie eine Fingerübung an, zu einer Zeit geschrieben, als Trakl sich lyrisch bereits von dieser "Manier" entfernt hatte - von der es weit überzeugender Beispiele gibt, etwa "Verwandlung", Ende 1912 geschrieben, ein Text, der die "Manier" souverän bereits zu komplexer Bildgestaltung weiterentwickelt zeigt.

"Masken" sind ein Thema der Zeit, wir kennen es vor allem aus der Malerei, etwa bei James Ensor oder Emil Nolde. Wir müssen ihre Erwähnung also nicht unbedingt als Hinweis auf den Karneval/Fasching sehen, auch wenn ein "Gschnas" gemeint sein könnte, Künstlerfeste zur Faschingszeit, die um 1900 in Österreich ihren Höhepunkt erlebten.

Der genauere Blick zeigt auch bei diesem Text ein recht klares Kompositionsmuster, das den ersten Eindruck von Beliebigkeit in Frage stellt. In der ersten Strophe wird ein eher städtisches Winterbild gezeichnet, die zweite Strophe geht aufs Dorf, gleichsam zurück in eine städtisch ignorierte Vergangenheit mit Märchen und Dämonen. Mit der abschließenden dritten Strophe führt uns der Autor in geschlossene Räumlichkeiten mit Hof, Stiegen, Schächten und der inneren Körperlichkeit des "Gaumens".

Müssen wir also auch die "roten Kugeln" bedeutsamer lesen als nur im Hinweis auf eine Weihnachtsdekoration? In der Literatur (etwa der Dissertation von Leonhard Wolff 2008) wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine Faschingsdekoration handeln könne, aber auch um Rauschvisionen, Halluzinationen. Was hier nicht weiter erörtert sein soll.






WINTERNACHT


Es ist Schnee gefallen. Nach Mitternacht verläßt du betrunken von purpurnem Wein den dunklen Bezirk der Menschen, die rote Flamme ihres Herdes. O die Finsternis!

Schwarzer Frost. Die Erde ist hart, nach Bitterem schmeckt die Luft. Deine Sterne schließen sich zu bösen Zeichen.

Mit versteinerten Schritten stampfst du am Bahndamm hin, mit runden Augen, wie ein Soldat, der eine schwarze Schanze stürmt. Avanti!

Bitterer Schnee und Mond!

Ein roter Wolf, den ein Engel würgt. Deine Beine klirren schreitend wie blaues Eis und ein Lächeln voll Trauer und Hochmut hat dein Antlitz versteinert und die Stirne erbleicht vor der Wollust des Frostes;

oder sie neigt sich schweigend über den Schlaf eines Wächters, der in seiner hölzernen Hütte hinsank.

Frost und Rauch. Ein weißes Sternenhemd verbrennt die tragenden Schultern und Gottes Geier zerfleischen dein metallenes Herz.

O der steinerne Hügel. Stille schmilzt und vergessen der kühle Leib im silbernen Schnee hin.

Schwarz ist der Schlaf. Das Ohr folgt lange den Pfaden der Sterne im Eis.

Beim Erwachen klangen die Glocken im Dorf. Aus dem östlichen Tor trat silbern der rosige Tag.




Nichts für liftverwöhnte Skifahrer, aber wer zu einer Schneeschuhwanderung in die Berge geht, wird vielleicht verstehen, dass Trakl hier nicht nur Seelenbilder gestaltet, sondern auch etwas zum Winter zu sagen vermag, seinem Zauber wie seinem Schrecken. Es ist allerdings kein Winter im Hochgebirge präsent, sondern offensichtlich ein Winter in Siedlungsnähe, eine Schenke wird angedeutet im "dunklen Bezirk der Menschen", ein "Bahndamm" wird genannt.

Nehmen wir einmal versuchsweise an, der Text basiere auf einer realen Erfahrung. So kommen wir zu folgendem "Plot": Trakl war in Kneipen unterwegs, hat viel Wein getrunken und stolpert nun in einer schneereichen und frostklirrenden Winternacht an einem Bahndamm entlang. Er ist aufgewühlt und hat intensive Erfahrungen mit halluzinatorischen Zügen. Von den Häusern steigt Heizungsrauch aus den Kaminen, die Nacht ist sternenklar. Trakl legt sich an einem "steinernen Hügel" nieder - ein Friedhof? Eine Burg? Neu aufgeschütteter Bahndamm? - und schläft ein. Er wacht auf beim Läuten einer dörflichen Kirchenglocke - etwa der von Hötting (damals ein Dorf bei Innsbruck, heute Stadtteil), das auch Bahnhof und Burg hat, oder von Mühlau, wo Trakls Freund und Förderer Ludwig von Ficker lebte.

Der Text ist vermutlich im Dezember 1913 entstanden, in Innsbruck, das Anfang des 20. Jahrhunderts stark durch die Bahn geprägt war - so wurde 1907 bis 1912 die Bahnstrecke Innsbruck-Garmisch über Hötting ausgebaut. Was den sonstigen Erfahrungshintergrund betrifft, lässt sich etwa aus den Brief Trakls an Erhard Buschbeck aus Innsbruck vom Ende Oktober/Anfang November 1912 erschließen: "Vorgestern habe ich 10 (sage! Zehn) Viertel Roten getrunken. Um vier Uhr morgens habe ich auf meinem Balkon ein Mond und Frostbad genommen und am Morgen endlich ein herrliches Gedicht geschrieben, das vor Kälte schebbert." In einem Brief aus Innsbruck vom 13. Dezember 1913 schreibt Trakl an Karl Kraus von "diesen Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie".

Erwin Mahrholdt berichtet in "Der Mensch und Dichter Georg Trakl", die Schilderungen in "Winternacht" gingen zurück auf ein Erlebnis Trakls nach einer Trinkerei mit dem Bildhauer Othmar Zeiller in einem Haller Wirtshaus ("Erinnerung an Georg Trakl", 1966, S. 33). Am Morgen sei Trakl im Schnee vor seiner Wohnung in Mühlau liegend gefunden worden. Die eigentümliche Beziehung Trakls zu Schnee und Frost, seine Kraft, damit umzugehen, wird deutlich in der Schilderung einer Schlittenfahrt mit Trakl, die Joseph Georg Oberkofler erlebt hat ("Erinnerung an Georg Trakl", 1966, S. 130ff).

Die Innenwelt, die in diesem Text zweifellos auch Gestaltung findet, dürfte dem Umkreis der Blutschuld-Thematik angehören, mit dem heftigen Bild "Ein roter Wolf, den ein Engel würgt". Innerliterarisch verweist "Winternacht" insbesondere auf die Texte Rimbauds.





WUNDERLICHER FRÜHLING

Wohl um die tiefe Mittagszeit,
Lag ich auf einem alten Stein,
Vor mir in wunderlichem Kleid
Standen drei Engel im Sonnenschein.

O ahnungsvolles Frühlingsjahr!
Im Acker schmolz der letzte Schnee,
Und zitternd hing der Birke Haar
In den kalten, klaren See.

Vom Himmel wehte ein blaues Band,
Und schön floß eine Wolke herein,
Der lag ich träumend zugewandt -
Die Engel knieten im Sonnenschein.

Laut sang ein Vogel Wundermär,
Und konnt mit einmal ihn verstehn:
Eh’ noch gestillt dein erst’ Begehr,
Mußt sterben gehn, mußt sterben gehn!






"Wunderlich" ist an diesem Gedicht nicht nur der Frühling, sondern auch der volksliedhafte Ton. Es handelt sich um ein frühes Gedicht Trakls aus dem Nachlass, entstanden 1909 oder Anfang 1910. Auf den ersten Blick erscheint es als bloße Fingerübung, reimende Spielerei. Doch der genauere Blick zeigt auch hier das außergewöhnliche Sprachvermögen Trakls - und auf der inhaltlichen Ebene wesentliche Elemente dessen, was das reife Werk Trakls ausmacht.

Der "Frühling" beginnt mit "tiefer Mittagszeit" und "Sonnenschein" - und damit eher charakterisiert durch Bilder, die den Sommer evozieren. Das Subjekt des Gedichtes lag "auf einem alten Stein", ein erstaunliches Bild, das zunächst an Wolfram von Eschenbach denken lässt und sein "Ich saz ûf eime steine". Doch warum schreibt Trakl "lag"? Eine Antwort könnte der Verweis auf die Geschichte von Abraham und Isaak bringen. Als Abraham Isaak opfern möchte ("Lag ich auf einem alten Steine") erscheint ihm ein Engel, der dies verhindert. Die Geburt Isaaks war Abraham von drei Engeln verkündet worden. In der ersten Strophe dieses Gedichtes scheinen diese beiden Ereignisse ineins zu fließen. Eine Bekräftigung dieser Deutung ergibt sich einmal daraus, dass Abraham laut Bibel den Besuch der drei Engel "zur Zeit der Mittagshitze" bekommt. Weiters ist darauf hinzuweisen,  dass im unmittelbaren Umfeld Trakls Abbildungen dieses Besuches gebräuchlich waren. So gibt es im Abteisaal der Benediktinerabtei Michaelbeuern, 30 Kilometer nördlich von Salzburg, ein Deckengemälde, das Abraham mit den drei Engeln darstellt.

Doch in der zweiten und dritten Strophe sind wir eher bei Mörike und seinem "Frühling" mit dem "blauen Band". Auch wenn Schnee, das Zittern einer Birke und ein kalter See uns den Winter gegenwärtig halten, von dem das Gedicht sich "träumend" abwendet. Damit wird deutlich gemacht, dass der Frühling eine Täuschung, eine Chimäre sein könnte, dass wir Mörikes "blauem Band" nicht blank vertrauen sollten. Diese Zweifel schürt auch die vierte Strophe nachdrücklich, in der eines "Vogels Wundermär" verkündet: "Mußt sterben gehn, mußt sterben gehn!"

Trakl greift mit diesem Text eine Volksliedtradition auf, die in manchen heute misstrauisch beäugten Märchen ein Analogon hat, die Tradition des Schocks, drastischer Wendungen, unverhüllter Todesthematik. Und er kontrastiert diese mit romantisch-biedermeierlicher Frühlingserwartung, was wir durchaus auch in der Volkskultur finden, jedoch selten so hart geführt wie bei Trakl. Lohnend ist auch ein Vergleich mit dem ähnlich aufgebauten späten Gedicht Trakls "In den Nachmittag geflüstert". Die beiden Texte stehen in einem eigentümlichen Spannungs- und Entsprechungsverhältnis, das wir plakativ unter den Titel "Frühling-Herbst" stellen könnten.

 




ZEITALTER

Ein Tiergesicht im braunen Grün
Glüht scheu mich an, die Büsche glimmen.
Sehr ferne singt mit Kinderstimmen
Ein alter Brunnen. Ich lausche hin.

Die wilden Dohlen spotten mein
Und rings die Birken sich verschleiern.
Ich stehe still vor Unkrautfeuern
Und leise malen sich Bilder darein,

Auf Goldgrund uralte Liebesmär.
Ihr Schweigen breiten die Wolken am Hügel.
Aus geisterhaftem Weiherspiegel
Winken Früchte, leuchtend und schwer.




Die Antike kannte den Mythos der Zeitalter, wonach die Menschheit zunächst in einem "goldenen" Zeitalter im Einklang mit der Natur und den Göttern lebte, was in etwa der Paradiesesvorstellung der Bibel entspricht. Auf dieses Zeitalter folgte in einer Verfallsgeschichte das "silberne", das "bronzene" und schließlich als historische Gegenwart das "eiserne" Zeitalter - so ist es in den "Metamorphosen" Ovids zu lesen.

Da Trakl in der dritten Strophe von "Goldgrund" spricht, dürfen wir hier eine Andeutung dieses Mythos vermuten. Dazu fügt sich der allgemein versöhnliche Ton dieses Gedichtes, das eine naturhaft glückliche Stimmung evoziert. Schon das einleitende "Ein Tiergesicht im braunen Grün/ Glüht scheu mich an" deutet darauf hin, dass wir uns in einer Welt befinden, in der das Subjekt nur Besucher, nur Zuschauer ist, zurückblickend auf eine Welt von Harmonie und Zufriedenheit.

In dieser Welt herrscht ein eigenes Licht, nicht Vernunft oder Elektrizität schaffen Erhellung. Vielmehr "glüht" das Tiergesicht aus sich selbst, auch die Büsche "glimmen". In "Unkrautfeuern" zeigen sich stille Bilder, Früchte "leuchten". Das Ganze scheint, wie oft bei Trakl, auf "Goldgrund" zu ruhen. Dem sanften Licht korrespondiert auf der Lautebene gedämpfte Stille. Nur "sehr ferne" erklingt ein alter Brunnen, "mit Kinderstimmen".

Der Mensch ist hier nicht wirklich zugehörig. Die "Kinderstimmen" stammen vom Plätschern eines Brunnens, das Ich "lauscht" nur, wird scheu angeschaut und von Dohlen verspottet. Die Birken "verschleiern" sich gar, die Wolken breiten ihr "Schweigen" aus. Doch ganz fremd ist er hier zugleich nicht, die Früchte "winken", in vertrauten "Unkrautfeuern" zeigen sich ihm Bilder einer "uralten Liebesmär". Wie ein Zaungast am Paradiesesgarten, der hier einmal leben durfte, nun aber nur sich erinnern darf, erscheint das Ich.

Aus dem "Weiherspiegel" winken die Früchte, vor dem Hintergrund des Paradiesgarten-Bildes wird dieses Winken lesbar als Verführung zum Sündenfall. Darauf deutet auch die Charakterisierung "geisterhaft" für die reflektierende Wasseroberfläche hin. Damit hätte auch dieser so versöhnlich klingende Text seinen Riß, sein bei Trakl allenthalben erscheinendes "Aber". Die Erinnerung daran, dass wir uns im "eisernen" Zeitalter befinden.

 




ZU ABEND MEIN HERZ


Am Abend hört man den Schrei der Fledermäuse.
Zwei Rappen springen auf der Wiese.
Der rote Ahorn rauscht.
Dem Wanderer erscheint die kleine Schenke am Weg.
Herrlich schmecken junger Wein und Nüsse.
Herrlich: betrunken zu taumeln in dämmernden Wald.
Durch schwarzes Geäst tönen schmerzliche Glocken.
Auf das Gesicht tropft Tau.




Der Titel lässt an religiöses Liedgut oder ein Gebet denken, etwa an das einführende Gebet in den "Confessiones" des Augustus mit dem Satz "et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te". Doch dieser fromme Anklang wird sofort durchbrochen vom ersten Vers, der "den Schrei der Fledermäuse" nennt, dem in der nächsten Zeile "zwei Rappen" antworten, schwarze Pferde. Beides Bilder, die, nimmt man sie mythologisch-religiös, eher dem Bereich der Verführung und seelischer Not zugeordnet sind. So sitzt der dritte apokalyptische Reiter in der Offenbarung des Johannes, der die Waage der Entwertung trägt, auf einem Rappen. Dem korrespondiert in der dritten Zeile der "rote Ahorn", den wir zwar schlicht als Herbstbild lesen könnten, der aber hier in einer äußerst verknappten Sentenz eher bedrohlich erscheint.

Diese Deutung wird gestützt dadurch, dass "der Wanderer" im nächsten Vers Zuflucht findet in einer "kleinen Schenke" - und dort bei jungem Wein und Nüssen. Die Jahreszeit ist also in der Tat, wie so oft bei Trakl, der Herbst. Doch ein irritierender Herbst, der gepriesen wird in seiner Macht, betrunken zu machen. "Herrlich" sei dies, und wir müssen das zweifach genannte Adjektiv wohl wörtlich nehmen, beziehen auf "Herr". Im Kontext eines Gedichtes, das im Titel gebetshaft anklingt, wird die Botschaft zweideutig. Der "Herr" hier dürfte eher Dionysos sein, nicht der Herr des Augustinus.

Doch dieser zwiespältige Eindruck wird sofort zurückgenommen. Es tönen "schmerzliche Glocken", die eigene religiöse Tradition meldet sich mit ihren Ansprüchen, vielleicht aber auch Verheißungen. Der Betrunkene scheint, übertragen wir das Bild in Konkretheit, unter Bäumen im Wald zu liegen, Tau tropft ihm auf das Gesicht. Morgentau? Dann wären die Glocken dem Morgengeläute zuzuordnen. Doch auch als Abendläuten gelesen bleibt die grundlegende Spannung des Gedichtes zwischen christlicher Botschaft, Vitalität und Rausch. "Das trunkne Lied" aus Nietzsches Zarathustra klingt an, den Trakl gut kannte. Doch die wörtlichen Anklänge sind dürftig, "Herz", "Wein", "Glocken", "Tau" - sonst will nicht viel zusammenpassen.

Geschrieben wurde der Text September/Oktober 1912, vermutlich in Innsbruck. Trakl nahm ihn auf in seine Sammlung "Gedichte". Er war ihm wichtig, auch wenn es uns schwerfällt, die Bedeutung nachzuvollziehen. In einem Brief an Erhard Buschbeck von Mitte Oktober 1912 aus Innsbruck schreibt Trakl: "Der Wein war herrlich, die Zigaretten vorzüglich, die Laune dionysisch, und die Fahrt ganz und gar beschissen; der Morgen schamlos, entfiebert, der Kopf voll Schmerzen, Verfluchung und gramvoller Gaukelei!" Das mag genügen.